Dezember 31st, 2022

Hey King (#210, 2021)

Posted in interview by Thorsten

HEY, KING! sind nicht nur ein musikalisches Duo aus Los Angeles, bestehend aus der Songschreiberin und Sängerin Natalie London und der Schlagzeugerin Taylor Plecity, die in den richtigen Momenten Backingvocals (oder mehr) beisteuert, sondern auch ein Liebespaar. Das ist in diesem Zusammenhang wichtig, weil viele Lieder auf dem selbstbetitelten Debütalbum von HEY, KING!, so zumindest der Eindruck beim Hören der Platte, von der Beziehung der beiden handelt. Darüber müssen sowohl Taylor, als auch Natalie einen Augenblick nachdenken. Taylor ist sich diesbezüglich nicht ganz sicher, aber Natalie stimmt schließlich zögerlich zu: „Vielleicht handelt jeder zweite Song von uns, das kann schon sein.“ Und sie ergänzt: „Ich habe mit HEY, KING! begonnen, bevor wir ein Paar wurden. Aber es führt wohl kein Weg daran vorbei zu sehen, was für eine Muse Taylor für mich ist.“ Dabei nimmt Natalie in den Texten häufig die Rolle der Beobachterin ein und beschreibt die Dinge aus ihrer Sicht, was für die Partnerin manchmal komisch sein könnte. Oder nicht

Taylor empfindet das jedenfalls nicht so:

„Es ist doch toll, welcher Mensch würde nicht gerne ein Liebeslied über sich geschrieben haben?“, fragt sie und führt weiter aus: „Natalie war schon meine Lieblingssongwriterin, bevor ich zur Band stieß. Und als ich das erste Mal „Don’t let me get away“ von ihr hörte, sprach das Lied mit so viel mehr Tiefe zu mir, als es eine Konversation jemals auslösen kann.“

Natalie gibt das Kompliment augenblicklich zurück und betont, wie sehr Taylor ihr geholfen hat, frei zu schreiben: „Taylor hat von Anfang an klar gemacht, dass es keine Grenzen gibt, wenn es ums Songwriting geht.“ Es hat den Eindruck, dass sich zwei Menschen gefunden haben, die sich harmonisch ergänzen und die für einander einstehen. Exemplarisch für die vielen, sich immer wieder ändernden Facetten einer Liebesbeziehung sei an dieser Stelle der Song „Sorry“ genannt, den beide Musikerinnen zusammen geschrieben haben und auf den mindestens Natalie besonders stolz ist. Sie singt darüber, wie sie versehentlich ihre Partnerin aufweckt, die in der Nacht von Albträumen geplagt wurde und sich sofort dafür entschuldigt, was die Songwriterin natürlich nicht hören will, denn eine wahre Liebe findet auf Augenhöhe statt, und niemand muss sich für seine Vergangenheit oder Probleme entschuldigen, schließlich wird die andere Person mit all ihren Fehlern und inneren Dämonen geliebt. Musikalisch beginnt das Lied mit einer gepickten Gitarre, welche zunächst durch eine einsetzende Geige unterstützt wird, ehe die Musik anschwillt, ein fast unpassend erscheinendes, hart gespieltes Schlagzeug dazukommt und der Gesang von Natalie eindringlich und emotional in den Refrain übergeht: „So stop saying sorry please / Do I need to tattoo across my forearm: Jesus Christ love I’m in your team.“ Besonders stark wird der Song, wenn sich Taylors Stimme dazugesellt. Nicht nur in diesem Song, sondern auf dem gesamten Album sind es stets die besten Momente, wenn Natalies und Taylors Stimmen sich ergänzen.

Musikalische Duos gibt es spätestens seit den WHITE STRIPES in allen Genres, HEY, KING! lassen sich allerdings nicht auf einen simplen Schlagzeug/E-Gitarre-Sound reduzieren, obwohl diese Konstellation noch immer den Grundstein der Musik bildet, aber eben längst nicht alles ist.

„Wenn wir alles rausschmeißen und die Lieder auf das Wesentliche reduzieren würden“, wirft Natalie ein, „wäre es immer noch ein HEY, KING! Song. Die anderen Musiker, die auf dem Album zu hören sind, gehören zu unserer Familie und wir spielen teilweise schon seit Jahren mit ihnen zusammen.“

Es kommen viele akustische Gitarren zum Einsatz, Geigen, Trompeten oder ein Klavier. Dafür tauchen in einem Song wie „Don’t let me get away“ keine Drums auf. Für die Produktion war Ben Harper verantwortlich, der die Stücke von HEY, KING! perfekt zur Geltung gebracht hat und vielleicht so etwas wie ein weiteres Bandmitglied ist. Taylor würde das jedenfalls gefallen: „Aber ich schätze, er hätte dafür keine Zeit – beschäftigt wie er ist.“

Wer möchte, kann die Musik gerne Mainstreampop oder Gitarrenpop nennen. Aber wenn Popmusik immer so klingen würde, wie es bei HEY, KING! der Fall ist, dann bräuchte es kein Punkrock mehr als Gegenbewegung auf dieser Welt. Das Stück „Holy“ hat beispielsweise alle Voraussetzungen, um im Abspann eines Kinoblockbusters zu laufen und in den nächsten Jahren bei diversen Gesangswettbewerben im TV nachgesungen zu werden, damit dort auch mal wirklich herzerwärmende Lieder interpretiert werden, während „Get Up“ das Zeug dazu hätte, tagein tagaus im Radio zu laufen, um tausende von Menschen auf dem Weg zur Arbeit in eine fröhliche Stimmung zu versetzten. Folgerichtig veröffentlichen HEY, KING! das Album dann auch auf dem Epitaph Unterlabel ANTI-, welches ziemlich geschmackssicher das Zuhause von unter anderem Tom Waits, Mavis Staples, Curtis Harding, Jade Jackson, Glen Hansard oder auch WILCO ist. Künstler*innen also, die ohne Scheu entweder Genregrenzen ausweiten oder gleich komplett sprengen. Schließlich ist die beste Musik stets die, die sich nicht mehr vergleichen lässt. Natalie und Taylor outen sich sofort als begeisterte Fans von Glen Hansard, „vielleicht wird es ja sogar mal einen Musikfilm über uns geben, wie ONCE“, wünschen sie sich. Dabei war der Weg zum Plattendeal ein langer und beschwerlicher. Bereits im Jahr 2018 waren HEY, KING! als Support von Produzent Ben Harper in den USA unterwegs und spielten emotional aufgeladene 45-minütige Sets, bestehend aus düsteren Songs, die sich hauptsächlich um die Nahtoderfahrung von Natalie drehten, nachdem sie sich in Folge eines Zeckenbisses eine Borreliose-Infektion zuzog und fast vier Jahre bettlägerig damit beschäftigt war, sich gegen den damit verbundenen Gedächtnisverlust zu wehren und sich sprichwörtlich an alles das Lesen, Sprechen, Gehen und Schreiben neu zu erinnern. Trotzdem oder gerade deswegen klingen die Songs auf diesem Debüt (fast) allesamt optimistisch:

„Das liegt“, überlegt Natalie, „an unserer eigenen Geschichte. Wenn du Einsamkeit, Missbrauch, Krankheit und Verlust erfahren hast, dann kannst du nur mit dem Gewicht auf deinen Schultern weitermachen und das Erlebte in etwas Kraftvolles und Positives verwandeln. Natürlich musst du eine Verschnaufpause einlegen, wenn es dir zu viel wird. Aber du hast die Möglichkeit, deine eigene Geschichte umzuschreiben. Ich denke, das ist es, was ich als Optimismus bezeichnen würde.“

Was HEY, KING! aber keineswegs zu einer „Halligalliband“ macht. Denn auf dem Album gibt es durchaus kritische Töne. Da wäre das Stück „Road Rage“ zu nennen, welches die Frustration zum Thema macht, die Frauen durch Belästigungen und Bedrohungen ihres Sicherheitsgefühls immer wieder empfinden, feiert aber im selben Atemzug eine weibliche Stärke, die Natalie soeben als ihre Form von Optimismus erklärt hat und die auch in diesem Stück zum Vorschein kommt. Diese zwei Seiten, Ängste, Dämonen der Vergangenheit und den unbändigen Drang nicht aufzugeben und etwas Gutes zu formen, und sei es nur eine sich perfekt ergänzende Beziehung oder eine fantastische Band (oder beides zusammen), spiegelt auch das Plattencover wider. In dem großem H des Bandnamens steht eine der beiden Musikerinnen in einem sonnendurchfluteten See. In dem K die andere knietief im Schnee. Diese Interpretation gefällt Taylor:

„Ich denke, es gibt eine Dualität in allem was wir glauben und in jeder wirklichen Schönheit im Leben. Schönheit, die aus Schmerz entsteht und Frieden, der aus Verzweiflung wächst. Selbst in unserem Beziehungsstück „Sing me to sleep“ indem es um Depressionen, aber auch um Loyalität in der Liebe geht, findet sich eine Balance, die sich eben auch auf dem Albumcover wiederfindet und das gesamte Album thematisch durchzieht.“

 

Text und Interview: Claas Reiners

 

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