Dezember 31st, 2024

Mauerstadtmusik (#223, 2023)

Posted in interview by Jan

Bei dem folgenden Interview mit Thomas Pargmann, geht es etwas tiefer in die Undergroundgefilde der europäischen Tape-Szene der 80er. Thomas besitzt ein Tapearchiv von über 6000 Kassetten und betreibt das Label Mauerstadtmusik wo u.a. Alexander Hacke unter den Namen ALEXANDER VON BORSIG eine Doppel-LP veröffentlicht hatte und auch der Filmsoundtrack des Jürgen Buttgereit-Films „NEKROMATIK“ erschienen ist. Desweiterem gibt es auch zahlreiche Tape, LP oder Singleveröffentlichungen aus Deutschland, Island und Belgien von z.B. DIE TÖDLICHE DORIS, MUTTER, MAX MÜLLER, GRAF HAUFEN, DE BRASSERS, TV WAR, CHRIS LUNCH + FRIEDER BUTZMANN, VONBRIGOI … Demnächst steht auch eine Veröffentlichung der Ton Steine Scherben-Nebenprojekte TRANSPLANTIS und KOLLEKTIV ROTE RÜBE an. Zudem betreibt Thomas auch noch die Facebook-Seite „Kassettentäter 1976 – 1989“. In dem vorliegenden Interview geht es um diverse Veröffentlichungen auf Mauerstadtmusik und über die Vorliebe zur guten, alten Kassette.

Hallo Thomas, du kommst wie ich ursprünglich aus dem Allgäu. Wo und zu welcher Zeit hast du dort genau gelebt?
Ich habe Anfang der 70er für ca. 6 Monate im Allgäu bei Kempten gelebt, ein Teil meiner Berliner Familie wollte da mal für ein paar Jahre wohnen, wir sind dann aber 1973 wieder zurück in unsere „West-Berliner Heimat“. Ich bin aus tiefster Überzeugung Berliner, das spürt und hört man, haha.

Wie kam die Idee auf das Label Mauerstadtmusik zu gründen? Was ist dein innerer Antrieb für das Label? Und was waren die ersten Releases?
Die Idee hatte ich schon Anfang der 90er gehabt, damals habe ich noch Bootleg-Kassetten gemacht, also Aufnahmen von Konzerten auf denen ich war. Die Idee zu Mauerstadtmusik kam mir in einer betrunkenen Runde vor einem Plattenladen, das war so um 2002 und da ich ja Kassetten aus der alten West-Berliner Subkultur sammelte, kam mir die Idee für eine Veröffentlichung zweier frühen Stücke von Alexander von Borsig alias Alexander Hacke von Einstürzende Neubauten. 2003 war es dann soweit mit der Gründung von Mauerstadtmusik.

Welche Veröffentlichungen hängen dir am meisten am Herzen?
Am meisten hängen mir am Herzen die beiden Veröffentlichungen von Alexander von Borsig, De Brassers aus Belgien und den Nekromatik-Soundtrack, wobei ich zu allen Veröffentlichungen ein persönliches Verhältnis habe.

Viele deiner Releases beziehen sich auf den frühen West Berliner Avantgarde, Postpunk und Punk-Underground. Was zeichnete für dich diese Ära aus?
Diese Ära bedeutet für mich als West-Berliner ein Lebensgefühl einer längst untergegangenen Stadt in einer bestimmten Zeit und der damit verbundenen Musik. West-Berlin war seit den späten 60ern sehr frei in Sachen subkultureller Musik, hier konnte sich eine lebendige Gegenkultur entwickelten. Die Stadt zog Freaks, Aussteiger und Andersdenkende magisch an, das man hier nicht zum Bund (Wehrdienst) musste war nicht der einzige Grund.

Sehr gut und interessant finde ich die Releases der frühen Berliner Punkband TV WAR. Mir war die Band bisher nur vom Namen ein Begriff. Gib uns doch mal bitte ein paar Infos über TV WAR.
TV-War war eine kurzlebige Punk-Gruppe, welche 1979 aus der Band ME 109 hervorging. Ab 1981 ließ sich TV-War eher im New Wave verorten, da ab diesem Zeitpunkt auch Synthesizer eingesetzt wurden. TV-War war eine von unzähligen Gruppen dieser Zeit aus dieser Stadt, junge Kids aus Arbeiterfamilien.

Du hast auch den Soundtrack zu dem Jürgen Buttgereit-Film NEKROMANTIK veröffentlicht. Jürgen Buttgereit ist bekannt für seine Trash und Horrorfilme. Welchen Bezug hast du zu Buttgereit und wo sind seine Filme erhältlich?
Ich habe Nekromatik Ende der 80er auf VHS gehabt, ich stand auf alles was in irgendeiner Form mit „Horror“ zu tun hatte, wobei dieser Film ja auch kein klassischer Horrorfilm ist, sondern sich als einer der allerersten mit dem Thema „Nekrophilie“ beschäftigt. Da ich vor allem auch die Musik in Jörg Buttgereit’s Filmen mochte, kam mir hier ganz spontan die Idee ihn zu fragen. Ich lernte Jörg in der damaligen Berliner Bar „Kumpelnest 300“ kennen und schon an diesem Abend sprachen wir über seine Filme, Throbbing Gristle, Punk und ich erzählte ihm davon, dass ich die Musik aus seinen Filmen sehr mag. Nach Nekromantik veröffentlichte ich ja noch auf meinem Sublabel „Westsektor Schallplatte“ die Musik aus Buttgereits Super8-Film „Captain Berlin“, der Film stammt aus dem Jahr 1982 und die Musik war elektronisch-minimalitisch und war von Peter Synthetik, der neben Bela B. und Jörg Buttgereit in diesem Film den Bösewicht „Mr. Synth“ spielte. Jörg Buttgereit’s Filme sind wahrscheinlich über ihn selber erhältlich sowie über Target Media in Berlin-Kreuzberg.

Zuletzt erschien unter dem Namen: „Borsigwerke (The Complete Recordings Of Alexander Von Borsig)“ die Frühwerke des Einstürzende Neubauten Gitarristen und Bassisten Alexander Hacke. Von wann sind die Aufnahmen und was gibt es wissenswertes über das Projekt zu erzählen?
Ich habe in den 1980ern die erste selbstproduzierte Kassette „Die Welt ist schön“ von Alexander von Borsig geschenkt bekommen und da ich zu der Zeit noch großer Fan der Neubauten war, überraschte mich die Musik des jungen Borsig von 1979 sehr, da war er nämlich erst 14 Jahre alt und hing aber schon mit etwas älteren Leuten aus der Berliner Szene rum, als Beispiel wären da Blixa Bargeld, NU Unruh oder Volker Hauptvogel. Die frühen Kassetten von Borsig wurden noch zum Teil in seinem Kinderzimmer in Berlin-Neukölln aufgenommen, dazu verwendete er Synthesizer wie den Korg MS 10 und 20 sowie eine billige Rhythmusmaschine.

Zu der Zeit experimentierten in Berlin viele Leute mit solchen Geräten, allerdings waren die wenigsten erst 14 und vieles wurde auch ganz schnell wieder vergessen. Nicht so bei Alexander von Borsig, seine Kassetten bestachen durch Witz, Individualität und jugendlicher Genialität. Mir gefiel seine Musik, allerdings interessierte sich in den 90ern kein Mensch mehr dafür, daher war es nur eine Frage der Zeit, wann ich meine erste Single mit frühen Aufnahmen von Alexander von Borsig herausbringe, was dann auch 2003 geschah. Fast 20 Jahre später besuchte ich Alexander Hacke dann mal in seinem Berliner Studio um ein Interview mit ihm zu führen und direkt danach fragte er mich, ob ich nicht Interesse daran hätte, eine Art Gesamtwerk mit ihm herauszubringen.

Da ich in meinem Kassettenarchiv ca. 5000-6000 Kassetten der Jahre 1971-1985 habe, lag eine Zusammenarbeit nahe. Ich besitze Aufnahmen, welche selbst Alexander nicht mehr hatte, welche für die gemeinsame Produktion verwendet wurden. Die Produktion selbst ist eine Doppel-LP mit den ersten beiden Kassetten „Die Welt ist schön“ von 1979/80 sowie „Borsig Werke/Sentimentale Jugend“ von 1981, des Weiteren enthalten ist Borsig’s 12″ Hiroshima von 1982, welche hier nochmal komplett remastert enthalten ist, auf der letzten Seite befinden sich unveröffentlichte Stücke sowie Aufnahmen von frühen Kassetten-Sampler. Die DLP „Alexander Hacke – Borsigwerke (The Complete Recordings Of Alexander Von Borsig)“ enthält Aufnahmen der Jahre 1979-82, beigelegt ist ein signiertes Poster, eine Postkarte sowie ein umfangreiches Beiheft mit Texten und Fotos.

Als großer Scherben-Fan bin ich schon Megagespannt auf die TON STEINE SCHERBEN-Nebenprojekte TRANSPLANTIS und das feministische KOLLEKTIV ROTE RÜBE-Tape „Liebe Tod Hysterie“. In welchem Umfang oder Format, soll das Re-Release erscheinen?
Beide Kassetten sind als Wiederveröffentlchung in Planung, allerdings gibt es da noch einige rechtliche Angelegenheiten zu klären. Zuerst wird wohl aber TSS/Transplantis erscheinen, es handelt um einen Auftritt im Kreuzberger Tali-Kino aus dem Jahr 1978. Die Musik war von TSS, der Gesang stammte von der Theatergruppe Transplantis. Die Schwule After Punk Show soll nächstes Jahr nach 46 Jahren wiederaufgeführt werden, dazu soll auch ein Film produziert werden, hinzu kommt dann wohl noch meine Schallplatten-Wiederveröffentlichung der Kassette.

Die Songs sind alle nur auf den wenigen Konzerten von TSS/Transplantis gespielt worden, es handelt sich hier nicht um Stücke, die von Rio Reiser geschrieben worden sind, die Scherben haben nur die Musik dazu gespielt. Es handelt sich jedenfalls nicht um eine „klassische“ TSS Veröffentlichung. Die Kassette „Liebe Tod Hysterie“ ist eine gemeinsame Produktion von TSS und Kollektiv Rote Rübe, von beiden Bands stammt die Musik sowie die Texte. Diese Kassette dürfte wohl auch als Schallplatte wiederveröffentlicht werden.

Neben dem Berliner Underground-Sound scheinst du auch eine Vorliebe zu haben für Punk aus Island und auf Mauerstadtmusik erschien die Vonbrigði – Ó, Reykjavík-LP. Vor ein paar Trust-Ausgaben schrieb ich auch über isländische Punk und Postpunkbands, wie u.a. KUKL, Q4U, GRYLURNAR, PURRKUR PILLNIKK und dem Sampler „ROKK I REYKJAVIK“. Sehr positiv überrascht war ich von Björks früher Band TAPPI TIKARRASS, deren LP´s sind aber leider unerschwinglich teuer. Weißt du vielleicht wieso die Tappi Tikarrass-Releases nie wieder Neu aufgelegt wurden? Denn ich denke für Björk-Fans wäre das doch eine wahre Bereicherung. Was fasziniert dich an Punk und Postpunk aus Island?
Ja ich war Anfang der 2000er Jahre mehrmals in Island gewesen und habe dort die ehemalige Punk- und New Wave-Szene der 80er Jahre aufgearbeitet und viele Leute der dortigen Szene dieser Zeit kennengelernt. Warum Alben wie Tappi Tikarrass bisher nicht wiederveröffentlicht wurden, das kann ich dir leider nicht beantworten, möglicherweise liegt es an Björk, die das vielleicht gar nicht möchte. Fasziniert hat mich vor allem das Anfang der 2000er kaum einer diese kleine Szene der 80er Jahre aus Island kannte, da machte sich ein neues Feld für mich auf und ich habe zu dieser ein umfangreiches Archiv isländischer Punk- und New Wave-Musik aufgebaut.

Zudem hast du mit DE BRASSERS und dem Sampler „Ketters Van Het Vlaamse Platteland“ auch Releases aus Belgien im Angebot. Hatte Belgien eine innovative und aktive Szene?
Die belgische Independent-Szene interessiert mich seit den 1980ern Jahren, damals habe ich Bands wie A Split Second, The Neon Judgement oder Front 242 live gesehen. Belgien hatte viel zu bieten, es gab dort eine sehr aktive Punkszene, ebenso unzählige Projekte und Bands aus den Bereichen New Wave, Elektronik Body Music, Industrial Music oder New Beat. Ich fahre fast jedes Jahr nach Belgien, um dort alte Bekannte, Musiker und Sammler von Schallplatten und Kassetten zu treffen. Es gibt in Belgien bis heute eine sehr aktive und kreative Szene.

Neben Vinyl veröffentlichst du auch Tapes. Kopierst du die Tapes von zu Hause oder lasst du sie überspielen? Und was macht das Medium Kassette für dich so reizvoll?
Ich bin mit Kassetten aufgewachsen, das war seit meiner Kindheit mein Medium gewesen. Es ist preiswert, simpel in der Handhabung und schnell zu nutzen. Ich betreibe das wahrscheinlich größte Kassetten-Archiv für deutschen Underground der Jahre 76-1984. Bis vor ca. 15 Jahren hat sich niemand mehr für Kassetten interessiert, inzwischen gibt es einen kleinen Hype. Allerdings gefällt mir die Qualität heutiger Kassetten so gar nicht, neben schlechter Dynamik und billigster Verarbeitung kommen diese „Dinger“ für mich gar nicht erst in Frage. Meine Veröffentlichungen kopiere ich selbst auf sehr guten Tascam Studiodecks, dafür verwende ich nur alte Kassetten von TDK, Maxell oder BASF, welche ich über die letzten 20 Jahre eingelagert habe.

Du betreibst auch die Facebook-Seite „Kassettentäter 1976 – 1989“. Wie kam es dazu diese FB-Seite ins Leben zu rufen und wieso beziehst du dich auf den Zeitraum von 76-89?
Auf der Kassettentäter-Seite möchte ich anderen Menschen die große Welt der damaligen Kassetten-Szene nahe bringen, denn diese war die Nische in der Nische. Es gab erheblich mehr unabhängige Produktionen auf dem Medium Kassette, als auf Schallplatten. Man konnte zu Hause aufnehmen und den größten Krach aufnehmen und in Kleinstauflagen unter die Leute bringen, egal ob das nun „gut“ war oder nicht. Selbst so bekannte Gruppen wie die Einstürzenden Neubauten haben 1980 mit selbstproduzierten Kassetten in einer Auflagenhöhe von 10-20 Stück angefangen. Heutzutage sind solche Kassetten so gut wie gar nicht mehr zu finden oder man zahlt zum Teil Fantasiepreise dafür.

Hast du dir auch mal überlegt, selbst eine Band oder auch im Alleingang ein Musikprojekt zu starten?
Ich habe in den 1990ern hier und da mal ein wenig Elektronik-Krach fabriziert, mehr aber auch nicht. An einem Projekt bzw. an einer Band besteht kein Interesse.

Noch ein abschließendes Wort oder Lebensmotto:
„Es wird immer weitergehen Musik als Träger von Ideen“ – Ralf Hütter (Kraftwerk)

Interview: Bela

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