Dezember 31st, 2023

The High Times/Chartreux (#210, 2021)

Posted in interview by Thorsten

Zwei Bands, wie sie unterschiedlicher eigentlich nicht sein können, THE HIGH TIMES aus der Schweiz und CHARTREUX aus Leipzig bilden dabei ganz nebenbei das gesamte musikalische Spektrum von GUNNER RECORDS ab. Unfairerweise verbinden viele die Plattenfirma nach wie vor hauptsächlich mit Flanellhemdenpunk, whiskeygetränkte Stimmen und Musikern mit langen Bärten und vielen Unterarmtattoos. Ein Vergleich, der schon immer hinkte. Wer sich mit den bisherigen Veröffentlichungen etwas näher beschäftigt, findet das schnell heraus. Nun gibt es eine weitere Möglichkeit dazu. CHARTREUX spielen eine melodiöse Form von Hardcorepunk, irgendwo im 90’er Jahre Sound verwurzelt. THE HIGH TIMES hingegen schlagen in eine ganz andere Richtung, ich möchte es Underground- oder Garagen-Pop nennen. Vorhang auf für die Vorstellung von den Debütalben von CHARTREUX und THE HIGH TIMES.

Was für eine schöne Schrammelgitarre, dreckig, laut und punky, trotzdem melodiös und poppig, so beginnt das Debütalbum von THE HIGH TIMES mit dem Titel „Heat“. Die obligatorischen Handclaps müssen beim Zuhören selbst hinzugefügt werden, die fehlen nämlich seltsamerweise. „Wir konnten ja nicht schon auf dem Erstling alle Tricks auspacken. Holen das dann aber in der Remastered-Version im 2034 nach“, sagt Gitarrist Marc dazu und es ist nicht ganz klar, ob er von dieser Anmerkung eher genervt oder amüsiert ist. Also ist Selbermachen angesagt. Musik ist doch eh am schönsten, wenn sie zum Mitmachen einlädt und die Laune beim Hören von neuer Musik augenblicklich so gut ist, dass einfach durchs Zimmer gesprungen, Luftgitarre gespielt und eben in die Hände geklatscht werden muss. Ob ich die Gruppe deswegen als Gute Laune Band bezeichnen darf, wird eindringlich bejaht und wie folgt begründet: „Das hängt wohl damit zusammen, dass wir bei der Musik aufblühen. Proben sind bei uns echt wie eine Energiequelle, so doof das klingen mag. Und gerade in dieser Pandemie sind Musik und das Musikmachen ein rares Highlight, das uns Hoffnung gibt und uns dem Alltag entfliehen lässt! Durch die Musik verarbeiten wir halt eben auch die unschönen oder schwierigen Sachen des Lebens und versuchen dadurch positiv nach vorne zu schauen – dabei helfen einfach eingängige und “gut gelaunte” Melodien.“ Darum ist „Heat“ für mich auch jetzt schon die gute Laune Platte des Jahres. Aus jeder Note scheint die Sonne. Dabei passiert erst mal gar nicht so viel in den Songs, aber alles, was passiert, und das ist wichtig, passiert genau zum richtigen Zeitpunkt im richtigen Maß. Im Lied „Sometimes“ wird das Gitarrenoutfit beispielsweise durch eine Orgel ergänzt. Fehlen eigentlich nur Blässer zur Unterstützung. Aber vielleicht wäre das auch schon wieder zu viel des Guten, sorgt doch ein gut gesetzter Bläsersatz für überschäumende gute Laune, was die Angelegenheit im Falle von „Heat“ zu sehr auf die Spitze treiben würde. Diese Sicht teilt Marc dann auch: „Unser Verhältnis zu Blasinstrumenten in der Art von Musik, wie wir sie machen, ist ein Zwiespältiges. Zu lange wurde das Saxophon im Punk auf SKA reduziert, deswegen haben auch wir uns mit diesem Instrument schwer getan – jedoch absolut zu Unrecht! Übertreiben wollten wir es damit dann aber nicht!“ Seltsamerweise kann selbst ein Song wie „Good Company“ in dem es textlich darum geht, nach einer Niederlage durchzuhalten, den positiven Flow des Albums nicht stören. In diesem Stück kommt dann tatsächlich ein einzelnes Saxofon zum Einsatz, das schließlich von einem Gitarrensoli abgelöst wird. Ein weiteres Beispiel für ein gutes Händchen für passende Momente beweist der Wechsel der Leadstimme von Frontsängerin Dom kurz vor Schluss im aufmüpfigen „Nothing Matters“, wenn Marc die letzte Strophe, singt, ehe Dom das Lied mit den Zeilen: „There will come a day / When I reach the end /I won’t be afraid / Living life to remember“ nach Hause bringt. Auch hier schimmern die guten Seiten des Lebens durch, an die sich stets festgehalten werden muss. Generell spielt durchhalten und die positiven Dinge im Lebens sehen und den Scheiß hinter sich lassen, eine übergeordnete Rolle in den Lyrics. Da wäre es ziemlich überraschend, wenn diese Songs nicht im Lockdown entstanden sind. Sind sie aber tatsächlich nicht, wie Marc berichtet: „Die Lieder entstanden vor der Pandemie und handeln tatsächlich vom Nichtaufgeben und dem Durchhalten in verschiedensten Lebenssituationen. Etwas, was gerade in der heutigen Situation so enorm wichtig ist. Corona hat uns einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht, wir hätten letztes Jahr so tolle Konzerte spielen können und waren voller Tatendrang, bis alles abgesagt werden musste. Jedoch spornt uns das umso mehr an, wenn Konzerte wieder möglich sein werden, wir mit umso mehr Enthusiasmus losziehen wollen, um die Lieder live zu spielen und unter die Leute zu bringen.“
THE HIGH TIMES selber wünschen sich übrigens eine andere Art von Musik im Radio und bringen das auch in dem Stück „Blew my Radio“ zum Ausdruck. Ich kann mich dem nur anschließen und behaupte, THE HIGH TIMES gehören unbedingt in jedes gute (leider muss schon das Wort „mutiges“ verwendet werden) Radio! „Wir nehmen das gerne als Kompliment auf“, freut sich Marc, „wir wollen, dass unsere Musik von so vielen Menschen wie nur möglich gehört wird – und das Radio hilft da natürlich! Leider spielen Radios heutzutage (zu) viel Musik, mit welcher wir nicht allzu viel anzufangen wissen, deswegen ja auch das Lied. Aber ohnehin lieber als ins Radio wollen wir natürlich so bald als möglich in die schönen, heißen und liebevollen Kellerclubs der Welt!“
Nach nur neun Songs ist dieses Garagen-Pop Gewitter schon wieder vorbei. Aber zum Glück ist „Heat“ eine Platte, die ohne Probleme zweimal hintereinander gehört werden kann.

Noch zwei Lieder weniger bietet der Vierer von CHARTREUX auf ihrem Debütalbum „You didn’t doubt this“ an, fairerweise wird das Werk daher als E.P. angekündigt. Wären doch 10“ nicht so verdammt teuer, es wäre für diese Songs das richtige Format. Das macht diese sieben Songs natürlich um nichts schlechter. Aber wieso gibt sich eine Band aus Leipzig einen französischen Namen, singt aber auf Englisch? „Und, du hast noch vergessen: Wie spricht man das eigentlich genau aus? Scharrrtröööiii? Schortrouw? Scharrtröix?“, wirft Christian, der Sänger der Band, weitere Fragen auf und führt amüsiert aus, „und da sind wir auch schon beim Kern der ganzen Sache: Finde die möglichst unmögliche Kombination aus Bandnamen zu Sprache, zu Herkunft und verpacke dies in einem möglichst unaussprechlichen Namen. Ich bin immer noch für die Umbenennung in “Chantré”… Kennt jeder, kann jeder aussprechen und die Erwartungshaltung ist nicht allzu groß. Aber gegen die alkoholfreie Katzenfratkion in “CHARTREUX” (mit gestikulierten Anführungszeichen ausgesprochen) komme ich einfach nicht an.“ Ob nun CHANTRÉ oder CHARTREUX, die Vier sind eine junge Band, „alle Lieder sind während einer weltweiten Pandemie entstanden“, steht auf dem Cover von „You didn’t doubt this“. Gegründet wurde die Band allerdings vor der Krise, im Jahr 2019 von Jungs, die zuvor bereits in etlichen anderen Bands ihr Unwesen getrieben haben. Lediglich die Aufnahmen für diese E.P. entstanden im letzten Jahr: „Ich hatte Tobi (OAT) angeschrieben, ob er mir vielleicht ein paar Leute vermitteln kann, mit denen ich ein Zweitprojekt starten könnte. Es war aber schnell klar, dass Tobi auch ein Nebenprojekt haben wollte. Tja, und die anderen beiden? Aiko (TACKLEBERRY) und Seb (PIEFKE) ham sich da so reingezeckt… Die waren plötzlich da… .“ Wenn so etwas wie „You didn’t doubt this“ während dieser verdammte Coronazeit entstehen kann, hatte der Scheiß vielleicht wenigstens etwas Gutes. Andernfalls wären Songs wie „Roleplay“, in dem es um die Gefühle eines jungen Menschen geht, der feststellt, in einem falschen Körper geboren worden zu sein, nie entstanden. „Es gab damals bei uns am Ort einen Typen, der wegen seiner offensichtlichen Neigung, sich Frauenkleidung anzuziehen, belächelt wurde und oftmals als Prügelknabe herhalten musste“, erzählt Christian und teilt die Motivation von diesem Stück mit, „Hintergrund ist eigentlich: Scheiß auf das ewige Rollenspiel der Geschlechter. Jeder Mensch sollte das Recht haben, genau so glücklich zu werden, wie sie/er sich fühlt und jeder Mensch sollte verdammt noch mal genau dieses Glück aller anderen respektieren.“ Dabei ist das Lied ein erzählender Song, was im Punkrock eher selten vorkommt, meistens wird ja aus der Ich-Perspektive getextet, was schon mal für einen interessanten Einstieg ins Werk sorgt. Musikalisch ist das Stück der lauteste und damit auch wütendste Song auf dem Minialbum, ist gerade heraus und verzichtet bis auf zwei kurze Gitarrensolis, auf die feinen Spielerein, die „You didn’t doubt this“ ansonsten aus der großen Masse an Punkplatten heraushebt. Knüppeln und Schrammeln kann halt praktisch jeder. Bei CHARTREUX aber schrammelt stets nur eine Gitarre die Punkpowerakkorde runter und die zweite Gitarre sorgt dezent unter dem Lärm, mit schönen Pickings und Rhythmen, für Melodien und Struktur. Feiner, aber wichtiger Unterschied. „Flipbook“ stürmt dabei so schnell nach vorne, wie der Titel es vermuten lässt und behandelt ein düsteres Thema: „Es dreht sich hier um das Thema Tod, eigentlich eher um Vergänglichkeit. Ich habe in meinem Leben bisher zwei tote Menschen gesehen, einen Typen, den ich im Jahr 2000 nachts auf der Straße gefunden habe und meine Oma fünf Minuten nach ihrem letzten Atemzug. Nach dem Ereignis fing ich an, über das Leben zu grübeln und wie es bisher so verlaufen ist. Dabei bin ich dann gedanklich in meiner Jugend hängen geblieben… Kennst du so Nachmittage als Jugendlicher, wo du einfach nichts mit dir anfangen kannst? Völlig antriebslos und die ganze Welt ist schlecht? Und du denkst aus heutiger Perspektive: Wenn ich mich jetzt noch mal mit diesem jüngeren ich treffen könnte, würde ich ihm erstmal richtig schön eine rein zimmern und sagen: “Junge krieg deinen Arsch hoch, nicht die Welt ist schlecht.“ Vermutlich hatte jede/r schon mal solche Gefühle. Das gute am Leben ist, es ist nie zu spät, etwas anzufangen oder aufzuholen. Zeit ist (war) auch zum Verplempern da. Und alles hat seine Zeit, rumgammeln hat seine Zeit, im Selbstmitleid versinken hat seine Zeit, aber den Arsch hochbekommen und etwas zu Starten hat eben auch seine Zeit. Christian und die restlichen drei Bandmitgliedern haben es geschafft, anders hätte diese Musik nicht entstehen können. Der junge Christian sollte daher zufrieden mit seinem älteren ich sein. Das hätte „You didn’t doubt this“ jedenfalls verdient.

Text & Interviews: Claas Reiners

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