Januar 28th, 2024

»Cancel Culture« Ende der Aufklärung? – Ein Plädoyer für eigenständiges Denken, Julian Nida-Rümlin

Posted in bücher by Dolf

Piper, Damaschkestraße 4, 10711 Berlin, www.piper.de

Wenn man sich so ansieht, was die meisten Leute so eigenständig denken, dann kann ein Plädoyer dafür ja eigentlich nicht hilfreich sein. Natürlich meint es der Autor gut und hat ein bestimmtes Bild vom eigenständigen Denken vor Augen. Nämlich das, welches sich rational aus den Erkenntnissen von Humanismus, Aufklärung und der Geschichte speist – vereinfacht gesagt. Leider ist es aber nicht so einfach – sondern ganz anders. Letztendlich ist es nämlich so, das „Cancel Culture“ überhaupt nichts neues ist, sondern schon immer von den Menschen gern praktiziert wurde und zwar seit jeher. Das wird sehr gut am Ende in „Eine kleine Kasuistik“ von Nathalie Weidenfeld dokumentiert, dort stellt sie unterschiedliche Fälle von „Cancel Culture“ aus verschiedenen Zeiten und Kulturen vor.

Also alles wie so oft „alter Wein in neuen Schläuchen“? Psychologisch gesehen wahrscheinlich, nämlich das – oftmals jüngere Menschen – der vollen Überzeugung sind mit ihrer Meinung oder den Ansichten – im Recht zu sein und das andere Ansichten unmenschlich, diskriminierend und über griffig sind und deshalb nicht zu Wort kommen dürfen oder gar eliminiert gehören. Oftmals haben sie damit auch recht, aber eben nicht immer. Und das man andere Ansichten und Meinungen auch mal einfach aushalten muss – leider – ist eine Erkenntnis die bei vielen nicht sonderlich beliebt ist. Aber, es handelt sich hier ja nicht um ein psychologisches Buch, sondern um ein philosophisch-wissenschaftliches, das seinen Beitrag dazu leistet zu erklären warum „Cancel Culture“ auch die Demokratie gefährdet. Abgesehen von der Kasuistik am Ende gibt es vier große Kapitel: „Cancel Culture in unterschiedlichen Theorien“, „Erkenntnistheoretische Aspekte der Cancel Culture“, „Demokratietheoretische Aspekte der Cancel Culture“ und „Politische Urteilskraft als Alternative zu Cancel Culture“ Wie man erkennen kann, handelt es sich bei dem Buch um keines in einfacher Sprache, hin und wieder ist es auch kurz davor abgehoben wissenschaftlich zu werden, aber das führt zum Glück nicht so weit, das man davon abraten muss. Aber, außer das hier sehr viel Wahres sehr überdacht nochmal mitgeteilt und analysiert wird, gibt es am Ende auch wenig wirklich neues. Viel politische Theorie um die Demokratie und was alles von Nöten ist um diese zu erhalten und was eben schadet, unter anderem: Intoleranz, Ignoranz, Hetze und Diskursverweigerung.
Aber man muss auch bedenken: „Demokratie ist kein Projekt der Aufklärung. … Es gibt keine Wahrheit in der Demokratie, sondern lediglich Interessen. Politische Urteilskraft ist für sie irrelevant.“ und auch das ist prima erkannt: „Das kann zu gravierenden kognitiven Dissonanzen führen, wenn die Intelligenz nämlich ausreicht zu erkennen, dass eine bestimmte Behauptung falsch ist, dass aber zugleich das Interesse daran, dass diese Behauptung zutreffend ist, diese Erkenntnis blockiert. Die Person hält dann bestimmte Sachverhalte für richtig, die für diese Behauptung sprechen, und weigert sich zugleich, die Richtigkeit dieser Behauptung anzuerkennen. Die von jeher bestehende Aversion gegen das Projekt der Aufklärung, also das Vertrauen auf den Vernunftgebrauch und die Beteiligung daran, ist wohl zu wesentlichen Teilen darauf zurückzuführen. Aufklärung zerstört lieb gewonnene Gewissheiten, die kritischer Prüfung nicht standhalten.“ Und das ist das menschliche Hauptproblem, da nützt all das wohlmeinende Gerede wenig, unabhängig wie professionell formuliert, intellektuell und gut gemeint es ist. Vielleicht sollte man von anderen Menschen nicht verlangen was man selbst nicht im Stande ist zu leisten? Oder vielleicht nicht – sonst geht ja alles noch schneller den Bach runter. Irgendwie drifte ich immer wieder ab, liegt wahrscheinlich doch am Stil des ehemaligen Kulturstaatsministers. Dennoch, inhaltlich sehr gut, aber irgendwie „muss“ man es auch nicht lesen. 186 Seiten, Gebunden, 24,00 Euro (dolf)

Isbn 978-3492071796

[Trust # 223 Dezember 2023]

Both comments and pings are currently closed. RSS 2.0