Januar 27th, 2023

Kognitive Apokalypse – Eine Pathologie der digitalen Gesellschaft, Gérald Bronner

Posted in bücher by Dolf

C.H. Beck, Wilhelmstraße 9, 80801 München, www.beck.de

Bei dem Titel könnt man meinen der Autor sieht einen Untergang der Denkfähigkeit der Menschheit, aber er meint Apokalypse aus dem griechischen, also Enthüllung. Man könnte also denken es ist nur alles halb so schlimm, ist es aber nicht. Denn was die Digitalisierung hier zum Vorschein bringt ist: wie wir Menschen ticken. Aber eins nach dem anderen. „Gérald Bronner ist Professor für Soziologie an der Université de Paris sowie Mitglied der bedeutenden wissenschaftlichen Gelehrtengesellschaften ‚Académie nationale de médecine‘ und ‚Académie des technologies‘. Er forscht über kollektiven Glauben, Fanatismus, Radikalisierung, Verschwörungstheorien und deren soziale Folgen.“

Das Buch ist in drei Kapitel („Der kostbarste aller Schätze“, „So viele verfügbare Gehirne“, „Die Zukunft ist gar nicht so fern“) sowie einem Schluss („Der Endkampf“) aufgeteilt. Eine weitere Unterteilung sind gut dreißig Unterkapitel, die aber auch nicht wirklich weiterhelfen dem Buch mehr Struktur zu geben. Alles großartig geschrieben, teilweise sehr anspruchsvoll mit vielen tollen Fremdwörtern und einigem – für mich – neuem, zum Beispiel: Die Invariabeln des Menschen. Aber zum Ende wird es dann doch etwas ermüdend, die vielen interessanten Denkanstöße, welche oftmals mit wissenschaftlichen Studien unterlegt sind oder mit aktuellen beziehungsweise historischen Beispielen, sind zwar einzeln betrachtet spannend, aber eben oftmals auch nicht neu. Das die Menschen zu viel Zeit an Bildschirmen verbringen und somit „Aufmerksamkeitskapital“ entzogen wird, oder eben für Spiele und anderes aufgebraucht wird ist ja bekannt. Das die eigentlich freie „Hirnzeit“ immer mehr von einer naturentfremdeten digitalen Mediennutzung belegt wird ist natürlich bedenklich und wir werden sehen wohin das noch führt. Am besten herausgearbeitet finde ich die Tatsache das durch die Digitalisierung jetzt messbar ist was wir Menschen wollen und für was wir uns in erster Linie interessieren – nämlich Gewalt, Sex, Konkurrenz und die anderen üblichen niederen Verdächtigen. Auch das nicht neu, aber jetzt bekommt eben die Gesellschaft einen Spiegel vorgehalten, was dort zu sehen ist, wollen die meisten am liebsten nicht wahrhaben, weil es so erbärmlich oder sollte man lieber sagen, menschlich ist. War es bisher ein leichtes das eine zu behaupten und dann genau das Gegenteil zu machen um nachher wieder weiter zu behaupten das man das doch gar nicht machen würde – die Zeiten sind vorbei. Leider wird die Menschheit damit auch nicht wirklich besser umgehen können, mit diesem menschlichen Paradox. Aber der Autor sieht auch noch Hoffnung und keinen Grund zur Katastrophenstimmung. Dabei ist er zuversichtlich das es die Menschheit schafft, durch die Nutzung ihrer geistigen Ressourcen über ihre zivilisatorische Obergrenze hinauszuwachsen. Es wäre toll wenn er recht behalten würde. Derweil ist dies ein prima zu lesendes Buch mit vielen guten Gedankengängen und ineinander verschachtelten Ideen – wenn man auf literarisch ausgearbeitete Philosophie steht, die mehr ist als kurzweilige Wissensvermittlung. Ich würde eher an- als abraten. 285 Seiten, gebunden, 24,00 Euro (dolf)

Isbn 978-3406791284
[Trust # 217 Dezember 2022]

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