Januar 14th, 2025

Billy No Mates (#220, 2023)

Posted in artikel, interview by Jan

Es ist erst ein paar Tage her, seit CACTI, das neue Album von BILLY NOMATES, veröffentlicht wurde. Übrigens ihr erstes, das nicht während eines Lockdowns rauskam. „Ist es nicht schön, wenn die Läden offen haben und du eine Platte einfach aus dem Regal nehmen kannst?“, freut sich die Künstlerin und fügt hinzu: „Ich bin deswegen jedenfalls sehr glücklich und erleichtert.“
In dieser knappen Woche, in der das Album nun schon in den Geschäften (und den Streaming Plattformen zur Verfügung) steht, ist eine Menge passiert. Selten war sich die hiesige Musikpresse von Visions und Rolling Stone über Musikexpress und Spiegel so einig. Überall hagelt es gute Kritiken. Tor Maries, so der bürgerliche Name von BILLY NOMATES, nimmt den Rummel um ihre Person allerdings eher gelassen. Vielleicht hat sie schon zu viel erlebt oder ist schlicht in einem Alter, in dem einem Dinge nicht mehr so schnell über den Kopf wachsen.

„Ich habe keine Zeit, mich damit auseinanderzusetzen, was irgendjemand zu sagen hat. Natürlich ist es toll, wenn es gute Kritiken gibt, aber genauso viele Leute sagen schreckliche Dinge über mich. Ich lasse beides an mir vorüberziehen.“ Und nun kommt auch noch das TRUST mit einem Text über BILLY NOMATES um die Ecke.

Allerdings sei an dieser Stelle angemerkt, dass dieses Interview einen Vorlauf von fast zwei Jahren hatte, ehe es schließlich an einem grauen (hier) und sonnigen Tag (in Bristol) – davon zeugt der Lichteinfall in Tors Küche über den Zoom-Bildschirm, kurz nach Veröffentlichung von CACTI, dem zweiten Album von BILLY NOMATES, stattfand.

Vor ungefähr drei Jahren nahm Tor mit dem Portishead-Kopf Geoff Barrow ihr selbstbetiteltes Debüt für dessen Label auf. Das Album erschien im August 2020 mitten in der Pandemie, was BILLY NOMATES Bekanntheitsgrad vielleicht eher half als schadete. Die Welt war hungrig nach neuer Musik. Und BILLY NOMATES brachte einen neuen Sound ins Spiel. Dabei orientierte sie sich an einem New Wave und Post-Punk Sound, der auf einem neuerworbenen Laptop entstand und der sich mittlerweile besonders in Großbritannien großer Beliebtheit erfreut und von den SLEAFORD MODS losgetreten wurde. Die haben auf dem ersten Album auch gleich ein Feature und lassen ihrerseits auf dem letzten Werk Tor Maris zu Wort kommen. Im Gegensatz zu den manchmal durchaus aggressiven männlichen Vertretern des Genres bleibt BILLY NOMATES stets melodiös und in all ihrer Rotzigkeit weniger laut und auf CACTI weniger wütend, sondern oftmals melancholisch.

In ihren 20ern spielte sie nach Feierabend in verschiedenen Bands, die es nie weit brachten. Sie sagte dazu einmal: „All die Typen von den Musikschulen in London hatten immer eine größere Chance, bekannt zu werden, als jemand, der seine ganze Seele in etwas steckt, was dann einfach nicht anerkannt wird.“

Nach einer schmerzhaften Trennung und einer depressiven Lebensphase war es ein Konzert der SLEAFORD MODS, das in ihr den Wunsch wachsen ließ, wieder Musik zu machen. Dieses Mal auf eigene Faust und so direkt wie es möglich war. Sie tauschte ihre Gitarre gegen den Laptop und begann Texte auf simple Beats über das Leben von (jungen) Frauen aus der britischen Arbeiter: innenklasse zu schreiben, die ihren Alltag zwischen miesen Jobs, miesen Chef: innen, miesen Freund: innen und (einem bestimmten Typ) mieser Männer sowie miesen Hipster-Typen, die einem das Leben schwer machen zu meistern. So schwer, dass es manchmal kaum auszuhalten ist. Von diesem Teil handelt dann irgendwie CATCI.

Während sich die Kernthemen auf dem ersten Album um die Arbeit im Allgemeinen, meistens um Scheißjobs im Speziellen (CALL IN SICK), das Leben der „normalen“ Leute (FNP) – die eben nicht alle mit den gleichen Chancen geboren werden – und der erwähnten zerbrochenen Beziehung (MUDSLINGER), die schlussendlich für den kreativen Schub verantwortlich war, aus dem das Album entstand, drehten.

Weiteren Ruhm gab es durch eine schnell hinterhergeschobene E.P. mit dem Titel EMERGENCY TELEPHONE und der wahrscheinlich endgültige Durchbruch als Feature-Gast auf den SLEAFORD MODS Song MORK N MINDY mit dem dazugehörigen Video. Und nun also ein neues Album und endlich kommt ein Interviewtermin zustande.

CACTI ist, was wohl als Entwicklung bezeichnet werden kann. „Es brauchte ein ganzes Jahr“, bis Tor mit dem Ergebnis zufrieden war. Zwar hätte CACTI schon früher veröffentlicht werden können, aber das hätte sich für BILLY NOMATES nicht richtig angefühlt, denn es war ihr wichtig, sich genügend Zeit zu nehmen und Entscheidungen zu überdenken. Denn es sollte definitiv kein Aufguss des Debüts werden. Immerhin hatte Tor zum ersten Mal in ihrem Leben den Luxus, die nötige Zeit zu haben und trotzdem die einkommenden Rechnungen begleichen zu können.

CACTI ist nicht mehr so rotzig, Tor singt mehr, als dass sie ihre Texte spricht und auch die Themen haben sich verändert. Auf dem neuen Album wird nicht mehr so sehr die Welt draußen und was sie mit der Künstlerin macht, thematisiert, sondern das Innere analysiert. Depressionen und der Umgang damit spielen in den Songs eine große Rolle und Tor versteckt sich nicht mehr hinter einer guten Portion Sarkasmus, die ihr vorher Schutz geboten hat, sondern spricht ehrlich über ihre Gefühle.

Sie sagt dazu: „Ich hatte gar keine andere Wahl, die letzten Jahre waren für mich echt anstrengend, es ist eine Menge passiert und Covid gab es obendrein noch dazu. Und ich möchte mich gerne als Künstlerin sehen, die immer gradlinig ist und ehrlich über Gefühle spricht, egal wie schlimm die Erfahrungen sind. Oder eben gut.“

Sicherlich gelingt es besser oder es ist zumindest einfacher, über die eigenen Gefühle zu sprechen, wenn sich hinter einer Kunstperson versteckt werden kann. Allerdings gibt es keinen Unterschied zwischen (der privaten) Tor Maries und BILLY NOMATES. „Es sind nicht wirklich zwei unterschiedliche Charaktere, sondern eine Art Schutzschild, welches mir erlaubt, ehrlich mit mir selber und in meinen Texten zu sein. BILLY NOMATES ist ein Auto und Tor fährt es – bestimmt wo es langgeht,“ sagt sie lachend.

Weitestgehend wurde CACTI von BILLY NOMATES selbst produziert und die meisten Instrumente von ihr eingespielt. Das ist neben den Texten der zweite große Unterschied zum Debüt, welches überwiegend mit dem Programm Garageband entstand. Auf CACTI sind jede Menge Gitarren, mal kaum wahrnehmbar im Hintergrund, mal als Lead-Instrument zu hören. Unterstützung in Form von Hinweisen und Vorschlägen gab es vom Studiobesitzer James Trevascus, der sich auch für die Aufnahmen verantwortlich zeigte. Abgesehen davon arbeitete Tor vollkommen alleine an dem Album, dessen Titel sich nicht auf irgendeine Western-Romantik oder Ähnliches bezieht. Es steht viel mehr dafür, „die letzten Jahre überlebt zu haben.“

Allerdings hat das Wort CACTI noch weitere Bedeutungen für Tor. Zum einen bedeutet es aus künstlerischer Sicht, sich gegen alle Widerstände in der Musikindustrie durchgesetzt zu haben. „Niemand ist darüber verwunderter als ich, das kannst du mir glauben.“ Und dann gibt es noch eine emotionale Bedeutung. „Wie ist es, eine Frau zu sein, neue Leute zu treffen, eine Beziehung einzugehen und was macht das mit mir. Ich würde nicht sagen, es ist ein besonderes hoffnungsfrohes Album, aber ich empfinde es als sehr hoffnungsvoll, dass es CACTI gibt.“

Ein zentraler Song des gesamten Albums steht gleich ganz am Anfang und trägt den Titel BALANCE IS GONE – dabei sollte es doch eigentlich so sein, dass wir alle, je älter wir werden, ausgeglichener sind. Gleichzeitig ist mir niemand in meinem näheren Umfeld bekannt, der/die sich gerade nicht ausgebrannt und kaputt fühlt. Es ist demnach gerade sehr anstrengend, ein ausgeglichenes Gefühl entstehen zu lassen, so wünschenswert es auch wäre. Auf CACTI geht es auch darum, diese Niedergeschlagenheit wieder loszuwerden, selber wieder in die Spur zu kommen, was ebenfalls sehr wünschenswert wäre.

Tor wendet ein und führt nach kurzem Nachdenken folgenden längeren Gedanken aus: „Ich habe nun eine Karriere, die ich ausbalancieren muss, was schon eine ziemlich chaotische Angelegenheit ist. Dann lebe ich alleine, habe Freund: innen, die auf mich achtgeben und ich auf sie. Aber Ausgeglichenheit ist gleichzeitig auch eine Illusion. Ich denke, wir spielen eine Rolle, um anderen zu beweisen, dass wir ausgeglichen sind. Doch das ist in dieser Welt mittlerweile fast unmöglich. Eigentlich sagst du dir, nicht mehr so viel vor dem Handy zu hängen, aber was machst du, wenn das Ding zu deiner Arbeit gehört? Dann hast du das Teil trotzdem ständig in der Hand, schreibst jemanden und wartest auf eine Antwort. Und deine Freund: innen beschweren sich darüber und sagen dir, wie schlecht das für einen ist. Aber das geht ja nicht, weil ich für mein Einkommen darauf angewiesen bin. Ich kenne tatsächlich auch niemanden, der/die nicht nach mehr Ausgeglichenheit strebt. So sind wir Menschen eben, wir wollen es möglichst einfach und unbeschwert haben. So ist das Leben für die meisten Menschen aber nicht. So ist das Leben nicht. Es geht darum, kleine Momente zu finden, in denen alles okay ist. Nicht superhappy, aber auch nicht total unglücklich, sondern einfach okay. Außerdem – und ich will nicht total nihilistisch klingen, denn das bin ich nicht – aber vielleicht ist es überhaupt nicht gut, ausgeglichen zu sein. Ein wenig Chaos kann manchmal nicht schaden. Du brauchst die Höhen, aber auch die Tiefs. Wenn alles und jede:r immer ausgeglichen ist, könnte es doch sehr schnell total langweilig werden.“

Vielleicht beschreibt eine der wichtigsten Zeilen auf dem Album dieses Gefühl ganz gut. Im Lied BLUE BONES heißt es: „But death don’t turn me on like it used to.” Trotz all der Trauer und den Schmerzen und der Dunkelheit nach den ganzen letzten Jahren scheint das schlimmste vorüber zu sein. Der Todeswunsch ist verschwunden, aber nicht die Melancholie, die vielleicht ein ewiger Begleiter bleiben wird. Und obwohl sich bisher kaum eine Künstlerin so sehr mit der Verarbeitung der Pandemie auseinandergesetzt hat wie BILLY NO MATES, ist es verwunderlich, wenn es im Song BLACKOUT SIGNAL plötzlich heißt: „I dream of shutdowns now.“

Es geht in dem Lied allerdings nicht wirklich darum, sich in einen neuen Lockdown zurückzuwünschen, sondern um den Weg zurück in die Welt. „Ich fand es schrecklich, wieder hinauszugehen“, erzählt Tor und wirkt sehr nachdenklich, „und ich habe immer noch diese Angst. Ich bin jemand, der Angst vor der Welt im Allgemeinen hat, denn ich bin von Natur aus introvertiert und die ganze Träumerei von einem Shutdown ist für mich eher ein Rückzugsort in meinem Kopf.“

Eine introvertierte Person wie BILLY NOMATES kann demnach auch Vorteile in den letzten Jahren sehen, denn sie konnte ein Produkt (Album) nicht so bewerben, wie sie es sonst hätte tun müssen. Dafür konnte sie sich auf den Kern ihres Schaffens konzentrieren, sich in einem Zimmer einschließen und an der Musik arbeiten, die sowieso für sich sprechen sollte. Und dann stellt Tor plötzlich eine große und berechtigte Frage nach all den Krisen der letzten Jahre und des vergangenen Jahrzehnts: „Werden wir es jemals wieder erleben, dass große Teile des Kapitalismus einfach runtergefahren werden?“ – um gleich darauf die Antwort selber zu liefern – „wahrscheinlich nicht, weil alles mit dem Internet zusammenhängt, also werden wir so nah nie wieder drankommen. Oder es ist einfach nur der Anfang, was ziemlich bizarr wäre, aber es ist ja auch eine „bizarre“ Welt.“

Eine Frage, die sich so nicht beantworten lässt. Und ehe es soweit kommt, gibt es erst mal die Gelegenheit, BILLY NOMATES endlich auch auf dem Kontinent live zu erleben. Allerdings verzichtet Tor dabei auf eine Backingband. Durch den Brexit und den wegfallenden Einnahmen durch fernbleibendes Publikum sollen die Kosten möglichst geringgehalten werden. „Es gibt so viele Regeln und Gebühren, die in Großbritannien gezahlt werden müssen. Außerdem fände ich es gerecht, eine Band anständig zu bezahlen. Das kann ich gerade nicht gewährleisten. Aber ich bin dankbar für die Möglichkeit, überhaupt auftreten zu können und Orte zu sehen, an denen ich bisher noch nicht war, macht mich glücklich.“

Und so schließt sich ein Kreis, der so nicht zu erwarten war. In all seiner Tanzbarkeit weißt CACTI einen nicht wegzudiskutierenden melancholischen Ton auf. Im Gespräch wirkt Tor hingegen gelöst und zufrieden und betont zu Beginn glücklich über die Veröffentlichung und am Ende des Interviews glücklich über die bevorstehende Tour zu sein. Also vielleicht doch nicht ROUNDABOUT SADNESS, wie ein weiteres Stück auf CACTI heißt, sondern „roundabout happiness“? Es wäre wünschenswert.

Text und Interview: Claas Reiners
Mitarbeit: Kira Sackmann

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