Dezember 31st, 2023

Booze Cruise (#216, 2022)

Posted in artikel, interview by Thorsten

Urlaub fürs Gehirn auf einem Booze Cruise

Ein paar Wochen vor dem Festival war die größte Befürchtung von Veranstalter Stefan die mögliche Absage von Bands, für die das BOOZE CRUISE Festival in Hamburg der Abschluss einer Tournee darstellen sollte und die dann aufgrund einer Coronainfektion während der Tour nicht mehr spielen könnten. „Es gibt aber keinen konkreten Plan B“, stellt Stefan klar, „sollte es eine Headliner-Absage geben, ist das eben so. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Leute wegen einer Band kommen. Sollten zum Beispiel LAGWAGON absagen, dann spielen immer noch 70 andere Bands und es geht ja darum, ein Festival-Wochenende zu erleben.“

So kam es schlussendlich auch. SPANISH LOVE SONGS, für viele sicherlich schmerzhaft, waren gar nicht erst aus den USA aufgebrochen. Somit blieb auch der Toursupport KALI MASI (siehe TRUST # 207) gleich mit zu Hause, auf deren Auftritt ich mich besonders gefreut hatte. WORRIERS und PRIMETIME FAILURE (siehe TRUST #198) sagten auch mehr oder weniger kurzfristig ab. Und das zweite Set von SHELLYCOAT konnte während des Festivals ebenfalls nicht mehr stattfinden. Das sind im Verhältnis zum Line-Up schon relativ große Namen, aber beim Booze Cruise handelt es sich um ein Festival und es gibt mehr als ein oder zwei Headliner zu entdecken. Das empfindet Stefan übrigens genauso: „Wenn es so weit kommt“, sagt er bezogen auf mögliche Absagen im Vorfeld, „müssen wir das dann sehen. Es gibt eh keine Garantie, dass du in den Laden reinkommst, in der eine Band spielt. Die meisten Leute freuen sich auf das Wochenende. Bis jetzt hat auch kaum jemand gefragt, wann welche Band spielt. Etwas Bauchschmerzen habe ich aber schon, bis jetzt ist immer kurz vorher eine Bombe geplatzt. Und die Wahrscheinlichkeit, dass das dieses Jahr wieder so kommt, ist einfach größer als sonst eh schon. Mir ist es aber erst mal egal, wer spielt, solange es überhaupt stattfindet.“

Viel schwerwiegender wog im Vorfeld für mich J’s krankheitsbedingte Absage. J. ist mein ältester Freund und wir haben uns pandemiebedingt zwei Jahre nicht gesehen. Dieses Wochenende sollte so was wie unsere Wiedervereinigung und Comeback in einem werden. J’s Nachname ist übrigens identisch mit dem des Typen, der sich hinter THE HOMLESS GOSPEL CHOIR verbirgt. Da gibt es diesen Song, „Normal“ von denen, in dem es heißt: „I found my escape in that Green Day tape“, da steckt für mich eine Menge Wahrheit drin. Denn J. war es, der mich damals auf GREEN DAY brachte und meinte, es sei eine aufregende Band. Ich weiß gar nicht mehr, was ich vorher gehört habe, vermutlich nur das, was ich von meinen Eltern kannte. Ohne ihn wäre ich also womöglich nie zum Booze Cruise gefahren und hätte schon gar nicht an dieser Stelle darüber geschrieben. Hier ist sie also, die nackte Wahrheit der Punkfindung. Natürlich würde ich an dieser Stelle lieber behaupten, dass es TEEN IDOLS, FUGAZI, HÜSKER DÜ oder NO MEANS NO waren, die mein Leben veränderten. Aber nein, diese Bands waren praktisch schon aufgelöst oder inaktiv, hatten jedenfalls für zwei Jungspunde vom Land (zunächst) keine Relevanz. Im Gegensatz zu GREEN DAY. Die bedeuteten einen Sommer lang alles. Die Qual der späten Geburt eben.

Und dann überwog ewig die Vorfreude. Im Grunde war es eine zweieinhalb Jahre andauernde Vorfreude. Ich erinnere mich noch an die Bestätigung von HOT WATER MUSIC im Februar 2020, da rief ich gleich J. an und wir freuten uns wie Bolle. Das letzte Mal hatten wir uns vor der Pandemie bei HOT WATER MUSIC in Berlin gesehen. Schon am Tag nach der Ankündigung wurde ich krank, ein fieser, nicht verschwinden wollender Husten plagte mich über Wochen. Mein Lieblingsrotwein schmeckte plötzlich nicht mehr und ich überwürzte jedes Essen, weil ich fand, es befand sich kein Geschmack daran. Da hätte schon was geahnt werden können, wäre ich bloß zum Arzt gegangen. Etwa einen Monat später befanden wir uns kollektiv im Lockdown. Die erste Absage des Festivals wurde am 17. April 2020 bekannt gegeben. Es war ein warmer Frühlingstag und ich fuhr aus der Kurzarbeit direkt an den See raus, als die Meldung eintrudelte. Es war nicht überraschend, sondern hatte sich über die Tage angekündigt. Trotzdem fragte ich mich, wie lange das wohl noch alles andauern wird.

Nachdem im darauffolgenden Sommer, trotz Inzidenzen im einstelligen Bereich, eine Veranstaltung dieses Ausmaßes nicht möglich war, unternahm die Booze Cruise Crew im Winter 2021 einen erneuten mutigen Versuch. Dazwischen, besonders im ersten Pandemiejahr fanden mehrere Online-Events, die sogenannten Boatless Booze Cruise statt, eine unregelmäßig stattfindende Streamingveranstaltung, bei welcher mir vor allem die erste Auflage in guter Erinnerung geblieben ist. Im Gespräch mit Stefan schwärme ich im Nachhinein beinahe von dieser Zeit, weil es eine der ersten Veranstaltungen in der neuen Normalität war, die Leute entgegen oftmals anders verlautbarenden Meinungen bereit waren, „Eintritt“ zu zahlen und vor allem, weil das Zusammenhaltgefühl, welches auch während des echten Festivals überall gegenwärtig ist, an diesem Tag zu spüren war. So was ist natürlich kein Ersatz für eine richtige Veranstaltung, war an diesem Tag aber so nah dran, wie es die Umstände eben zuließen. Und hey, ich weiß jetzt, wie es bei Kirsty und Cory Call im Wohnzimmer aussieht! „Ich fand es cool, als die Leute Fotos geteilt haben, wie sie auf dem Sofa sitzen und Bier trinken.“ In ihren schönen und toll eingerichteten Wohnungen, muss ich neidlos anerkennen. Manche Menschen haben einfach Geschmack. „Genau, super eingerichtet. Und sie haben sich zum Shottrinken verabredet. Da kam so was wie eine Festivalstimmung auf. Hätte ich gar nicht erwartet, hat aber Spaß gemacht.“ Immerhin kamen so durch Spenden knapp 16.000 Euro zusammen, „Das Geld haben wir dann den Clubs in Hamburg und Bristol gespendet.“ In Bristol findet das Schwesterfestival statt, auf dem nicht zwingend ein identisches Line-Up auftritt.
Trotzdem ist es natürlich gut, dass nun wieder richtige Konzerte und das sechste Booze Cruise möglich sind. Denn obwohl das Booze Cruise 5 schlussendlich nie stattfand, hatte die Crew keine Lust mehr auf das alte Design und auf die insgesamt dreimal verschobene fünfte Auflage. „Wir dachten, die Nummer ist verhext. Das ist jetzt abgehakt und es geht mit dem sechsten Festival weiter.“

Nach der Vorfreude folgt jedoch – zumindest bei mir ist das häufig so und um mich soll es hier ja auch gehen – unweigerlich kurz vor Aufbruch, ein Einbruch. Zu müde, zu kaputt, zu viel zu tun, noch andere Dinge zu erledigen. Corona ist aus dem Kopf vielleicht doch noch nicht verschwunden oder die Zeit der Streaming Konzerte hat träge gemacht. Da sind feste Absprachen und vor allem Verabredungen nötig, um den Hintern hochzubekommen und sich aufzuraffen. Verabredet bin ich, jetzt wo J. nicht mehr dabei sein kann, seit Wochen mit S., die mich das ganze Wochenende begleiten wird und bei der ich in diesen Tagen unterkomme. Einmal unterwegs fällte diese Last dann zum Glück ziemlich schnell wieder ab und macht Platz für eine zweite Vorfreudewelle.

Das mit dem unterwegs sein ist allerdings immer so eine Sache, wenn das Verkehrsmittel der Wahl die Bahn ist. Natürlich haben alle Züge Verspätung. Das passiert halt mal. Aber für die Bahn scheint der Freitag jede Woche aufs Neue überraschend zu kommen. Das schlimmste sind ja nicht mal die Verspätungen, sondern der mangelnde Informationsfluss, lohnt es sich zu warten oder wäre eine andere Verbindung vorteilhafter? Kommt ein weiterer regulärer Zug vielleicht ein paar Minuten später an, ist aber leerer und damit angenehmer? Kurz überlege ich, ein teures ICE Ticket zu kaufen für einen Zug, der zwar auch verspätet ist, aber wohl früher abfährt und eigentlich früher ankommen müsste. Aber das geht nicht mehr, der Bahn-App sagt, die Verbindung ist ausverkauft. Hatte ich noch nie, finde ich im Prinzip aber gut, nur so viele Tickets zu verkaufen, wie Plätze im Zug verfügbar sind. Aber warum ausgerechnet jetzt?
Irgendwann kommt dann ein Zug. Der bringt mich zwar nur bis Harburg statt zum Hauptbahnhof, aber immerhin. Ich schreibe S. wann ich jetzt wo ankomme (Landungsbrücken). Sie schreibt zurück, ich solle mich nicht über Dinge aufregen, die ich nicht ändern kann. Recht hat sie. Aber trotzdem, 9 EUR Ticket hin, 9 EUR her, so wird die Verkehrswende nicht funktionieren, wenn das Auto immer die kostengünstigste und vor allem zuverlässigste Transportmöglichkeit bleibt. Schließlich rollt der Zug und das Bord-W-lan funktioniert nicht und auch das mobile Netz lässt mich streckenweise hängen. Das nächste Zukunftsproblem also. S. Rat folgend versuche ich mich nicht aufzuregen und zum Glück hilft das gute alte (gedruckte) Buch, die Zeit bis zum ersten Bier zu überbrücken. Im Regionalzug darf ja nicht mehr getrunken werden, was ich ziemlich beschissen finde, denn es gibt nichts Schöneres als ein Konzertvorfreudebier oder wahlweise ein klassisches Feierabendbier im Zug mit der vorbeiziehenden Landschaft. Nun gut, mit der nach wie vor (sinnvollerweise) bestehenden Maskenpflicht in den Zügen, ist das mit dem (heimlich) Biertrinken noch aufwendiger geworden als es eh schon ist. Eine neue Nachricht von S. trifft ein. „Es finden an diesem Wochenende die Harley Davidson Tage in Hamburg statt.“ Das kann ja was geben, denke ich, Punks gegen Rocker.

Vielleicht noch ein paar Worte zum Festival, wer es nicht kennen sollte. Das Booze Cruise ist ein de-zentrales Festivals mit unterschiedlichen Spielorten, eigentlich immer fest dabei sind das Molotow und Hafenklang und, sonst wäre es kein Cruise, mindestens ein Schiff, dieses Mal die MS Tonne, auf die wir es nicht einmal schaffen werden. Insgesamt finden zwischen 60 bis 90 Konzerte aus dem breiten Spektrum des Punkrocks statt. Allerdings wurden bisher überwiegend englischsprachige Bands gebucht. Das ist dieses Jahr unter anderen mit DÜSENJÄGER (siehe TRUST #181), die schon im Winter spielen sollten, etwas anderes. „Ich höre nicht so viel deutschsprachige Musik“, erklärt Stefan, „und die anderen, die das Festival mitplanen, eigentlich auch nicht. Das hat sich bisher nicht so richtig ergeben, aber DÜSENJÄGER finde ich großartig. Die Zeit war jetzt mal reif. Wir hatten auch mal AFFENMESSERKAMPF, aber es sind immer nur ein oder zwei Bands. Eher die Ausnahme.“

Endlich bin ich auf St. Pauli angekommen. Die Harleys sind auf dem Weg zum ersten Konzert an der Reeperbahn aufgereiht. Ich singe so laut S. es mir durchgehen lässt: „We are the Mods“, aber niemand von den Zweiradbesitzern, die alle in den langweiligen und überteuerten Kneipen in der Sonne sitzen, kapiert es. Können sie wahrscheinlich nichts mit anfangen. Seis drum. Ich frage mich nur, warum mich beim Anblick der schön aufgereihten Motorräder der Drang überkommt, die erste Maschine umzuwerfen? Das wäre bestimmt ein schönes Bild und das Entsetzen der Leute vermutlich unvergesslich. Gut, danach hätte ich nicht nur ein großes Problem, sondern gleich mehrere, also gehe ich nur brav, aber singend weiter. So viel Punk oder eben Mod muss dann doch sein. Irgendwie kindisch, aber trotzdem lustig, finde ich wenigstens.

S. und ich schaffen es rechtzeitig (aber so gerade) zu DOLLARS FOR DEADBEATS (siehe TRUST #209) und ich wundere mich über die Spielfreude und Energie, die Kirsty und ihre Jungs auf die Bühne bringen, viele Möglichkeiten live zu spielen gab es in den letzten Monaten und Jahre ja nicht. Aber die Band wirkt eingespielt, als wäre sie gerade am Ende einer langen Tour angekommen. Auch für S. ist es eine der ersten richtigen Punkshows in einem kleinen Club seit Ewigkeiten und es fühlt sich gut an wieder so etwas spüren zu können. Das war schon mal ein super Einstand. Kirsty sagt, als ich sie auf die Spielfreude anspreche: „Wir haben uns zu fünft (inklusive Equipment) 10 Stunden lang in ein Auto gequetscht, um eine Show zu spielen. Ich denke, daran kann man erkennen, wie sehr wir Bock auf dieses Festival hatten! Der Auftritt hat Riesen Spaß gemacht! Ein Freund hat uns nach der Show darauf angesprochen, dass wir alle fünf wohl ohne Pause gegrinst haben, als wir auf der Bühne standen. Booze Cruise 2023 kann gar nicht schnell genug kommen!“

Nach dem Konzert treffe ich auf Roland. Roland schreibt seit Kurzem fürs TRUST und hatte in der #214 ein unterhaltsames Interview mit THE DEAD END KIDS geführt. Wir quatschen über dies und dass, wie das in den Pausen zwischen Konzerten so ist, bis TIGERS JAW im Molotow Backyard beginnen, der sich in den letzten Minuten gut gefüllt hat. Draußen trägt niemand eine Maske und auch in den Innenräumen wird auf den Basisschutz überwiegend verzichtet. Roland und S. bilden da die Ausnahme. Im Anschluss spielen THE CAROLYN ihr erstes von vielen Sets an diesem Wochenende. Und dann stand die wirklich einzige große und wichtige Entscheidung des Wochenendes an. Normalerweise gibt es auf dem Booze Cruise kaum Überschneidungen. Und wenn doch mal, ergibt sich in der Regel die Chance, eine Band ein zweites Mal am Wochenende, in einem anderen Club zu sehen. Sollen wir zum einzigen DÜSENJÄGER Gig im Hafenklang. Oder bleiben wir für PRESS CLUB im Molotow. Eine der wenigen Bands, die Veranstalter Stefan übrigens „unbedingt sehen will.“ Abgesehen davon stehen noch folgende Bands auf seinem Wunschzettel. „CHAIN CULT (siehe TRUST #196), die Platte finde ich so großartig. Und LAGWAGON im Molotow Backyard, da will ich mal sehen, wie das so ist mit 500 Leuten“, zählt Stefan seine Top 3 auf.

Roland, S. und ich entscheiden uns schließlich dafür bei PRESS CLUB im Molotow zu bleiben. Einfach aus dem praktischen Grund, dass die Wahrscheinlichkeit, die Australierin und Australier nicht so schnell wiederzusehen größer sind. DÜSENJÄGER werden wir sicherlich eher zu fassen bekommen. Zum ersten Mal wird bei PRESS CLUB vor der Bühne gesprungen, allerdings lehrte sich das Backyard nach TIGERS JAW und wir haben erstaunlich viel Platz um uns rum. Da werden sich doch einige für DÜSENJÄGER entschieden haben. Und es gibt wirklich immer noch Anhänger der Turbojugend! Einer von ihnen steht bei dem Auftritt von PRESS CLUB vor mir. Den Ort habe ich vergessen, keine Stadt, eher ein Dorf oder ein Landkreis. Habe ich nie verstanden, wie ein Mensch auf diese Uniformierung stolz sein kann. Die Harleyfahrer (es sind wirklich fast ausschließlich Männer und die wenigen Frauen fahren nicht selbst, sondern sitzen hinten drauf) draußen sehen auch alle gleich aus, schwarzes Harley T-Shirt, Weste, Bandana oder andere Kopfbedeckung, eher untersetzt und muskulös, tätowiert. S. wirft ein, dass die Gäste auf dem Booze Cruise ebenfalls alle den gleichen Stil haben, was zu einer unterhaltsamen Diskussion zwischen uns führt, denn das empfinde ich nicht so. Wir einigen uns schlussendlich auf fünf unterschiedliche Booze Cruise Typen*innen, die aber unser Geheimnis bleiben. Nur so viel, wir passen auch in jeweils eine, aber nicht in die hochgezogenen Socken zu kurzer Hose Kategorie. Wir gehören sowieso zu den wenigen, die eine lange Hose am Wochenende anhaben. Und Bärte tragen wir beide ebenfalls nicht. Aber es stimmt schon, Subkulturen sind sich vielleicht gar nicht so unähnlich, wie wir uns das gerne manchmal wünschen. So, nun aber, auf ins Hafenklang. Roland ist schon da.

GOOD RIDDANCE fangen fünf Minuten später an als angekündigt, weil Hall fehlt oder irgendwas auf den Monitoren, aber der Bassist sabbelt derweil was von Punkrock. Nennt mich spießig, aber ich finde Unpünktlichkeit unhöflich. Vielleicht sind die Bandmitglieder auch einfach müde von dem ersten Gig auf dem Schiff am Nachmittag. Auch in dem begleitenden Festivalbüchlein mit Interviews und Kurzvorstellungen der Bands, wirken GOOD RIDDANCE eher lustlos. Die Musik ist dann auch irgendwie Alt-Herren-Punk. Dabei waren GOOD RIDDANCE ja durchaus mal wichtig in der eigenen Entwicklung, nachdem innerhalb eines Jahres der Sprung von GREEN DAY zu NOFX und dann eben zu GOOD RIDDANCE stattgefunden hatte. Politik und Themen wie Vegetarismus fanden zum ersten Mal (auch) mit GOOD RIDDANCE statt. Russ Ranking steht am Bühnenrand und predigt seine Texte runter, denn so fühlt es sich an – wie ein Punkprediger. Aber die Band lebt von der Euphorie des Publikums und sogar draußen vor dem Hafenklang bildet sich eine lange Reihe mit Menschen, die noch reinwollen. Da mache ich bereitwillig Platz. S. ist da schon länger draußen und genießt den Blick auf den „Fluss unten am Hafen, da wo die großen Schiffe schlafen.“ Roland hingegen fand das Konzert großartig, schrieb er noch in der Nacht.

Den Abend beschließen S. und ich schließlich mit einem OFFSPRING-Coverset von CHARTREUX (siehe TRUST #210), welches alles beinhaltet, was Punkrock in seinen besten Momenten ausmacht. Es war laut, wild, schwitzig, euphorisch, spontan und auch ein bisschen gaga. Die Band hat wirklich unglaublich viele Hits, deren Texte sich tatsächlich so halbwegs ins Hirn gebrannt haben. Vielleicht liegt es am Alkohol oder an der allgemeinen Euphorie, aber so viel Spaß hatte ich während eines Konzertes schon lange nicht mehr. Eigentlich total bescheuert bei all den Bands, die dargeboten werden. Aber ich bin damit nicht alleine und selbst S., die ganz sicher nie und nimmer jemals in ihrem Leben OFFSPRING gehört hat (wirklich – oder auch nicht, wer weiß) wirkt zufrieden. Aiko von CHARTREUX sagt: „Man sollte viel häufiger die Dinge nicht so ernst nehmen und einfach Spaß haben. Noch mal 14 sein… Offspring ist eine dieser Bands, bei der niemand zugeben würde, die je ernsthaft gehört zu haben. Dafür war es bei unserem Cover-Set allerdings brechend voll und die Leute unfassbar textsicher. Glück für uns. Wir haben nämlich wirklich nie Offspring gehört.“

Am Samstag nimmt der Bus von LAGWAGON den gesamten Platz vor dem Molotow ein und wirkt auf diesem Festival, in dieser Dimension irgendwie deplatziert. Alleine der Anhänger mit dem Merch und dem Equipment ist größer als so mancher Bus/Van von den restlichen Bands. Manche tragen ihre Instrumente gar zu Fuß über die Reeperbahn ins Molotow.

Ansonsten steht für uns der Tag im Zeichen von Gunner Records. Das Label feiert sein 15. Geburtstag und Chef Gunnar verschenkt und verkauft persönlich Platten. Abwechselnd werden an diesem Tag bis abends die Backyard- und die Club-Bühne von Gunner Records Bands bespielt. Stefan scheint ein Fan von dieser Musik zu sein: „Scheinbar haben wir einen sehr ähnlichen Musikgeschmack“, sagt er, „und die Bands, die ich gerne buchen möchte, bringen Platten bei Gunnar raus und andersrum. Da sind immer unbewusst Überschneidungen.“

Doch zunächst findet an diesem Nachmittag die Pineapple Party statt, in der ein selbstkreierter Cocktail aus einer ausgehöhlten Ananas geschlürft wird, untermalt von akustischen Sets von Kirsty & Cory Call von DOLLARS FOR DEADBEATS und LITTLE TEETH und Jeff Rowe. Beim Set des Bostoner Jeff Rowe ist S. in die Stimme und Musik schockverliebt. Strahlende Augen und ein staunender Mund. Andächtig lauschen wir gemeinsam der halben Stunde Musik in der brütenden Mittagshitze. Kirsty & Cory covern „Time of your life“ von GREEN DAY und S. macht ein Video wie ich mitsinge. Das darf nie jemand sehen!

Irgendwann spielen endlich CHARTREUX ihr eigenes Konzert, welches genauso energetisch und wild ist wie das gestrige OFFSPRING-Coverset, mit dem Unterschied, dass die eigenen Lieder einen ernsteren Ton anschlagen, vielleicht mehr Tiefgang besitzen und dann leider der Mitsingfaktor nicht so hoch war. Da kommen CHARTREUX bei der Qualität ihrer ersten E.P. aber noch hin. Zumindest wenn es eine gerechte Welt gibt. Es ist heiß im Molotow und es wird während des Auftrittes noch heißer. Aiko hat das nichts ausgemacht: „Das hat sogar noch mehr Spaß gemacht, als es heiß in dem Laden war… Für uns war es ein absolutes Highlight, bei diesem Booze Cruise vor ganz vielen alten und neuen Freunden zu spielen und in knapp 30 Minuten viel von dem nachzuholen, was in zwei Jahren Pandemie nicht möglich war.“ Für mich ist der Auftritt von CHARTREUX – nun ja, überraschend wäre das falsche Wort, hatte ich die Leipziger doch letztes Jahr Coronakonform live gesehen – das Highlight des Festivals. Wild und harmonisch gleichermaßen, vier Gesangsstimmen, eine perfekte Mischung aus Punkmelodien und Hardcoreverständnis.

Direkt im Anschluss beginnen THE HIGH TIMES (siehe TRUST #210), eine der ersten Bands, die mir auf Platte bisher besser als live gefielen. Vielleicht ist es aber auch einfach an der Zeit mal rauszugehen und eine musikalische Pause einzulegen. Zum Essen machen wir aber tatsächlich den Fehler und verlassen das Molotow. Die Harleys cruisen über die Reeperbahn. Das ist wirklich anstrengend und nervig. Glauben diese Typen wirklich, irgendwie cool zu sein, mit laut knatternden Motoren (klingt wie ein Furz) an- und hin und her zu fahren? Auch ansonsten habe ich das Gefühl, dass die Reeperbahn immer schlimmer wird, selbst wenn das jetzt wie ein meckernder Opa klingen mag. Uns kommen diverse Junggesellen*innen entgegen und eine*r ist abschreckender als der/die Nächste. Deshalb schnell wieder zurück in unsere Blase. Denn so traurig es ist, so wie die Motorradfahrer aus ihrem Alltag fliehen, sind sie uns im Grunde nicht unähnlich. Nur halten wir uns nicht für cool und gehen niemanden anderen auf die Nerven, das ist vielleicht dann doch der große Unterschied. Awareness ist uns ein Begriff. Warum allerdings immer öfter englische Wörter benutzt werden müssen, erschließt sich mir nicht. Bewusstsein sollte eigentlich auch funktionieren. Egal, mehrere Bands weisen auf der Bühne daraufhin. Meistens sind es Typen, die das ansprechen. Dabei glaube ich, es gibt kaum ein aufmerksameres und höflicheres Publikum als auf dem Booze Cruise. An engen Stellen wird bereitwillig Platz gemacht oder durchgelassen und sich anschließend bedankt. Und obwohl das Festival Booze Cruise heißt, scheinen alle im Publikum mit Alkohol umgehen zu können.

Rechtzeitig zu LITTLE TEETH sind wir zurück. Die Band ist mittlerweile nur noch zu dritt und S. wird später feststellen, nachdem sie die Platte gehört hat, dass sie die Musik auf dem Album besser findet, da waren LITTLE TEETH noch zu viert. Der Dreier spielt sich hauptsächlich durch die Heartlandpunk-Songs ihres bislang einzigen (und sehr guten) Albums „Redefining Home“, immerhin gibt es ein neues Stück. Wird höchste Zeit, dass da mal Neues kommt. Denn wie bei den meisten Gunner Records Bands habe ich das Gefühl, würde eine von ihnen mal die Chance auf eine größere Supporttour bekommen, würde eine Band wie LITTLE TEETH nicht im gutgefüllten Molotow spielen, sondern das Festival ganz sicher headlinern. Das Cory mit einer außergewöhnlichen Stimme gesegnet ist, sollte spätestens nach dem Auftritt jede*m bewusst sein.

Die Mitglieder von ARTERIALS (siehe TRUST #192) sind bereits den ganzen Tag auf den Beinen und haben sich diverse Shows angeschaut. Um 19:00 Uhr sind sie endlich selber dran und brettern wie ein Berserker los. Mir gefallen die etwas melodischeren und gesungenen Stücke etwas besser als die Hardcorebrecher von den beiden Alben, aber das Set ist ausgewogen. Beim letzten Song schmeißt (Gitarrist) Jens sein Instrument auf den Boden und lässt sich auf die Bühne fallen. Ein gutes Ende eigentlich, so denke ich. Aber wenige Augenblicke später schnalle ich, es geht ihm wirklich nicht gut. Ich fühle mich genau vor ihm stehend, wie ein Voyeur, während seine Bandmitglieder sich um ihn kümmern. Deshalb schnell nach draußen. Am nächsten Tage frage ich, was los war, „halt eine Mischung aus unfassbarer Hitze und Überarbeitung? Ich habe die ganze Woche von früh bis spät mit irgendwas zu tun gehabt, was mit der Vorbereitung des Festivals zu tun hatte und dann natürlich beim Festival schon zwei Tage ab 9 Uhr gearbeitet“, aber es ging ihm am Abend schon wieder besser.

ARTERIALS waren die letzte Gunner Band des Tages und somit irgendwie auch ein Headliner. Mitglieder dieser Band und auch Aiko von CHARTREUX spielten früher gemeinsam bei TACKLEBERRY. Eigentlich wäre es mal Zeit für eine kurze Wiedervereinigung an einem Booze Cruise Tag, gemeinsam mit allen Nachfolgebands. Ganz abgeneigt scheint Stefan von meiner Idee nicht zu sein. „Das sind eine Menge. Alleine mit den Bands, in denen Hannes spielt, könntest du einen ganzen Abend füllen“, sagt er nachdenklich. Mir gefällt der Gedanke, denn auch hier gibt es so was wie die Qual der späten Entdeckung, der zu späten.

Draußen im Backyard machen LAGWAGON, was LAGWAGON eben so machen. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass sie etwas aus der Zeit gefallen sind. Natürlich ist der Platz hinterm Molotow rappelvoll, wie viel davon allerdings einer gewissen Nostalgie geschuldet ist, kann ich nicht klären. Bei S. und mir ist Luft erst mal raus. Vielleicht haben wir zu früh angefangen zu trinken. Keinesfalls war es zu viel. Vielleicht sind wir in den letzten zwei Jahren älter geworden, als wir es uns eingestehen wollen. Und Punkrock ist ja immerhin ein jugendliches aufbegehren und war eigentlich nie fürs Älterwerden gemacht.

Während wir kaum aus dem Molotow rausgekommen sind, verbrachte Roland den größten Teil des Tages im Hafenklang und dort passierte folgendes:
Am Samstag spielten im Hafenklang die wohl etwas anderen Bands dieses Festivals und boten eine überaus gelungene Ergänzung zu den das Wochenende dominierenden melodisch-punkigen Combos. Als erste auf Zettel waren STALLED MINDS aus Frankreich, bestehend aus ¾ YOUTH AVOIDERS. Musikalisch ging es deutlich garagiger zur Sache als bei ihrer Hauptband, und die Vocals überraschten durch teilweise melodische Gesangsparts. Das war ein schöner Einstieg für das, was noch folgen sollte. CHAIN CULT aus Griechenland eilt vollkommen zurecht der Ruf als fantastische Live-Band voraus und waren für mich schon ein – wenn nicht gar das – Highlight beim Ktown 2018 in Kopenhagen. Quasi mit quietschenden Reifen waren sie kurz vor knapp im Hafenklang eingetroffen, hatten ein rekordverdächtig schnelles Setup hingelegt und dann aus dem Stand eine unfassbar gute und mitreißende Show abgeliefert. Der schnelle und tighte Drumbeat trieb den Sound voran, begleitet von pulsierenden Bassläufen und fesselndem Gesang. Was diese Band aber so besonders großartig macht, ist die verspielte, wunderschön düsterwavige Wipersgitarre, die vom ersten Ton in ihren Bann zwingt. Was für eine wahnsinnig gute Band!!

Im Anschluss dann HYSTERESE aus Tübingen – ein anderer Sound, aber eine perfekte Kombination, denn auch hier schimmern immer wieder u.a. die Wipers durch. Für mich war es sowieso Pflichtbesuch, denn ich schätze und liebe diese Band seit der ersten Platte. Weniger hektisch und ungestüm als zu Beginn lassen sie mittlerweile in veränderter Besetzung mehr Melodien und Atmosphäre zu. Auch wenn der so typische Wechselgesang zwischen Helen und Moritz bei den neuen Songs seltener zu hören ist, sind sie unvergleichlich HYSTERESE geblieben. Der Mix aus düsterdrückendem Punk, mittlerweile mehr Metaleinflüssen und poppig melancholischen Momenten überzeugte auch an diesem Abend vollends und begeisterte nicht nur mich vom ersten Ton an. Was soll mensch zu den YOUTH AVOIDERS noch groß sagen. Die Band ist ein Brett und lieferte das, wofür sie geliebt wird! Aus dem Stand preschten sie los und ließen die volle Wucht ihrer unfassbar schnellem Punkrocksalven auf das Publikum los. Schier unbegreiflich, wie sie es schaffen, so derart energiegeladen und präzise zu ballern und sich dennoch Raum für catchy Riffs und starke Melodien zu nehmen. Die sympathischen und sehr unterhaltsamen Vier sorgten für euphorische Ekstase und ließen keine Fragen offen. CAREER SUICIDE im über dem Hafenklang liegenden Goldenen Salon habe ich zugunsten eines Interviews mit HYSTERESE verpasst. (Dazu bald mehr im TRUST.) Wenn das Konzert aber nur annähernd so kraftvoll war wie wenige Tage zuvor in Berlin, muss es der totale Abriss gewesen sein. Beeindruckend, mit welcher Energie die Band trotz fortgeschrittenen Alters ihren rasendschnellen und am frühen 80er US-Hardcore orientierten Hardcorepunk dort präsentiert hatte.

S. und ich schaffen es derweil noch die aktuellen Szenelieblingen von SHORELINE aus Münster anzuschauen. Jöran schrieb in seiner Review kürzlich im TRUST #213 über das aktuelle Album „Growth“: Wenn eine Band so geistreich, humorvoll und mit angemessenen Sarkasmus Themen wie fehlende gelebte Diversität in „unserer“ Szene“, Tierrecht, Rassismus und Privilegien der nördlichen Hemisphäre bzw. der sogenannten „westlichen“ Welt auseinandernimmt, ist die Musik für mich schon fast sekundär. … Prädikat: inhaltlich besonders wertvoll und eins a aufbereitet!
Es ist eine gute Show, vielleicht will der Vierer etwas zu viel, die Energie auf der Bühne etwas zu kanalisieren täte den Jungs gut. Ansonsten habe ich schon lange nicht mehr so weit aufgerissene Münder wie die von SHORELINE gesehen. Trotz der Hitze springen die vier wie bekloppt über die Bühne und stecken das Publikum damit an. Eigentlich wollten wir abends noch das GREEN DAY-Coverset von SHORELINE ansehen. Jedoch sind wir von dem Tag kaputt. Schnell noch bei Gunnar am Stand vorbei und Platten für S. kaufen. Gunnar hat ganz schön aufgefahren. Ich bin mir nicht sicher, wie sinnvoll es ist, auf einem Festival Merch zu verkaufen. Kein Mensch will doch den ganzen Tag mit einer Platte in der Hand rumrennen. Der arme Typ von LAGWAGON sitzt seit dem Nachmittag gelangweilt vor den unzähligen T-Shirts und wartet auf Kundschaft. Wir versorgen S. mit Gunner Records Platten von Jeff Rowe, LITTLE TEETH, MOBINA GALORE und noch ein paar anderen. Gunnar empfand seinen Geburtstag als „ein großes Wiedersehen nach zwei Jahren Pandemie. Gefühlt kennt jeder jeden. Ach ja und Musik gab es auch noch, dazu noch eine unglaubliche Hitze, Ananas Cocktails und Bier machen den Namen des Festivals alle Ehre…, schön wars.“

Endlich zu Hause verliebt sich S. gleich noch mal in die Jeff Rowe Platte „Barstool Conversation“, die sie sich gekauft hat. Als die Nadel aufsetzt und die Stimme erklingt, strahlen ihre Augen abermals wie am Nachmittag beim Konzert. Wir sitzen auf dem Balkon und trinken Whiskey, die Harleys knattern unten vorbei, hören Musik und machen Pläne für den nächsten Tag, Monat, das Jahr. Alle großen Pläne fangen im Prinzip mit solch einer Situation an, nur werden 99% davon nie in die Tat umgesetzt oder sind am nächsten Morgen schon vergessen. Was wäre das für eine Welt, wenn mehr von diesen verrückten Ideen und Einfällen in die Realität umgesetzt werden würde. Für mich fühlt es sich gut an, wieder so etwas machen zu können. Das Schöne an so einem Wochenende ist, dass die Welt da draußen für einen Augenblick aufhört zu existieren. Wir bekommen nichts mit von Corona, Krieg, Inflation, Arbeit, Alltag. Es geht um den Moment. Urlaub fürs Gehirn.

War am Samstagabend die Luft raus, ist sie am Sonntagvormittag noch nicht wieder drin. Erst nachmittags können wir uns für ein spätes Mittagessen aufraffen. Es ist immer noch heiß, aber das Überquell ist gut gekühlt. Eigentlich wollten wir uns noch mal THE CAROLYN anschauen, aber auf dem Weg kommen wir ins Gespräch und verpassen die neue Gunner Records Band. Dafür sind wir pünktlich zum zweiten Set von Jeff Rowe da, welches identisch ist mit dem gestrigen. S. macht das nichts. Ihre Augen strahlen erneut. ARTERIALS Sänger Flo ist auch da und singt leise und andächtig mit, es ist fast ein Flüstern.

Vor dem Grünspan sammeln sich die „Überlebenden“ des Wochenendes, um ein letztes Mal die Kräfte zu sammeln. Bei TIRED RADIO ist es bereits erstaunlich voll. Der Sound im Grünspan ist fetter, weiß nicht, wie ich das anders beschreiben soll, als es im Molotow oder Hafenklang der Fall war. Der Bass und die Bassdrum wummern durch den schönen Saal mit den Balkonen. Der Sänger erzählt, wie toll es ist, an diesem Abend mit den GET UP KIDS auf der Bühne zu stehen, die er als Jugendlicher gehört hatte, ehe er aus Punkrock ausstieg, nur um fünf Jahre später wieder damit anzufangen, diese Musik zu hören und schließlich Gitarre zu lernen und eine eigene Band zu gründen. Wir sollen „das Alter ficken“ und das ist dann wohl dieser neue Punkrock, alt werden im Punk scheint doch zu funktionieren. Wenn die GET UP KIDS spielen, wäre er unten im Pit zu treffen, behauptet er. Live funktionieren TIRED RADIO mit ihrem leicht pathetischen Heartlandrock ganz gut, aber ich denke, auf Platte wäre mir das zu langweilig. Werde ich allerdings mal reinhören, irgendwann mal, so was dauert bei mir immer. Andere haben einen Stapel Bücher neben dem Bett liegen, die gelesen werden wollen. Ich habe zusätzlich eine lange Liste mit Bands, die ich mir mal anhören wollte.

Von ÜBERYOU Sänger Ian wird hin und wieder behauptet, er sei ein eher ruhiger Geselle. Davon ist auf der Bühne des Grünspans nichts zu spüren, eher das Gegenteil ist der Fall, es ist alles ein wenig zu viel. Natürlich bringen der Club und die Anlage auch hier die Band perfekt zur Geltung. Nur ist mir das an diesem Abend nichts für mich, alles eben zu ÜBER. S. sagt ÜBERYOU sind die erste schlechte Band am Wochenende. Und tatsächlich glaube ich, hätten spätestens beim JOURNEY Cover die nervigen Harley Fahrer des Wochenendes sicherlich auch ihre Freude an dem Auftritt gehabt. Dabei sind ÜBERYOU minus den Sänger im Grunde THE HIGH TIMES, die mir dann mit ihrem Hardpop doch näher sind. So ist das wohl mit Geschmäckern.

Und dann endlich, nachdem das ganze verschüttete Testosteron von der Bühne gewischt wurde, THE GET UP KIDS. Für mich zum ersten Mal seit der Reunion, die ja sowieso quatsch war. Warum lösen sich Bands auf, nur um fünf Jahre später wieder zusammenzufinden? So groß konnten die menschlichen und musikalischen Differenzen dann nicht gewesen sein. Fünf Jahre, das ist heutzutage keine lange Zeit. Sei‘s drum, älter sind sie geworden die GET UP KIDS, sehen überhaupt nicht mehr aus wie Kinder. Eher wie Lehrer. Aber die Stimme, die Musik, die ist immer noch da. Schlauerweise wechseln sich die Lieder von dem Evergreenalbum „Something to write home about“ mit alten und neuen Stücken ab. Der Sänger von TIRED RADIO steht am Bühnenrand (Backstage) und singt laut mit. Aber eben nicht vorne in der ersten Reihe. Warum sagt er dann so was? Ich schätze, auf jede Stunde, die ich in meiner Jugend LAGWAGON oder GOOD RIDDANCE gehört habe, habe ich mindestens fünf Stunden THE GET UP KIDS gehört. „This is my culture man, this is my home“, denke ich. Direkt nach dem Konzert muss ich los, um meinen Zug zu bekommen. Ein schneller Abschied von S.. Es fühlt sich nicht richtig an, wir sollten den Abend gemütlich ausklingen lassen. Aber so ist es besser. „All good things have endings“, haben die GET UP KIDS mal gesungen. Nächstes Jahr auf ein Neues, ganz sicher.

Am Bahnhof endet das Wochenende, wie es begonnen hatte, mit einer Verspätung. Es sind Punks im Zug, die schrecklichen Deutschpunk übers Saufen und „ficken“ hören. Es ist nicht schön. Ich höre erst THE GET UP KIDS und dann PHANTOM BAY (sieht TRUST # 215) und freue mich auf das nächste Jahr. Dann vielleicht mit „LIFETIME oder D4, da hätte ich voll Bock drauf“, sagt Stefan. Ich auch. Wir sehen uns in 362 Tagen wieder. Tickets sind schon bestellt. Bis dahin macht es gut Booze Cruisers. XOXO!

Text: Claas Reiners

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