Dezember 31st, 2024

Titus Andronicus (#219, 2023)

Posted in interview by Jan

Patrick Stickles Wille zu Leben

Titus Andronicus wurden im Jahr 2005 in New Jersey als Gruppe gegründet und gehören ganz sicher mit zu meinen Lieblingsbands. Selbst wenn ich die Alben nur phasenweise höre, dann aber äußerst exzessiv. Selten kommt in dieser Zeit eine andere Band dazwischen, bis ich mich wieder ein Stückweit in die Texte eingearbeitet, mehr verstanden und weitere Verbindungen zwischen den Songs aufgearbeitet habe. Danach brauche ich meistens eine Pause, ehe es wieder von vorne los-, bzw. weitergeht.
Allerdings kann Titus Andronicus durchaus als alleiniges Projekt von Sänger, Gitarrist und Songschreiber Patrick Stickles angesehen werden, der alle Fäden der Bandgeschicke fest in den Händen hält. Im Laufe der Zeit durchliefen nicht weniger als 30 (feste) Musiker die Band, auch bestand die Bandzusammenstellung aus unterschiedlich vielen Musikern und Instrumentierungen. In den letzten Jahren verfestigte sich allerdings der Kern aus Bass, Schlagzeug und Gitarre plus Patrick Stickles, die auf dem aktuellen Album The Will To Live beinahe ausschließlich zu hören sind.

Drei Jahre nach Gründung erschien das Debütalbum mit dem Titel The Airing of Grievances, obwohl der Erfolg zumindest in den USA durchaus akzeptabel war, erhielt es vielleicht nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient gehabt hätte. Zur gleichen Zeit schickte sich nämlich eine weitere Band aus New Jersey an Bruce Springsteens Nachfolger als Sprachrohr des Garden States zu werden. Es ist eventuell zu viel gesagt, dass The Gaslight Anthem den Erfolg von Titus Andronicus untergraben haben, allerdings glaube ich durchaus, ohne die Band um Brian Fallon wäre Patrick Stickles wohl mehr Aufmerksamkeit zu Teil geworden.

Bereits auf dem nächsten Album begann Patrick Stickles zum ersten Mal größere Geschichten zu schreiben, statt sich mit normalen Songs, die meistens eine abgeschlossene Erzählung sind, aufzuhalten. Ein Konzept, welches er bis zum heutigen Tage verfolgt und immer weiter ausgebaut hat. Auf The Monitor erzählt Stickles eine Geschichte über die Gewalt des amerikanischen Bürgerkriegs als Metapher fürs Erwachsenwerden und der damit einhergehenden Einsamkeit. Auf dem vierten Album wird diese Erzählform gesteigert.

A Most Lamentable Tradegy ist ein Konzeptalbum im Stile von The Who’s Quadrophenia, mit insgesamt 93 Minuten Spielzeit, 29 Songs in 5 Akte, über einen manischen depressiven Mann und seinem Doppelgänger. Aufgeteilt wurde die Musik auf (langweilige) zwei CDs oder (aufregende) drei LPs, die nicht Platte für Platte hintereinander aufgelegt werden können, sondern müssen die sechs Seiten in die richtige Reihenfolge gebracht werden und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten abgespielt werden.
Nach diesem Mamutalbum wendet Stickles sich dem nächsten Riesenprojekt zu, zumindest für eine Band dieser Größenordnung.

War der Vorgänger von einem Größenwahn (im positiven Sinne) hinsichtlich Anzahl der Songs, der zusammenhängend erzählten Geschichte und der musikalischen Bandbreite von klassischen Springsteen-Momenten über schnellen Punkrock, langen Instrumentalpassagen und einem The Pogues Cover, getragen, so ist das nächste Album A Productive Cough nicht minder ambitioniert.

Zwar befinden sich lediglich sechs Songs auf dieser Platte, die allerdings mit insgesamt 24 Musiker:innen eingespielt wurden. A Productive Cough ist tief im (bereits elektrifizierten) 60’s Folk verwurzelt, manifestiert durch eine Bonus 7“ mit dem Bob Dylan Cover Like a Rolling Stone – wie im Original über zwei Singleseiten gespielt, die der Erstpressung bei lag. Musikalisch ist das Album eine komplette Abkehr vom jahrelang gespielten rotzigen Indie-Punk und Heartland-Sound, hin zu den Ursprüngen amerikanischen Rock’n’Roll – elektrifizierter Folk, Soul, Gospel und Blues.

Das darauffolgende Werk An Obelisk ist ein schlichtes Punkrockalbum geworden. Nun ja, so schlicht ist es auch wieder nicht, erzählt es doch womöglich eine Geschichte weiter, die an früherer Stelle bereits begonnen wurde. Sehr wohl ist das Album aber musikalisch eine erneute Abkehr von zuvor eingeschlagenen Wegen, wurde es (bis auf einem Gastsänger im Hintergrund) von dem Vier-Mann Kern eingespielt, der seit fünf Jahren konstant dabei ist und von niemanden geringeren als Bob Mould produziert. Und dann warf Corona die Band wie auch den Autor dieser Zeilen um mindestens zwei Jahre zurück. An manchen Tagen fühlt es sich sogar wie zwanzig Jahre an. Damit wären wir mehr oder wenig in der Gegenwart angekommen. Dem Willen zu leben, so heißt das neue Album von Patrick und Titus Andronicus.

Zum Einstieg eine einfache Frage: Wie geht es dir?
Mir geht es richtig gut. Weißt du, das ist ein tolles Jahr für mich und ich hatte eine Menge zu tun. Erst das Album, dann eine lange Tour, wir drehten eine Menge Videos. Das alles zusammengenommen war eine Menge Arbeit. Außerdem habe ich dieses Jahr geheiratet. Es war also richtig viel los, so viel wie seit Jahren nicht mehr. Auf dieses Jahr kann ich mit einer tiefen Zufriedenheit zurückblicken. Trotzdem habe ich noch viele Pläne. Noch ist mein Pulver nicht verschossen. Es geht immer weiter, schätze ich.

Lass mich zuerst zur Hochzeit gratulieren. Der Grund, warum ich danach frage, wie es dir geht, ist, ich wollte vor zwei Jahren ein Interview machen, während der ersten Coronawelle, da sagte deine Plattenfirma, du seist nicht in der Stimmung. Umso schöner, dass es dir jetzt scheinbar besser geht.
Nun ja, das war nicht gerade die beste Zeit für jede:n von uns. Mein Vater infizierte sich während der ersten Welle mit Corona und lag 30 Tage im Koma. Wenn du das Interview zu dieser Zeit machen wolltest, war ich wirklich nicht in der Lage, über Musik zu reden. Außerdem gab es in der Zeit eh nicht viel zu besprechen, es fanden keine Konzerte oder irgendeine Form von Entertainment statt und gerade für mich sind Konzerte elementar wichtig. In diesem Jahr wollten wir im Herbst eine lange Tour zum zehnjährigen Jubiläum von unserem zweiten Album The Monitor spielen.

Die wurde um ein Jahr verschoben. Ich war mir zu diesem Zeitpunkt nicht sicher, wie es mit dem Musikmachen weitergehen würde. Ohne jetzt zu wissen, was genau du fragen wolltest, ich hätte wohl nichts Vernünftiges antworten können. Es gab damals schon genügend Interviews mit Musiker:innen, die sich darüber ausließen, dass sie nicht wüssten, wie es weitergeht. Wollte das irgendjemand von mir auch noch hören? Aber jetzt bin ich mit einem neuen Album zurück und noch mehr Konzerten, von denen ich hoffe, dass sie nicht abgesagt werden. Aber vielen dank, dass du am Ball geblieben bist. Ich denke, jetzt haben wir bessere Themen, über die wir reden können.

Um genau zu sein, wollte ich damals mit dir über dein Album An Obelisk sprechen, aber ja, nun hast du ein neues Album mit dem Titel The Will To Live. Spiegelt der Titel die letzten zwei Jahre wider?
In vielerlei Hinsicht ja. Es sind viele Menschen gestorben. Und ich spüre bei vielen Menschen eine immer größer werdende Hoffnungslosigkeit. Sie haben berechtigterweise Angst vor der Zukunft und sie fühlen sich durch äußerliche Einflüsse, die unser Schicksal mitgestalten und die sich nicht kontrollieren lassen, hilflos. Diese Menschen mögen es jeden Tag als ein bisschen härter empfinden, einen Willen fürs Leben aufzubringen. Aber der Wille zu Leben ist es, was alle lebendigen Wesen verbindet. Deswegen existiert überhaupt Leben. Das gilt für mich auch. Es gilt sogar für das Virus. Nicht das ich ein Fan von Covid 19 bin, aber es ist ein lebender Organismus mit einem Überlebenswillen. Es vermehrt sich, um sich auf der Erde auszubreiten und festzusetzen. Unter diesem Gesichtspunkt hat das Virus seine Aufgabe wirklich gut erfüllt. Ich finde das natürlich nicht toll und es wäre cooler, wenn es nicht existieren würde, aber das tut es nun mal. Es ist etwas Lebendiges. Was sagst du dazu?

Ich finde das ziemlich logisch, habe aber so darüber noch nie nachgedacht. Deswegen lass uns doch bei dem neuen Album bleiben. The Monitor und The Most Lamentable Tragedy können als Konzeptalben angesehen werden. Wie sieht es mit The Will To Live aus?
Das ist im weitesten Sinne auch eins. Wenn es auch keine Rock-Oper wie Lamentable Tragedy ist. Es gibt eine Geschichte, die entlang den Erlebnissen einer Person erfolgt. Das Album berichtet von einer emotionalen Reise des Erzählers, die an einem Ort voller Angst und Frustration beginnt und in eine Hoffnungslosigkeit und Konfrontation mit dem Tod führt und schließlich in Dankbarkeit endet. In einer Akzeptanz, die seinen Glauben und seinen Willen zu Leben wieder bestärkt. Aber du könntest daraus jetzt keinen Film oder so was machen, wie es bei einer Rock-Oper möglich wäre. Wenn ich ein Album plane, dann versuche ich schon bestimmte Themen und Geschichten zusammenzubringen. Ich kann einfach nicht zehn oder zwölf Songs über unterschiedliche Themen schreiben, die nichts miteinander zu tun haben. Ein Überthema zu haben leitet mich durch den Songwritingprozess. Was will ich entdecken und wirklich aussagen? So ist es für mich einfacher, statt einen Song über ein Thema zu schreiben, zu dem es womöglich noch verschiedene Ansichten gibt.

Hast du jemals überlegt einen Roman zu schreiben?
Oh ja! Es würde aber zu viel Zeit in Anspruch nehmen und eine sehr einsame Erfahrung sein. Aber ich denke, wenn ich älter bin, ist es etwas, was ich wirklich gerne in die Tat umsetzen würde. Ich habe bereits Essays über Musikthemen geschrieben, aber im Moment geht es mir noch zu viel um die Musik. Das ist es, was mir Spaß macht. Auftreten, live spielen, Feedback vom Publikum erhalten. Wenn das irgendwann mal vorbei sein sollte, klar warum nicht, hoffe ich zumindest.

Schreibst du ständig? Oder führst du gar ein Tagebuch?
Nein, so was mache ich nicht. Ich schreibe auch keine Prosa oder so. Hin und wieder notiere ich ein Gedicht oder kleine Reime und kurze Phrasen aber nicht mehr. Wenn ich dann ein Thema habe, über das ich Songs schreiben will, finde ich schon die richtigen Wörter. Ich muss an den Texten nicht mehr so viel arbeiten wie früher, als ich jünger war.

Du sagtest eben, du schreibst lieber eine Story als einzelne Songs und das es dir leichter fällt, dabei klingt das für mich eigentlich viel komplizierter, als ein Lied zu schreiben, das für sich steht. Du musst ja schließlich alle Storylines, die du öffnest, am Ende wieder schließen.
Ja, aber das passiert einfach, nachdem ich die Entscheidung getroffen habe, über welches Thema ich singen will, welchem Erzähler ich in den Songs folgen will. Für manche Hörer:innen ist das vielleicht schwieriger, vor allem, wenn es ins Verrückte oder Fantastische abdriftet. Aber im Grunde schreibe ich immer über mein Leben. Und so kann ich immer mit einer Zusammenfassung des Ganzen enden, die ich mit dem Publikum teilen möchte. Was aber viel, viel schwieriger als die Texte sind, ist die Musik. Ich schreibe vielleicht fünf Mal so viele Texte, als ich sie brauche.

Was immer noch für ein Buch sprechen würde.
Stimmt.

Das Album ist in drei Teile gegliedert, auf drei Vinylseiten, was ich sonst gar nicht mag, auf The Will To Live aber total Sinn ergibt.
Weißt du, wer gerade noch ein Album auf drei Seiten rausgebracht hat? Neil Young! Er hat mich kopiert, drei Seiten und ein Etching auf der vierten Seite.

Genau, das Etching ist normalerweise auf der vierten Seite. Aber sag doch bitte einmal, wofür stehen die drei Seiten?
Es gibt drei Stufen auf der Reise des Erzählers zur finalen Erkenntnis. Am Anfang ist er sehr ängstlich. Dann spürt er eine Hoffnungslosigkeit in sich und zum Schluss stellt er fest, dass die Dinge, vor die er sich die ganze Zeit gefürchtet hat, eigentlich etwas Gutes und Natürliches haben und alles einen Willen zu Leben besitzt. Selbst Hässliches und Brutales hat einen natürlichen Ursprung und kommt in der Natur vor. Diese Erkenntnis ist mir gekommen. Die schönen und hässlichen Dinge stehen in einer Beziehung zueinander. Es sind zwei Seiten derselben Medaille.

Und was hat das mit dem Albumcover zu tun?
Du kannst es zweimal aufklappen, was wieder die drei Seiten oder die drei Teile der Geschichte symbolisiert. Es sollte an den Garten der Lüste von Hieronymus Bosch, das auch aus drei Teilen besteht, erinnern. Was soll ich sagen? Three is the magic number!

Es ist kein Bandname oder Albumtitel genannt.
Das stimmt. Nur auf dem Sticker.

Auf der Folie, die geöffnet werden muss, um an den Inhalt zu kommen.
Es ist mein Wunsch, dass Menschen stundenlang auf das Cover starren und immer wieder etwas Neues entdecken. Es ist so viel darin versteckt. Selbst ich finde immer noch Details, die mir vorher entgingen. Wer sich wirklich damit beschäftigt, interessiert sich nicht für einen Bandnamen. Darum geht es nicht.

Worum geht es dann?
Das Cover symbolisiert eine Natur, die nicht nur schön, sondern auch sehr gewalttätig sein kann. Auf der linken Seite des Bildes siehst du einen Löwen, der einen Gnu oder Bison frisst. Und gegenüber auf der rechten Seite ist alles schön. Da sind eine Katze und ein Büffel und alles ist in Sonnenschein getränkt. Es geht darum, die ganze Bandbreite zu zeigen. Es gibt Gewalt und Harmonie und beides ist notwendig, um einen Ausgleich zu schaffen. Selbst wenn wir manche Dinge lieber mögen, als andere.

Und es ist für Vinyl gemacht und nicht für eine CD oder gar Streaming.
Wobei ich gestern die CD bekommen habe, obwohl die Tour schon zu Ende ist. Da hatten wir gar keine mit, aber die meisten Leute kaufen eh das Vinyl. Auf der CD sieht das Bild aber auch toll aus und entfaltet seine Wirkung. Aber es stimmt schon auf Vinyl ist das natürlich noch mal was anderes.

Wie wichtig sind dir Vinyls, Radio oder anders gefragt, Rock’n’Roll Geschichte?
Ich besitze einen Haufen Vinyls, höre sie aber nicht unbedingt jeden Tag. Also, wenn wir mit dem Interview durch sind, werde ich ganz sicher nicht sofort eine Platte auflegen. Aber ich mag das. Wenn ich in einer Bar bin und einen Song höre, der mir gefällt, gibt mir das ein gutes Gefühl. Letztens lief in einer Kneipe ein Song von den Hooters und ich bin voll ausgeflippt. Ich mag solche Momente. Immerhin bin ich Musiker, wäre schlimm, wenn es nicht so wäre. Aber schon davor war ich Fan von dieser Kunstform. Das bekomme ich auch nicht mehr raus oder lässt sich ersetzen, zum Beispiel durch Literatur, wie wir es vorhin besprochen haben. Ein Song ist einfach etwas ganz Besonderes. Also, um deine Frage zu beantworten: Ja, ich stehe auf Musik. Du hast mich erwischt.

Ha! Aber sag mal, würdest du Titus Andronicus als Punkband bezeichnen?
Das kommt drauf an, wie du das definierst. Geht es um die Ideologie oder meinst du einen bestimmten Musikstil wie die Ramones oder Sex Pistols geklungen haben. Über die Jahre gesehen, würde ich sagen, Titus Andronicus hat sich eher zu einer normalen Rockband entwickelt. Das neue Album klingt jedenfalls nicht nach den Sex Pistols.

Punk hat sich verändert.
So, und dann kommen wir zu einem Punkt, an dem Musiker:innen plötzlich machen konnten, was ihnen gefällt. Ein bestimmter Kleidungs- und Musikstil kam dann erst später auf. Und Lederjacken und Sicherheitsnadeln, nicht, dass irgendwas davon falsch wäre, aber es war die Message von Punk, die mich ermutigt hat, eine Band zu gründen, und ich begriff nur meine eigene innere Autorität konnte mich stoppen. Das gilt für das, was ich sagen will und die Musik, die ich spielen will. Ich kann einen neuen Song so spielen, wie ich es für richtig halte. Und dabei muss ich nicht unbedingt wie die Sex Pistols klingen, obwohl das eine gute Band war. Aber ich muss nicht so klingen. Ich muss nicht diese Aggressivität aufbringen. Wir können so klingen, wie wir wollen. Unter diesem Gesichtspunkt sind wir eine Punkband. Aber dennoch finde ich, jedes unserer Alben klingt etwas weniger nach Punk. Außer das Album von 2019.

An Obelisk, welches von Bob Mould produziert wurde.
Yeah. Er ist mit Hüsker Dü ein Leuchtturm in der Geschichte des amerikanischen Punkrocks. Er war sehr inspirierend für viele Musiker:innen. Hüsker Dü waren in der Lage die Grenzen von Punk etwas auszudehnen. Und mit seinen Solosachen und Sugar ging er so gar noch einen Schritt weiter. Das ist ein perfektes Beispiel, worüber wir gerade geredet haben. Ich lese sein Buch gerade zum sechsten Mal oder so. Er ist ein großes Vorbild für einen Typen wie mich, wenn es darum geht sein DIY-Ding durchzuziehen. Er war immer sein eigener Boss und das gehört für mich auch zum Punkrock dazu und ich versuche ihm in dieser Sache so gut es geht nachzueifern.

Genau auf diesen Punkt wollte ich eigentlich hinaus, dass Punkrock mehr ist als Musik, die so klingt wie die Sex Pistols.
Das ist jedenfalls ein ganz wichtiger Punkt. Wir haben zum Beispiel keinen Manager. Wir haben jemanden beim Label Merge Records und einen Typen, der uns beim Buchen von Shows behilflich ist. Sonst mache ich alles alleine. Leute wie Bob Mould sind inspirierend. Abgesehen davon ist es sinnvoll, zu versuchen das Geld zusammenzuhalten und es nicht an einen Manager zu verschwenden, der im Zweifel eh nur Mails weiterleitet.

Das stimmt wohl. Lass uns bitte auf das Album zurückkommen. Ist The Will To Live der perfekte Mix der letzten drei Alben?
Ich weiß nicht, ob es ein perfekter Mix ist, aber die Alben gehören schon irgendwie zusammen. Für mich ist es eine Trilogie, bestehend aus A Productive Cought und An Obelisk. Alle Alben sind mit derselben Band entstanden. Das ist eine andere Band, als die die A Most Lamentable Tragedy aufgenommen hat. Aber das neue Album fühlt sich wirklich wie eine Zusammenfassung an. Wir sind allesamt bessere Musiker in der Zeit geworden und kennen uns mit Aufnahmetechnik nun besser aus.

Ich höre auch so einen 80’s Sound heraus oder bilde ich mir das ein?
Yeah. Das ist es, was mich in letzter Zeit interessiert hat. Ich habe häufig Hysteria von Def Leppard gehört. Nicht das Titus Andronicus nun großartig nach Def Leppard klingen, aber der Ansatz der Band, so eine Art ultimativen Rock zu spielen, so nenne ich es jedenfalls, faszinierte mich eine Weile. Alles ist ein bisschen zu viel, die fettesten Arrangements und Sounds. Solche Sachen haben mich angesprochen, als ich mich gefragt habe, wie würde es klingen, wenn Titus Andronicus so etwas versuchen würden. Wir haben versucht, unsere Version davon zu machen.

Es gibt keinen Titelsong auf dem Album, aber die Zeile The Will To Live kommt auf dem letzten Stück 69 Stones vor, welches ein Outtake aus der Zeit von A Productive Cought ist, richtig?
Stimmt. Ich nenne solche Lieder Überbleibsel, weil sie einfach nicht auf eins der vorherigen Alben passten, und wenn wir etwas Neues planen, gehe ich durch die alten Aufnahmen und schaue, welche Songs würden thematisch zu den neu geschriebenen Songs passen. Bridge & Tunnel ist auch so ein Stück. Manchmal ist es aber auch umgekehrt, da suche ich in alten Songs nach einem gemeinsamen Kern und fange an, zu diesem Thema weitere Lieder zu schreiben. In diesem Fall ging es in beiden Stücken im weitesten Sinne um die Natur und darüber wollte ich eh schreiben. Außerdem ist es, glaube ich, eine nette Sache für Komplettisten:innen, die bereits eine Live- oder Demoversion kennen und nun die Studioversion hören können. Radiohead machen so was auch öfters. Ich hoffe, jemand freut sich ein wenig darüber.

Und dann gibt es mit An Anomaly so was wie den Mittelpunkt des Albums, mit der Zeile: God made the boodies – das ist klar. Und the devil made our brains. Aber gibt es nicht so was, wie einen freien Willen?
Das ist es, was ich vorhin schon meinte. Die Welt ist ein gewalttätiger Ort. Auf dem Cover sehen wir einen Löwen, der ein Gnu frisst. Das ist nichts Böses, was es zu verurteilen gilt, es ist schlichtweg natürlich. Der Löwe tut es nicht, weil er bösartig ist, er folgt bloß seinen Instinkt, um zu überleben. Es ist in seiner DNA. Und so sind alle Lebewesen. Auch die Menschen. Das war zumindest früher noch so. Heute müssen Menschen nicht mehr töten, um zu überleben. Obwohl das natürlich viele Menschen noch immer tun. Dieser Instinkt ist also scheinbar immer noch in uns, aber in einer modernen Zivilisation brauchen wir das nicht mehr. Trotzdem folgen Menschen diesen Urinstinkt.

Es gibt ganz unterschiedliche Gewalt. In Amerika haben wir große Probleme mit Waffen und Amokläufen. Ich würde sagen, einer der Gründe dafür basiert noch immer auf einen gewissen Überlebensinstinkt, wie es bei Tieren der Fall ist und dieser Überlebensinstinkt führt zu Gewalttätigkeiten. Aber wenn Menschen andere Menschen töten, dann ist das heimtückisch, und wenn dann noch Technologien wie Atombomben hinzukommen, dann ist das kein natürlicher Prozess mehr. Das ist böse und arglistig und ich wünschte, die Menschen würden damit aufhören, denn es ist nicht mehr nötig. Im Gegenteil, es ist zum Schaden der Menschheit. Das ist das Teuflische an der Sache.

Ich denke, das ist eine gute Erklärung. Dann gibt es noch eine Coverversion von Cock Sparrers – We Are Coming Back auf dem Album.
Der Wille zu Leben verbindet uns alle und ich würde sagen, das Leben auf der Erde besteht aus einem einzigartigen kontinuierlichen Organismus, von dem wir alle ein Teil sind. Wir, unsere Körper, sind bloß Zellen. Und dieser größere Organismus erfährt eine vollständige Zellregeneration. Dazu gehören sowohl du als auch ich. Alles, was mal lebte, ist also nicht unbedingt tot, sondern einfach nur nicht mehr da, denn der Organismus hat uns aufgenommen.

Nun also zum Coming Back Song im Kontext zum Album. Für mich bedeutet es, solange du nicht wirklich verschwunden bist, sondern von diesem Organismus aufgenommen wurdest, ist ein Teil von dir immer noch da. You‘ll never walk alone. Du bist ein kleiner Teil in Form einer Zelle von einem größeren Organismus. Du bist nicht mal zwingenderweise ein Individuum. Das ist der Versuch, mit diesem Album und eigentlich mit all meiner Musik zu sagen, du bist nicht alleine. Ich versuche, die Einsamen und Entfremdeten zu erreichen und hoffe ihnen sagen zu können, dass sie nicht alleine auf dieser Welt sind, selbst wenn sie sich so fühlen. Das ist eins meiner Ziele.

Und warum kannst du nicht zufrieden sein? Oder ist es nur ein Songtitel? (I Can’t Be Satisfied)
Im Zusammenhang mit dem Album bedeutet es, Unzufriedenheit hängt mit dem Gefühl zusammen, nicht genug von dem zu haben, was du zum Überleben brauchst. Zufriedenheit gehört zu diesem Leben dazu, aber die Selbstgefälligkeit ist nie weit und damit kannst du wiederum nur schlecht überleben. Das sind ebenfalls natürliche Instinkte, die in unserer modernen Gesellschaft vielleicht verzerrt werden, weil ich nicht mehr rausgehen und nach Essen suchen oder jagen muss. Aber ich habe diese Unzufriedenheit und diese Sehnsucht danach Größeres zu erreichen in mir. In meinem Fall ist es die Musik. Und dann ist das natürlich noch ein kleiner Wink zu den Stones I can get no satisfaction und den Replacements mit Unsatisfied, meinen zwei Lieblingsbands.

Vielen Dank, an dieser Stelle hören wir mal auf, obwohl das Gespräch noch kurz weiterging und mögliche Tourpläne in Deutschland besprochen wurden, aber Patrick meinte, bisher würde es sich schlichtweg nicht finanzieren lassen, außerhalb von Großbritannien zu touren. Er hat die leise Hoffnung, dass sich das in der nächsten Zeit ändern wird, da das Interesse an The Will To Live in Deutschland für seine bisherigen Verhältnisse relativ hoch ist. Auf meinen Einwand, dass Titus Andronicus doch mit Yo La Tengo zusammen auf Tour kommen, schüttelte er erstaunt den Kopf und fragte, wie ich darauf käme. Ich bin (nach wie vor) felsenfest davon überzeugt, dass ich auf der Seite des Übel & Gefährlich in Hamburg diese Konzertankündigung gelesen hätte. Als ich allerdings nachgucken wollte, war der Eintrag verschwunden. Somit muss ich weiterhin auf ein Konzert warten oder den Weg über den Ärmelkanal auf mich nehmen, um Titus Andronicus einmal live zu erleben. So lange sei The Will To Live und alle weiteren Titus Andronicus Alben an dieser Stelle wärmstens zu empfehlen.

Text & Interview: Claas Reiners

 

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