Dezember 31st, 2022

Punk The Capital (#211, 2021)

Posted in interview by Thorsten

James June Schneider & Jeff Nelson

In den letzten Jahren erschien eine Vielzahl von dokumentarischen Werken, die sich mit der Geschichte von Hardcore-Punk an sich oder einzelnen lokalen Punk-Szenen befassen. Besonderen Fokus genießt aufgrund ihres großen Einflusses dabei die Hardcore-Punk-Community in Washington, D.C., die nach zahlreichen Büchern sowie den beiden Filmen „Salad Days“ und „Positive Force: More Than a Witness, 30 Years of Punk Politics in Action“ nun mit „Punk the Capital“ erneut dokumentarfilmisch beschrieben wird. Wir sprachen zum Erscheinen des Werkes mit dem verantwortlichen Filmemacher James June Schneider sowie Jeff Nelson, der das Projekt eng unterstützte und begleitete.

Bitte stellt Euch vor.

Jeff: Mein Name ist Jeff Nelson und ich bin Mitinhaber von Dischord Records. Ich bin in Übersee, Südafrika, Ungarn, Iran, Afghanistan aufgewachsen, aber wie bei vielen Familien im Foreign Service war Washington, D.C. immer unsere Heimat. Wir kamen im Sommer 1976, als ich 14 Jahre alt war, aus Afghanistan zurück. Wir sollten damals eigentlich für zwei Jahre in Thailand stationiert werden, aber das wurde in letzter Minute verworfen und danach haben wir nie wieder im Ausland gelebt. Ich fing damals an in der Schulband zu trommeln. Eineinhalb Jahre später lernte ich im Deutsch-Unterricht meiner High-School meinen Freund Ian MacKaye kennen. Wir fingen an Punk zu hören und zu Konzerten zu gehen. Im Sommer 1979 spielte unsere erste Band, The Slinkees, ihre erste und einzige Show. Als unser Sänger aufs College ging, suchten wir einen neuen Sänger und wurden The Teen Idles. Als sich The Teen Idles ein Jahr später auflösten, wollten wir eine Platte herausbringen, aber wir wussten auch, dass uns kein Label herausbringen würde. Also haben wir es selbst gemacht mit dem Geld, das wir gespart hatten. Daraus wurde Dischord #1. 40 Jahre später bringen wir immer noch Platten heraus. Im Laufe der Jahre habe ich in verschiedenen Bands und Projekten Schlagzeug gespielt, die von Punk (Slinkees, Teen Idles, Minor Threat, Skewbald, Feedbag, Egg Hunt, 3) bis zu Pop-Rock (Wonderama, Senator Flux, High-Back Chairs, Fast Piece of Furniture) reichen. Ich bin auch Grafikdesigner und betreibe Adult Swim Records sowie Pedestrian Press, wo ich T-Shirts und Ähnliches verkaufe.

James: Ich wuchs in Washington, D.C. in der Skateboard- und Punk-Szene der Stadt in den 80er Jahren auf. Als Jugendlicher ging ich so oft wie möglich zu Konzerten und spielte in verschiedenen Bands, aus denen aber alle nichts wurde. Unsere Skate-Crew, genannt „Bail Crew“, gab ein Skate-Punk-Fanzine namens Aggro Pig heraus, das Interviews mit lokalen Bands wie Swiz und Soulside sowie Fotos von uns enthielten, auf denen wir alle möglichen Wände von Regierungsgebäuden hochfuhren. Es besteht kein Zweifel daran, dass meine Jugend in D.C. mit der dortigen Musikszene als Dreh- und Angelpunkt  den Ton für all meine Arbeit und fast alles andere, was ich seitdem gemacht habe, angibt. Ein gebrochener Knöchel bremste mich mit 19 Jahren beim Skateboarden aus, aber dafür landete ich an der Rhode Island School of Design, wo ich Fotografie und Film studierte. Um die Jahrtausendwende besuchte ich eine Graduate School für Philosophie in Paris. Während ich weiterhin Filme machte, beteiligte ich mich an anderen Aktivitäten wie Guerilla-Projektionen, Live-Video-Performances und verschiedenen Aktivitäten, die man als eher politisch bezeichnen kann.

Jeff, Du bist 2003 von D.C. nach Toledo, Ohio, gezogen. Verfolgst Du immer noch, was in der Musikszene und der Community in D.C. passiert, wo Du nun doch so weit davon entfernt lebst?

Jeff: Nein. Es ist 18 Jahre her, dass ich Washington, D.C. verlassen habe, und ich kann nicht behaupten, dass ich wirklich noch weiß, was in der dortigen Musikszene aktuell los ist. Ich weiß aber, dass sich die Gegend um Washington, D.C. seit meinem Weggang enorm verändert hat. Als ich Washington, D.C. verließ, waren Teile der Stadt noch von den Unruhen nach der Ermordung von Martin Luther King Jr. im Jahr 1968 gezeichnet. Als wir 1981, ein Jahr nach meinem High-School-Abschluss, auf die andere Seite des Potomac Rivers nach Arlington, Virginia zogen, war das kein besonders toller Ort zum Leben. Es war nicht gefährlich, aber total langweilig. Wir wollten dort unbedingt ein günstiges Haus mieten, in dem unsere Bands proben konnten, und daraus wurde das Dischord House. Jetzt ist Arlington ein sehr teurer Ort zum Leben. Amazon baut dort einen seiner großen neuen Hauptsitze. Ich erkenne die Gegend um D.C. gar nicht mehr wieder.

James, verfolgst Du immer noch, was in der Hardcore-Punk-Community in D.C. passiert?

James: Ich verfolge das Geschehen nicht sehr genau, aber ich kenne und höre eine Menge guten, aktuellen D.C.-Hardcore-Punk. Ich gehe immer noch zu Konzerten, aber nicht mehr so oft, wie ich es gerne würde. Nachdem ich mit der D.C. Public Library bei der Gründung ihres Punk-Archivs und kürzlich bei ihrer D.C.-Punk-Ausstellung die Eröffnung war im Herbst 2021 zusammengearbeitet habe, habe ich gesehen, wie die Geschichte des D.C.-Punk neue Dinge befruchtet hat. Wenn man jede Dokumentation als etwas betrachtet, das in die Gegenwart einfließt, entwickeln sich die Dinge auf einer soliden Grundlage; die Leute können so ihre Roots besser kennenlernen. Ich finde es schön, Teil dieses Prozesses zu sein.

Der frühe US-Hardcore-Punk wurde in den letzten zehn Jahren in Büchern und Dokumentarfilmen ausführlich behandelt. Da Washington, D.C. eine der wichtigsten Städte ist, in denen die ersten Hardcore-Punk-Szenen der USA entstanden sind, haben vor nicht allzu langer Zeit „Salad Days“ und „Positive Force: More Than a Witness, 30 Years of Punk Politics in Action“ bereits einen großen Teil der Geschichte des D.C.-Hardcore-Punks abgedeckt. Warum eine dritte Dokumentation über D.C.-Hardcore-Punk?

James: Als wir mit diesem Film begannen, gab es keine anderen Filme über D.C.-Punk, obwohl es zuvor mehrere Versuche gegeben hatte. Es war so etwas wie das Bermuda-Dreieck der D.C.-Dokumentarfilme – wie übrigens auch bezüglich Go-Go-Dokumentationen. Wir begannen um die Jahrtausendwende mit dem Sammeln von Filmmaterial und letztendlich war es gut, dass diese anderen Filme zuerst auftauchten, denn so konnten wir uns auf eine bisher noch nicht abgedeckte Periode konzentrieren. Kein Film oder Buch hatte sich mehr als nur eher oberflächlich mit der Entstehung dieser Musikszene befasst, vor allem bezüglich der Entstehung von Ideen und Sounds. Wir entdeckten, wie viel von der D.C.-Punk-Identität 1979 bereits Gestalt angenommen hatte. Eine Schlüsselrolle in unserem Film spielt der Ort, an dem der D.C.-Punk aufkeimte, ein Künstler-Kollektiv namens Madam’s Organ. Nicht zu verwechseln mit der heutigen Blues-Bar, die diesen Namen trügt. Das war eine echte Entdeckung für mich und Madam’s Organ wurde fast zum einzigen Thema unseres Films. Ungefähr neun Monate lang mischten sich hier ältere und jüngere Punks. Die Bad Brains waren so etwas wie die Hausband und die politisch engagierten Woodstocker interagierten mit den 12- bis 14-jährigen Punks. Paul Bishow, ein langjähriger Freund, drehte in diesem Stadthaus und anderswo in D.C. zwischen 1979 und 1982 eine beachtliche Menge an Super-8-Filmen. Sein Material wurde zur wichtigsten Archivquelle für unseren Film. Paul und ich haben den Film gemeinsam produziert. Ich sollte auch darauf hinweisen, dass unser Film – abgesehen von der Tatsache, dass es darin viel neues Filmmaterial gibt und dass der Film einen neuen Zeitraum abdeckt – auch versucht, eine universelle Geschichte darüber zu erzählen, wie eine Musik-Szene zusammenkommt, um eine neue Community aufzubauen. Es ist also nicht nur einer dieser Fan-Filme oder gar nur eine Aufzählung einzelner Bands geworden.

Jeff: Ja, es stimmt, dass diese anderen Dokumentarfilme zuerst veröffentlicht wurden. Aber James und sein Team haben viel Zeit damit verbracht, Material auszugraben, das nur wenige je zuvor gesehen haben und sie führten viele ausführliche Interviews. Ich habe durch „Punk the Capital“ so viel über die ersten Jahre der Punk-Szene in D.C. gelernt, also eine Zeit, bevor wir selbst mitmachten und zu Konzerten gingen. Es stimmt, dass die Punk-Szene in D.C. für die Bands und die Musik bekannt wurde, die Dischord veröffentlicht hat, aber wie in jeder Stadt war die Musikszene viel diverser und ich war sehr froh, dass die früheren Punk- und New-Wave-Bands in D.C. mit diesem Film die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie längst verdienten.

Jeff, Du bist als Archivar und Sammler bekannt. Und die Slinkees waren ja auch schon sehr früh in der Szene vertreten. Man würde denken, jemand wie Du weiß eh schon alles. Was genau hast Du denn aus dem Material, das James für den Film sammeln konnte, über die frühen Punk-Tage in D.C. noch dazu gelernt?

Jeff: Erst als ich „Punk the Capital“ sah wurde mir klar, wie viele Bands es in den ersten Tagen der D.C.-Punk-Szene gab. Diese Leute spielten Konzerte und brachten Fanzines heraus, bevor wir überhaupt unsere ersten Punk-Platten hörten. Der Film zeigt aber auch, dass die Musiker:innen und Künstler:innen in D.C. schon in den frühesten Tagen das Gefühl hatten, nach New York oder Los Angeles ziehen zu müssen, um „erfolgreich“ zu sein. Der Film enthält ein Interview mit einer Frau, die vielleicht die erste Punkerin in D.C. war. Sie zog nach New York, weil die Musik- und Kunstszene in D.C. klein und eher konservativ war und sie das Gefühl hatte, dass in der D.C.-Szene sich nichts bewegen würde. Diese Einstellung war also schon vor unserer Mitwirkung an der D.C.-Szene vorhanden und hielt viele Jahre lang an. Ich bin von meinen Eltern und Großeltern geprägt. Genau wie sie habe ich immer Dinge aufbewahrt und versucht, sie zu ordnen. Die Eltern meiner Mutter leiteten in den 1930er und 1940er Jahren kleine Zeitungen in Iowa, und Ians Großmutter war während des 2. Weltkriegs Kriegsberichterstatterin. Ians Vater war Redakteur bei der Washington Post. Es lag uns also schon im Blut, Dinge zu dokumentieren. Und von unseren ersten Bands bis zu unseren Anfängen bei Dischord Records haben wir bereits Belegexemplarevon allem aufbewahrt. Wir hatten auch das Glück, lange an einem Ort bleiben zu können. Viele meiner Freund:innen haben ihre Exemplare von Platten, auf denen sie gespielt haben, oder Flyer von Konzerten, an denen sie mitgewirkt haben, verlegt, als sie von Haus zu Haus umzogen. Und natürlich haben wir davon profitiert, dass wir in einer Gegend und in einer Zeit gelebt haben, die frei von Überschwemmungen, Krieg und Luftangriffen war. Wenn jedoch D.C. von einer großen Bombe getroffen wird, sieht die Sache anders aus und die meisten unserer Sammlungen werden zusammen mit der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung pulverisieren. Wenn das passiert, wird das, was ich in Toledo habe, alles sein, was überdauert. Toledo ist ziemlich langweilig, daher ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich jemand die Mühe machen würde, Toldeo zu zerstören. In den letzten acht oder zehn Jahren hat Ian sein Archiv deutlich erweitert und er hat Praktikant:innen aus Museen und Bibliotheken beschäftigt, die ihm bei der Archivierung halfen. Jetzt haben viele Leute von D.C.-Punk- und New-Wave-Bands, die schon vor Dischord Records existierten, ihre kleinen Sammlungen an Ian übergeben, weil sie sehen, dass er sich sehr gut um die Dinge kümmert. Irgendwann wird das ganze Zeug wahrscheinlich an ein Museum oder eine Universität gehen – oder vielleicht an die D.C. Public Library. Es ist natürlich sehr schmeichelhaft, dass viele verschiedene Institutionen ein starkes Interesse an unserem Archiv bekunden. Vor Jahren hätten die meisten dieser Einrichtungen unser Archiv wahrscheinlich abgelehnt, wenn wir angeboten hätten, es zu spenden. Das Verständnis für und der Respekt vor Punk und all den kulturellen Veränderungen, die mit Punk einhergingen, ist in den letzten Jahrzehnten merklich gewachsen.

Von außen betrachtet scheint es manchmal so, als ob die ersten lokalen Szenen des amerikanischen Hardcore-Punk sehr besonders bzw. jede für sich einzigartig waren. Jede Stadt schien ihren eigenen Stil, ihre eigene Musik und ihre eigene Art der Community zu haben. Bands aus D.C., New York und L.A. schienen etwa alle bestimmte Ideen, Ziele und Werte zu teilen, waren aber sehr unterschiedlich in ihrer Herangehensweise, was dann doch zu sich deutlich unterscheidenden lokalen Szenen führte. Zudem unterscheiden sich die jeweiligen Hardcore-Punk-Szenen für unser Dafürhalten doch deutlich von den meisten anderen Musikszene. Wie kann die Geschichte einer dieser einzigartigen lokalen Hardcore-Punk-Szenen dafür dienen, eine universelle Geschichte über das Entstehen einer Musikszene und -Community zu erzählen?

James: Ich bin nicht wirklich ein Experte für die Geschichte des amerikanischen Hardcore-Punk aber eine Sache, die ich gesehen habe, ist, dass die Leute aus verschiedenen Szenen so viel gemeinsam haben, was die Ethik angeht. Die meisten Leute aus dieser Szene, die ich getroffen habe, scheinen sich über Jahrzehnte hinweg treu geblieben zu sein. Neben den Leuten in D.C. gibt es Leute wie Joe Keithley alias Joey Shithead, der enge Verbindungen zu kanadischen politischen Bewegungen und den Yippies hat und immer noch für progressive Politik eintritt. Derzeit entsteht übrigens ein Dokumentarfilm über D.O.A. und Joey Shithead von einem D.C.-Fanzine-Macher namens Scott Crawford. Was damals mit Punk geschah könnte sich auch nochmals wiederholen – im Punk und in jedem anderen Genre. Und das ist für mein Dafürhalten auch dort passiert, wo sich eine neue Gemeinschaft um ein Genre herum bildete, mit eigenen Codes und Attitüden.

War Dein Ansatz, die D.C.-Szene aus der Sicht eines Fans, Aktivisten oder einer neutralen Person zu dokumentieren.

James: Ich war schon immer ein Fan dieser Musik, aber ich bin wie bei anderen Filmen, die ich gemacht habe, an die Sache herangegangen und habe mich bei der Planung des Films nicht darauf verlassen, was ich oder andere schon wussten. Filme schreiben sich von selbst, wenn man sie lässt. Ich hätte gerne einen aktivistischeren Aspekt eingebaut, aber das stand irgendwie nicht zur Debatte. Der Film hört auch genau zu der Zeit auf, als ich anfing auf Konzerte zu gehen, in dieser politisch engagierten Zeit, die etwa 1984 bis 1985 begann. Robin Bells gut gemachter Film über Positive Force mit dem Titel „Positive Force: More Than a Witness, 30 Years of Punk Politics in Action“ konzentriert sich wirklich nur auf diese Phase.

Die Crowdfunding-Kampagne für „Punk the Capital“ begann im Juni 2014 und erst 2021 wurde der Film veröffentlicht. Warum hast Du so lange gebraucht?

James: Ich habe von 1999 bis 2013 in Frankreich gelebt und erst als ich nach D.C. zurückkehrte, konnte ich mit dem Projekt richtig loslegen. Der Prozess hat länger gedauert, als es der Fall gewesen wäre, wenn der Film selbst unser einziges Ziel gewesen wäre. Aber unsere Mission war es auch, diese Geschichte zu sammeln und zu bewahren. Das war auch Teil unseres Kickstarter-Versprechens, das wir lange vor der Fertigstellung des Films erfüllt haben. Das Ziel war es, die Erfahrungen verschiedener Menschen in der Szene zu dokumentieren. So haben wir rund 100 Interviews geführt, die jeweils zwischen 1,5 und 3,5 Stunden lang sind. Außerdem haben wir riesige Mengen an Filmmaterial zusammengetragen und digitalisiert und im Zuge dessen mit der D.C. Public Library zusammengearbeitet, die ihr D.C.-Punk-Archiv aus unserem Projekt heraus begründet hat. Den Film auf eine ansehbare Länge zu bringen war definitiv die größte Herausforderung. Der Schnitt dauerte viel länger, als wenn wir den Film ausgeschrieben oder versucht hätten, eine Filmversion von dem zu machen, was wir bereits wussten. Unser Ziel war es, all diese manchmal widersprüchlichen Geschichten zu sammeln, zu zerlegen und dann wieder zusammenzusetzen. Als Cutter lege ich einen Schnitt auch gerne mal für einen Monat oder länger zur Seite und fasse ihn dann erst wieder an, mit dem Ziel, etwas zu schaffen, mit dem ich wirklich gut leben und was ich mir den Rest meines Lebens immer wieder ansehen kann. Für ein Projekt wie dieses  – das von 2013 bis 2019 dauerte – scheinen mir also fünf bis sechs Jahre tatsächliche Bearbeitung immer noch vertretbar. Das ist schließlich für mich kein Vollzeitjob. Aber vielleicht harmoniert meine Zeitvorstellung nicht mit kapitalistischen Zeitvorstellungen, denn unser erster Schnitt war etwa sieben Stunden lang. Ein großer Teil des Materials wird im Bonus-Bereich der DVD bzw. Blu-Ray enthalten sein. Ich denke, es sollten mehr Filme mit mehr Sorgfalt und Aufmerksamkeit gemacht werden, egal wie lange sie in der Produktion am Ende dauern. Wir haben es jedenfalls versucht, gut zu machen. Filme sind genauso bleibend wie jedes andere menschliche Unterfangen und sollten daher meiner Meinung nach mit Blick auf die künftigen Generationen angegangen werden.

Es scheint in der Tat eine große Herausforderung zu sein, so viele Interviews und Material auf Spielfilmlänge zu kürzen. Und sicherlich wird jede:r eine Meinung dazu haben, was für den Film und die Geschichte, die er erzählt, wichtig ist, z.B. dass Scream nicht im Film vorkommt. Die politisch aufgeladene Hardcore-Punk-Community der 90er Jahre entstand aus dem D.C. Revolution Summer von 1985. Während sich in vielen Städten der späten 1970er und frühen 1980er Jahre überall auf der Welt Punk-Szenen bildeten, ist der Revolution Summer vielleicht die einzigartigste Entwicklung, die eine Szene in der Hardcore-Punk-Community je durchlaufen hat. Und der Revolution Summer hatte einen enormen und nachhaltigen Einfluss auf die weltweite Hardcore-Punk-Szene bis zum heutigen Tag. Der Anfang von Revolution Summer ist jedoch der Zeitpunkt, an dem der Film abrupt endet. Um auf Deine Intention zurückzukommen, einen Film zu machen, der die Entstehung einer Musikszene zeigt: warum hast Du Dich entschieden, die Geschehnisse des Sommers 1985 und dessen Nachhall nicht ausführlicher zu behandeln?

James: Manchmal ist es interessanter einen Film mit Energie zu beenden, als mit einer historischen Tatsache. Irgendwo mussten wir schließlich aufhören. Wie bereits erwähnt, deckte der Film von Robin Bell die Zeit des Revolution Summer wirklich vollständig ab und wir beschlossen, dass es gut war, kein neues Kapitel aufzuschlagen. Es wurden auch keine Bands bewusst herausgeschnitten. Mit fortschreitender Bearbeitung entwickelte sich die Struktur des Films jedoch so, dass wir im Laufe des Films immer wieder auf die Geschichten von drei Bands zurückkamen: Minor Threat – und deren Vorläufer Teen Idles, Bad Brains und Slickee Boys. Eine Band verließ die Stadt, eine blieb und spielte jahrzehntelang, eine glänzte und wurde mehr als nur eine Band. Andere Bands sind zwar auch dabei, dies aber nur am Rande. Und einige weniger bekannte Band, wie etwa The Enzymes, verdienen ein bisschen mehr Rampenlicht. Bei Scream ist es interessant: Das ist eine Band, mit der ich aufgewachsen bin und ich war selbst überrascht, dass sie nicht im Film vorkam. Aber so ist das halt beim Schnitt. Scream wurde während des Schnitts mit einer Nebengeschichte über eine Garagenband aus D.C., die Hangmen, die die erste Rockplatte aus D.C. herausbrachten, eingebunden. Dieser Abschnitt blieb bis zu einem sehr späten Schnitt erhalten, aber es war irgendwie sowohl zu viel als auch zu wenig. Am Ende haben wir diese Szene herausgeschnitten, aber sie ist auf der DVD und Blu-Ray, die jetzt in Europa erhältlich sind, enthalten und wurde dabei um 15 Minuten erweitert.

Als Du die Details der Geschichte von Hardcore und Punk in D.C. aus so vielen Materialien und Quellen zusammenpuzzeltest, hast Du da irgendwelche Fakten gefunden, die vielleicht Deine Sicht auf die Vergangenheit oder sogar auf Deine eigene Biografie verändert haben?

James: Im Gegensatz zu Paul Bishow, der an dem Film mitgewirkt hat, habe ich die Zeit, die wir im Film behandeln, nicht erlebt. So entdeckte ich eine ganz neue Welt. Sogar Leute, die in der D.C.-Hardcore-Szene eine zentrale Rolle spielten, haben uns gesagt, dass sie begeistert waren, zu erfahren, was in den 1970er Jahren und insbesondere in Madam’s Organ passierte. Ich habe viel darüber gelernt, wie diese Szene mich als Kind geprägt und mir mehr Orientierung gegeben hat, als wenn ich an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit aufgewachsen oder nicht auf diese Subkultur aufmerksam gemacht worden wäre, die damals leicht zu übersehen war, wenn man nicht nach etwas Besonderem suchte. Ich denke daran, wie freundlich und inklusiv die ältere Generation der Punks damals war, weshalb sie im Film besonders beleuchtet werden.

Gibt es irgendwelche spannenden Enthüllungen während der Arbeiten zu „Punk the Capital“?

James: Jeder meiner Filme fühlt sich an, als würde ich eine Doktorarbeit schreiben. Wenn man dann irgendwann abschließt, hat man ein wirklich erfüllendes Gefühl, alles gegeben zu haben, das weit über das hinausgeht, was man als Regisseur bei einem kommerziell ausgerichteten Werk erreichen würde. Darüber hinaus war es auch bereichernd und inspirierend, die positiven Auswirkungen zu sehen, die die D.C.-Punk-Community für Menschen auf der ganzen Welt hatte und hat. Der Einfluss dieser relativ kleinen Musik-Szene auf der ganzen Welt ist enorm, selbst wenn man es manchmal nicht auf den ersten Blick erkennt. Einflussreiche Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik wird zugeschrieben, D.C.-Punk als ihren moralischen Kompass genannt zu haben. Wir entdeckten diese Verbindungen während der Dreharbeiten, auch wenn sie nicht das Thema unseres Films und daher nicht validiert wurden, aber sie untermauern die Nachhaltigkeit. Mir wurde auch klar, dass ein Teil dessen, was den Geist des D.C.-Punk so lange lebendig und relevant gehalten hat, die Fähigkeit so vieler Menschen in der Szene ist, jugendlich neugierig und playful zu bleiben, auf eine kluge, kritische Art und Weise.

Ursprünglich hattest Du eine europäische Screening-Tour für November 2019 geplant, dann wurde sie auf Mai 2020 verschoben und dann aufgrund der Einschränkungen durch die Covid-19-Pandemie abgesagt bzw. auf 2021 verlegt und nun erneut auf 2022 verschoben. Warum jetzt eine Veröffentlichung im Jahr 2021 ohne Vorführungstour?

Jeff: James und ich waren beide sehr enttäuscht, als die europäische Vorführungstour abgesagt werden musste. Ich hatte James bei den Filmvorführungen in acht amerikanischen Städten begleitet und Publikumsfragen im Anschluss an die Vorführungen beantwortet. Das hat sehr viel Spaß gemacht. Da keine der Bands, in denen ich gespielt habe, jemals in Europa auf Tournee war, habe ich die Chance ergriffen, viele Länder zu besuchen, in denen ich noch nie war. Besonders gespannt war ich auf die sieben geplanten Vorführungen in Deutschland. Ich war nur 1976, mit 14 Jahren, in München. Die Hälfte meiner Vorfahren stammt aus Deutschland und ich sammle von dort Kaiserzeit-Uniformen, militärische Kinderbücher und Brettspiele. Ich habe mich sehr darauf gefreut, Museen zu besuchen, schöne Architektur zu sehen und natürlich Freund:innen zu treffen, die ich über das Internet kennengelernt habe – und auch darauf, vielleicht ein paar neue Freund:innen kennenzulernen. Es ist erstaunlich, wie die Musik aus Washington, D.C. ihren Weg um die Welt gefunden hat. Es macht natürlich Spaß und ist schmeichelhaft, mit Leuten zu sprechen, die von Dischord Records und dessen Bands beeinflusst worden sind. Es ist schwer zu sagen, wie die Zukunft jeglicher Art von Touren aussehen wird. Ich weiß, ich spreche das Offensichtliche aus, aber werden Konzerte, Theater, Restaurants, Bars oder Museen jemals wieder dieselben sein? Werden der Tourismus und die offenen Grenzen der EU zurückkehren? Ich hoffe es jedenfalls, denn meine Liste der Orte, die ich besuchen möchte, ist noch sehr lang! Ich fürchte aber, wir werden für den Rest unseres Lebens Masken tragen müssen. Ich hoffe aber natürlich, dass ich mit dieser Befürchtung falsch liege.

James: Wir drei Hauptmacher des Films – Paul Bishow, Sam Lavine und ich – waren uns einig, dass es für einen Film, der mit und über die DIY-Kultur gemacht wurde, das Richtige ist, mit dem Film auf Tour zu gehen und bei den Vorführungen dabei zu sein – und nicht nur den Weg über die Filmfestivals zu gehen. Das Ziel war es, 100 aufeinanderfolgende Vorführungen zu machen, bei denen jeweils mindestens einer von uns den Film präsentierte. Idealerweise mit Gästen wie Jeff, der mit mir bei acht oder neun Terminen unterwegs war; die genaue Zählweise hängt davon ab, ob man eine private Vorführung in der Seniorenwohnanlage seiner Eltern mitzählt. Das „Punk the Capital“-Team hatte etwas mehr als 50 begleitete Vorführungen absolviert, bevor die Pandemie ausbrach. Als klar wurde, dass die Welt sich nicht so bald wieder öffnen würde, mussten wir den Schalter umlegen und den Film sowohl für unsere Kickstarter-Unterstützer:innen, als auch für alle anderen zugänglich machen. Außerdem nehmen Festivals Filme nur ein bis zwei Jahre nach ihrer Premiere an, so dass sich dieses Zeitfenster irgendwann dafür geschlossen hat. Unsere Premiere war nämlich bereits im Juni 2019. Wir planen, im Frühjahr 2022 wieder auf Europatournee zu gehen, wenn es hoffentlich keine Reisebeschränkungen mehr gibt. Zu diesem Zeitpunkt werden wir mit einer längeren Version des Films reisen, die seltene Szenen enthält, die wir aus verschiedenen Gründen herausschneiden mussten – darunter auch einige verbotene Szenen. Wir sehen uns hoffentlich bald.

Wir danken für das Gespräch.

Die Film-Screening-Tour findet nun ab dem 21.04.2022 statt. Einzelne Termine unter www.trust-zine.de/tourdates. Weitere Informationen zum Film unter www.punkthecapital.info.

 

Judith & Christian

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