Dezember 31st, 2023

Frank Turner (#214, 2022)

Posted in interview by Thorsten

Frank Turner hat während des ersten Jahres der Pandemie unzählige Livestream-Konzerte gespielt und dabei mehr als eine Viertelmillion Pfund an Spenden für unabhängige Konzertläden eingesammelt. Unter anderem für das Molotow in Hamburg, das während der Coronazeit geschlossen bleiben musste, eine Split mit NOFX veröffentlicht und eine weitere mit dem „Buddie“ Jon Snodgrass, geschrieben und aufgenommen an einem einzigen Tag. Er hat seiner Heimatstadt London den Rücken gekehrt und ist aufs Land gezogen, hat sich ein eigenes Studio eingerichtet und dann angefangen, ein neues Album zu schreiben. In Anbetracht der Umstände ist das eine ganze Menge, vielleicht sogar mehr, als er unter normalen Umständen geschafft hätte. „Während des Lockdowns war ich sehr gelangweilt, wie wahrscheinlich jeder. Ich fing an, Songs zu schreiben und es sollten laute und wütende Lieder werden. Das Gegenteil von dem, was im echten Leben passierte. Es hatte schließlich keinen Sinn, Songs darüber zu schreiben, wie es ist zu Hause Netflix zu gucken. Dabei war es keine bewusste Entscheidung, ein Punkrockalbum zu machen“, kommentiert Frank seinen Drang in Bewegung zu bleiben.

Zum Glück tappt Frank Turner auf seinem neuen Album FTHC nicht in eine mögliche Corona-Falle. Natürlich ging die Pandemie auch an dem Sänger nicht spurlos vorbei, aber einen direkten Lockdown-Song kann auf FTHC nicht gefunden werden. Am ehesten ist vielleicht noch das Stück „The Gathering“ von dieser Zeit beeinflusst. „Es gibt hier und da kleinere Erwähnungen, das wäre sonst wie ein Album im Jahr 1919 zu schreiben und den Krieg nicht zu erwähnen“, vergleicht Frank die Situation und führt aus, „die Pandemie hat uns alle betroffen. Aber selbst bei „The Gathering“ sollte es nicht ein trauriges Stück oder ein Blick zurück auf die Zeit werden, sondern nach vorne schauen. Es geht um den ersten Moment, wenn wir wieder das machen können, was wir immer gemacht haben und was wir lieben.“

Die neuen Stücke handeln von mentaler Gesundheit, Identität, Drogen(missbrauch), Selbstzerstörung und -zweifel. Es ist einfach Frank Turner als einen versnobten Rockstar zu sehen, der mit Punk nichts am Hut hat – zu einfach. Dafür hält Frank während des Eröffnungsstückes „Non Serviam“ folgende Zeilen parat: „You think that you hate me? You’re fucking Johnny come lately I’m a champion athlete.” Tatsächlich ist es so, dass Frank Turner weniger über die sogenannten „Werte“ im Punkrock singt, als dass er sie lebt, was für ihn in allererster Linie zunächst einmal bedeutet, jeden Menschen mit Respekt zu begegnen. Das klingt im ersten Moment vielleicht banal, ist aber dennoch nicht selbstverständlich, wie viele (nicht männliche, nicht weiße, nicht heterosexuelle) Menschen innerhalb der „Szene“ bestätigen können. Deswegen unterstütz Turner unter anderem die Bewegung „Safe Gigs For Women“ in Großbritannien, die sich dafür einsetzt, dass Frauen auf Konzerten ungestört und vor allem unbedrängt Spaß haben und ein Konzert (wie jeder Mann) genießen können. „Help the ones in need. Do your best to leave the others be. Doubt yourself and keep your mind open”, heißt es in dem Lied weiter und kann als Lebensmotto von Frank Turner bezeichnet werden.

Es ist nicht möglich, über FTHC zu schreiben oder mit Frank Turner über dieses Album zu reden, ohne explizit auf die Texte einzugehen. „Das neue Album hat deutliche autobiografische Züge. Meine älteren Werke sind ähnlich autobiografisch, aber in den letzten Jahren hatte ich tatsächlich andere Schwerpunkte. In „Be More Kind“ ging es um die Welt da draußen. „No Mans Land“ handelte von fremden Personen. Es war nun wie eine Rückkehr“, erzählt Frank zu Beginn des Interviews.

Frank Turners schwierige Beziehung zu seinem Vater fand früh Einfluss in sein künstlerisches Schaffen. Bereits auf seinem Debütalbum gab es ein Stück mit dem Titel „Father‘s Day“ in dem er darüber singt, wie sein Vater tagelang nicht mehr mit ihm redete, nachdem er begann, sich mit allen Konsequenzen für Punkrock zu interessieren. Für ein Kind ist das Schweigen einer der beiden ursprünglichsten und natürlichsten Vertrauenspersonen, die ein Mensch hat – Vater und Mutter – oftmals schwerer zu ertragen, als angebrüllt zu werden und sich zu streiten. „What’s the point in making vows that you’re never going to keep”, fragt Frank in diesem Lied enttäuscht. Auf dem Album FTHC wird auf drei Stücken diese Beziehung weiter vertieft und schließlich verarbeitet.

„Als ich meine Frau kennenlernte, sagte ich zu ihr, ich würde nicht zu der Beerdigung meines Vaters gehen, wenn er stirbt“, erzählt Frank, als wir auf diese Lieder zusprechen kommen. Die Wurzel dieser Feindseligkeit stammt aus Turners Kindheit, wie es im Song „Fatherless“ heißt. Frank wurde „shipped off to a dormitory” als er acht Jahre alt war, und erhielt später ein Stipendium am Eton Collage, worüber Turner in seinem Buch „The Road Beneath My Feet“ (im Ventil Verlag) ausführlich berichtete und nun darüber singt: „I cried myself to sleep each night“ bis er sich „dead inside“ fühlte. Solange, bis er etwas fand, was durchaus als Vaterersatz dienen kann, wenn ein junger Mensch Halt in einer Welt sucht, die nicht verstanden oder so wie sie ist, akzeptiert wird: „And I sold my soul to rock and roll“. Frank konnte sich von seinem Vater und vor allem von den Werten die er (damals) vertreten hat, emanzipieren. Doch der Verlust, selbst wenn er bewusst und als Selbstschutz aktiv herbeigeführt wurde, saß tief und konnte erst sehr viel später verarbeitet werden. „Look at me now! Am I enough of a man?”, singt Frank und deutet damit sehr konservative, um nicht so gar zu sagen, altbackene Werte an, wie ein Mann nach Ansicht seines Vaters zu sein hat.

In aller erster Linie befinden sich auf FTHC persönliche Geschichten, die sich allerdings allesamt mit etwas Willen auch gesellschaftlich deuten lassen. Dabei erhebt Turner keinesfalls den Anspruch, für eine andere Person oder Gruppe zu sprechen. „Meine Erfahrung beim Schreiben von persönlichen Songs ist“, sagt Frank, „du schreibst deine Wahrheit auf und hoffst dann natürlich, dass andere Menschen das auch so sehen. Wenn du dich aber hinsetzt und laut damit prahlst, einen Song über dich geschrieben zu haben, der Allgemeingültigkeit besitzt, dann kann das sehr schnell nach hinten losgehen.“ Das war schon auf Turners letztem Album No Mans Land so, welches sich textlich ausschließlich mit dem Leben von verschiedenen historischen weiblichen Personen (und Turners Mutter) befasst und nicht mit seiner eigentlichen Hauptband The Sleeping Souls aufgenommen wurde, sondern mit ausschließlich weiblichen Musikerinnen. Turner betrachtet sich als weißer, heterosexueller Mann nicht als Rädelsführer einer Sache, sondern als Verbündeter für deren Anliegen. Trotzdem steht er als Solokünstler mit einem UK Nummer 1 Album natürlich im Mittelpunkt des Geschehens und Menschen hören ihm zu, wenn er zum Beispiel in dem Stück „Haven’t Been Doing So Well“ über seine psychischen Probleme singt. Viel zu häufig antworten Menschen auf die Frage, wie es geht mit einem einfachen „okay“ oder „ganz gut“. Seine ehrlichen Gefühle zu zeigen ist in dieser Welt nicht sehr verbreitet, allzu schnell könnte jemand als zerbrechlich, weich oder nicht ganz richtig dargestellt werden, alles Attribute, die die meisten Menschen eher als negative Eigenschaften beschreiben würden. Und dass nur, weil nicht offen über Gefühle kommuniziert wird. Der homosexuelle britische Komiker und Intellektueller Stephen Fry redete mal davon, wie wichtig Künstler*innen und Musiker*innen für die Rechte von Schwulen und Lesben in den 70er und 80er Jahren waren, indem sie ihre Sexualität thematisiert haben. Es war wichtig für heterosexuelle Menschen zu erfahren, dass Freddie Mercury, George Michael und Elton John homosexuell waren. Darüber dachte Frank beim Schreiben von „Haven’t Been Doing So Well“ nach. „Ich bin aber immer vorsichtig mit dem, was ein Musiker oder eine Musikerin zu sagen hat. Ich halte Musiker*innen nicht für besonders wichtig oder smart. Wir schreiben Songs, das ist cool, aber sonst? Ich will nicht behaupten, nur deswegen habe ich etwas Wichtiges zu sagen“, erzählt Frank und fügt an, „das ist vielleicht ein Beispiel, dass das, was ich zu sagen habe, vielleicht doch nützlich sein kann. In einem kleinen Rahmen. Die Hoffnung ist, dass der Diskurs von solchen Themen normaler wird.“

Es entspricht dem Klischee eines Rockstars, reichlich Drogen zu konsumieren. Frank Turner bildet dabei keine Ausnahme. In dem bereits erwähnten Buch mit Tour-Erinnerungen sprach er sich für einen liberalen Umgang aller Arten von Substanzen aus, noch die Gefahr ausblendend, die damit einhergehen kann. In „Untainted Love“ heißt es nun: „And I sure do miss cocaine. Crushing highs and creeping shame. And it nearly killed me.” Eine lange Zeit versuchte Turner clean zu werden und musste sich schließlich eingestehen, es ohne professionelle Hilfe nicht zu schaffen. „Sehr lange dachte ich, ich kann das alleine schaffen, es wie Henry Rollins machen, I can fucking do this und ein paar aufmunternde Platten hören und dann wird es schon gehen. Aber ich brauchte etwas mehr Hilfe und es war für mich eine große Sache, mir das einzugestehen, mit jemanden zu reden, der sich damit auskennt. Das habe ich gemacht und es hat geholfen.“ Statt aus dem Drogenkreislauf mit aufmunternden Platten und ein paar Liegestützen rauszukommen, war es schließlich eine eher deprimierende Textzeile eines The Hold Steady Songs, der Turner zum Nachdenken brachte „it started recreational and ended kind of medical. Diese Zeile zerbrach mir fast das Herz. Denn das spiegelt genau meine Erfahrung wider. Versteh mich nicht falsch. Drogen haben eine Zeit lang Spaß gemacht. Aber irgendwann eben nicht mehr und ich fühlte mich, wie ein wandelndes medizinisches Problem.“ Musik kann also zu etwas nützlich sein, selbst wenn es bloß vertonte Geschichten sind, die zum Nachdenken und sinnieren über sich selbst veranlassen.

Dazu hatte Turners Freund Scott Hutchinson von der Band Frightened Rabbit vor fünf Jahren keine Kraft mehr, als er sich entschied seinem Leben ein Ende zu setzten. Ein schmerzhafter Verlust, sowohl für die Musikwelt als auch für Frank Turner persönlich, welcher in „A Wave Across The Bay“ verarbeitet wird: „Es war hart, als er verschwand. Wir hatten einen gemeinsamen Freund, der mich fragte, ob ich ihn anrufen könnte, weil er nicht mehr auf Nachrichten und Anrufe reagierte. Das war das erste Mal, dass ich davon hörte. Dann erfuhr ich die Details und wusste sofort, was passiert war. Ich hatte Verständnis für seine Familie, die sich an jegliche Hoffnung klammerten, aber mir war sofort klar, dass das Schlimmste eingetreten war. Das war schrecklich. Der Morgen, an dem er gefunden wurde, war der erste Tag des Lost Evenings Festival in London. Und es war der Tag, an dem „Be More Kind“ veröffentlicht wurde. Einer der stressigsten Tage meines Lebens. Meine Frau weckte mich und meinte, es sei besser, es von ihr zu erfahren, als es im Internet zu lesen. Das war dann ein Scheißtag. Ein Teil von mir war traurig, ein anderer Teil war wütend, es war viel Verzweiflung in mir und ich habe mir Vorwürfe gemacht. Hätte ich ihn einmal mehr anrufen können? Das letzte Mal, als ich ihn sah, das war so drei Wochen vor seinem Tod, machte er keinen guten Eindruck auf mich. Ich bot ihm ein Zimmer in meiner Wohnung an und meinte, wir sagen deinem Manager nicht, wo du bist, und er sagte: „Ja, das sollten wir tun.“ Aber er zog nie bei mir ein. Was aber noch wichtig ist. Scott wusste ganz genau, was er tat. Er ist da nicht reingestolpert oder hatte eine Kurzschlusshandlung. Ein Teil von mir bestaunt das und respektiert seine Entscheidung. Ich widerspreche ihm nicht, er hat eine Entscheidung getroffen und ich halte ihn für einen smarten Typen. Ich versuche damit meinen Frieden zu machen. Aber es ist hart.“

Dabei geholfen hat ihm sicherlich seine Frau, mit der er seit dem Jahr 2019 verheiratet ist. Insgesamt sind die beiden sieben Jahre zusammen. Nun ist Frank Turner nicht gerade für Lovesongs bekannt. Nicht mal eine Handvoll davon kann auf den insgesamt neun Alben gefunden werden. In der Popmusik geht es häufig um den einen großen Moment. „Der erste Kuss, der Hochzeitstag, solche großen Ereignisse. Das passiert aber nur einmal. Rauszufinden, wie zwei Menschen über eine lange Zeit zusammenleben können, ist etwas anderes und nach meiner Erfahrung können Beziehungen nur überdauern, wenn Kompromisse gefunden werden“, erklärt Frank den Song „The Work“, indem es um die Liebe zu einer Person während des Alltags geht. Die gemeinsame Wäsche waschen und nicht nur die eigene, dem anderen zuhören, die Verwandten auf einer Familienfeier ertragen. Das klingt langweilig, ist aber so viel näher an der Realität und „so viel mehr wert, als ein hübsches Mädchen um 3 Uhr morgens in einem Club zu küssen.“

Und schließlich ist da der zweite Song (der dritte befindet sich lediglich auf der Deluxe Version) über die Beziehung zu Franks Vater, die sich in den letzten Jahren zum Positiven geändert hat. Das Stück trägt den Titel „Miranda“ und beginnt mit den Zeilen: „My father is called Miranda these days. She’s a proud transgender woman. And my resentment has started to fade. Because it was never about who she was. Just the way that he behaved. And now my father is Miranda and we’re ok.” Der Mann, der kein Verständnis für Franks Lebensentscheidungen hatte, war vielleicht nur so, weil er mit sich selber nicht zufrieden war. Das hat sich nun geändert. Frank nennt Miranda weiterhin „seinen Vater“, aber nur, weil er bereits eine Mutter hat (und es für Miranda okay ist) und ist dabei, seinen Frieden mit ihr zu machen. „Das ist nicht etwas, was von einem Tag auf den anderen passiert“, erklärt Frank, „aber es ist fast schon lustig, es gibt immer noch Hunderte von Sachen, über die wir uns streiten. Gar nicht mal so sehr über das, was in der Vergangenheit passiert ist. Sie kann mich echt zur Weißglut bringen, wie niemand anderes es schafft. Letztens kam sie zu Besuch. Vorher telefonierte ich mit meiner Schwester, die meinte, ich sollte eine Menge Wein zu Hause haben und jedes Mal, wenn eine Meinungsverschiedenheit drohte, eine neue Flasche öffnen. Das habe ich getan und es hat funktioniert. Also, wir sind mittendrin und es wird besser.“ Wie alle Stücke auf FTHC spiegelt auch „Miranda“ Franks persönliche Sicht wider. Auf Konzerten wird laut gejubelt, wenn Frank das Lied auf der Bühne kurz erklärt, was eindeutig für ein tolerantes Publikum spricht. Obwohl es Franks Geschichte ist, die er erzählt, kann auch „Miranda“ deswegen als gesellschaftlich relevant angesehen werden. Das sieht Frank allerdings nicht so: „Der Song spiegelt meine Wahrheit wider – das ist es, was mir passiert ist. Und ich bin glücklich, wie sich die Dinge entwickelt haben. Ich habe eine bessere Beziehung zu meinem Vater. Es kann und darf nicht meine Aufgabe sein, ein Sprachrohr für Transgenderrechte zu sein. Das wäre verkehrt. Ich möchte auch auf keinen Fall für meinen Vater sprechen. Sie hat ihre eigene Stimme.“

„Miranda“ ist (im Gegensatz zu „Fatherless“) kein wütender Song, im Gegenteil, es schwingt viel Mitgefühl, Vergebung und eine Hoffnung auf bessere Zeiten darin mit. „In all the years that we have left. Let’s be our best selves, and let’s be friends. I’ll be me, promise me that you’ll be you. Oh, Miranda, it’s lovely to meet you”, textet Frank voller Vorfreude darauf, einen neuen Menschen kennenzulernen. Nun wird er auch zu Mirandas Beerdigung gehen. „Das Wort, das ich mag, lautet Akzeptanz“, sagt Frank Turner zum Abschluss unseres Gespräches. Es ist vielleicht das Schönste, wenn nicht sogar das einzige Gute am Älterwerden, eine gewisse Gelassenheit und eben akzeptieren, dass die Dinge im dauerhaften Wandel sind. Schließlich kommen wir noch einmal auf unsere gemeinsame Lieblingsband The Hold Steady zurück. Frank spielt auf das Stück „First Night“ an: „Du versuchst immer wieder diesen einen Moment wiederzufinden, als du eine Sache zum ersten Mal gemacht und sich das verdammt gut angefühlt hat. Aber das kommt nie mehr zurück. Und das musst du akzeptieren. Darüber geht es auch auf dem Album. Das ist alles, was ich gelernt habe, in meinem ganzen Leben“, sagt er lachend und muss schon zum nächsten Interview. Und das ist mehr, als so manch anderer im Leben gelernt hat.

Text & Interview: Claas Reiners

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