Dezember 31st, 2022

Auschwitz (#205, 2020)

Posted in artikel by Jan

27. Januar 2020: 75 Jahre Befreiung KZ Auschwitz –
eine essayistische Reportage über meinen Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau im Dezember 2019

„The Dachaus, the Belsens, the Buchenwalds, the Auschwitzes, all of them. They must remain standing because they are a monument to a moment in time when some men decided to turn the earth into a graveyard. Into it, they shoveled all of their reason, their logic, their knowledge, but worst of all, their conscience“
(siehe Anmerkung 1 am Ende des Textes)

Normalerweise ist es so, dass ich mich auf einen Kurztrip in ein Land, in dem ich noch nie war, freue. Du hast Urlaub, wirst neue Sachen erleben und hast schon Vorfreude Tage vorher, du willst viel sehen, am liebsten lange dort bleiben, alles ganz genau vor Ort erfahren…. das alles ist nicht der Fall, wenn das Ziel Auschwitz ist.

Im Vorfeld war ich fest entschlossen, im Dezember 2019 diese sehr alte Idee seit den 90er endlich realisiert zu haben, doch je näher der Termin rückte, umso „mulmiger“ wurde es mir: mein Gott, das KZ Theresienstadt 1996 auf Kursfahrt mit Gymi nach Prag besucht, das schockt mich für mein ganz Leben, u.a. als marginales Detail soweit weg „von zu Hause“ dann dort deutsche Beschriftungen („Stube“) zu lesen an diesem schrecklichem Ort. Aber als gebürtiger Sohn vom Unternehmenssitz eines frühern IG Farben-Unternehmens fühlte ich es auch deswegen als Pflicht, einmal nach Auschwitz zu fahren, denn dieser Ort hängt auch mit dem Wirken der IG-Farben zusammen, wie wir alle wissen. Es wird sicherlich jedem so gehen, der schon mal da war, das alte „Problem“ von wegen „rational“ vs. „emotional“, ich komme drauf zurück und beschreibe erst kurz meinen Trip.

Auschwitz-Birkenau im Dezember 2019
Das Gelände mit allen Lagern ist RIESIG, viel größerer, als es alle Dokus und Fotos andeuten. Es ist sehr gut, dass immer noch zwei Millionen Besucher pro Jahr dort hinkommen (am Tag vor mir war Merkel da), dass ist auch deshalb gut, weil man dann nicht alleine dort rumläuft. Mir reichte ein halbstündiger Besuch in Auschwitz-Birkenau. Das Hauptlager („Arbeit macht frei“) ist drei Kilometer entfernt, das KZ Monowitz und das IG-Farben-Gelände liegen auch nochmal woanders und ich hatte für das Hauptlager auch ein Ticket, was man sich lange im Voraus reservieren musste. Aber ich konnte nicht mehr und die halbe Stunde war länger, als ich dachte, dass ich es emotional überhaupt schaffe, ich vermutete, max. zehn Minuten werden reichen.

Ich habe viele Bücher über Faschismus und speziell über IG Farben-Auschwitz zu Hause und las nochmal alles durch und schaute auch nochmal Filme und Dokumentationen zu dem Thema. Es wurde ausdrücklich auf der Gedenkstätte-Webseite empfohlen, mit Führung….Verzeihung, aber im Kontext „selbstorganisierte Auschwitz-Besuchsplanung“ kann man nur alles falsch machen, erwische dich bitte selber mal bei der Vorrecherche, „So, wie kommt man da jetzt hin aus Frankfurt nach Auschwitz, schauen wir doch mal nach Zügeb… Neeeee, shit“ bzw. „Nun kaufen wir uns also einen Krakau-Polen-ReiseFÜHRER? Fuck!“ bzw. „Hmh, Dezember ist Winter in Auschwitz, wäre nicht im Sommer… hallo, du fährst nicht an den fucking Strand!!!)“ – also, man sollte am besten mit Guide/Gruppe da rein und am besten dann direkt die sechs Stunden Führung. No fucking way.

Man kann aber auch begrenzte Slots reservieren (muss man vorher online erledigen), wo man eben alleine ohne Guide rein darf. Also nach Krakau geflogen, mit einem privaten Taxi-Driver die 50 KM dahin gefahren und der Fahrer war sehr kompetent bezüglich Auschwitz, er wusste alle Standorte und hätte mich überall hingefahren, dort gewartet. Klar, eine mehrtägige Bildungsreise, so macht man es sicher richtig, aber ich wusste, das ich einerseits dahin „muss“, andererseits aber auch so schnell wie möglich wieder von dort weg will. Wir sind um den Hauptkomplex nur drum herumgefahren, ich war zu früh für meinen Slot, somit fuhren wir erst nach Birkenau (Taxi-Fahrer meinte, da kann man einfach so rein ohne Voranmeldung), dort war ich aber dann zu lange drin (wie gesagt, das Hauptlager ist auch sehr sehr gut besucht und man hat nur ein begrenztes Fenster, um als Individual-Besucher reinzukommen).

Ich dachte trotz Vorrecherche, dass dieses Gebäude und die dadrauf zuführenden Bahngleise eben im Hauptlager wären und das Birkenau (das übrigens auf polnisch nur „Dörfchen“ bedeutet und nicht wegen der wirklich vielen Birken so heißt, wie mir der Taxi-Driver erzählte) ausschließlich ein Vernichtungslager war und die Selektion im Hauptlager stattfand.

Nach dem Haupteingang in Birkenau wunderte ich mich dann nach einigen Minuten, warum hier Gleise verlaufen, ich drehte mich um und erblickte zu meinem großen Entsetzen, dass fast genau da, wo ich stand, das „berühmte“ Foto mit den Gleisen, die auf das Bahngebäude (die frühere Kommando-Zentrale)) zu laufen, aufgenommen wurde. Dieses Gebäude war der Haupteingang, durch den ich ging und war nicht so groß, wie man denkt. Es waren auch sehr viele andere Besucher da und das half mir wirklich, plötzlich italienisch sprechende Handy-Leute lachend zu hören – und es ekelte mich natürlich auch wieder an, aber es war irgendwie Normalität an diesem „unwirklichen“ Ort.

Rein rational gesehen weiß man alles GENAU, was in Auschwitz passierte, da gibt´s ja gar nix misszuverstehen oder falsche Schlüsse draus zu ziehen, es ist dokumentiert, gefilmt, aufgeschrieben bis ins letzte Detail, was und wie und warum Auschwitz passierte und jeder 5jährige weiß auch nach zwei Minuten in Auschwitz, wie man dazu stehen muss und was man daraus für Schlüsse ziehen muss: alles verhindern, dass so etwas nie wieder passiert!

Aber vor Ort konnte ich es dann trotz allem Vorwissen doch nicht „rational verstehen“, weil man emotional vor der schwierigsten Frage der gesamten menschlichen Zivilisation steht: Warum? Ich dachte, ich weiß doch sehr viel zu dem Thema, ich hatte das auch in meinem Politikwissenschafts-Studium in mehreren Hauptseminaren (Faschismustheorien, Geschichte des Nationalsozialismus), aber ein konkreter Besuch vor Ort ist etwas völlig anderes. Oświęcim ist ja auch ein ja ganz „normaler“ Ort, wo Leute wohnen, in dem es auch einen McDonalds gibt und bizarrer weise reichen die Wohnanlagen wirklich bis kurz vor das Birkenau-Lager heran, sogar einige Balkons mit Blick auf das Lager.

Und was im Anschluss machen?
„Mein“ Fahrer wusste, was mich da erwartet und er konnte einen auch dann auf der circa einstündigen Rückfahrt ablenken, weil ch muss dann über irgendwas belangloses reden und ganz ganz wichtig (das wusste ich, weil ich es schon mal „falsch“ machte): abends was schönes machen.

Ich weiß, dieser Tipp wird manche Leser jetzt irritieren, aber es ist mein voller Ernst! 1996 war ich so verstört von Theresienstadt, dass ich mich der abendlichen Party (Kursfahrt halt, alle so um die 17 Jahre alt) nicht anschloss und das total „pervers“ fand, wie man nach so einem Besuch abends feiern gehen kann in Prag. Das Problem war nur: dann bist du völlig alleine mit deinen Gedanken in der Jugendherberge. Nicht gut.

Man verarbeitetet so einen Besuch anders, das dauert, weil die Auschwitz-Birkenau-Gedenkstätte ist halt das schlimmste, was man jemals sehen wird. Zwar war ich gefasster als ich dachte, ich vermutete vorher, ich werde den restlichen Tag heulend im Hotelzimmer verbringen, aber „trotzdem“… was im Anschluss tun? Nach Vormittag in Auschwitz abends dann schön Bierchen trinken, „tolle Idee, Jan!“?. Aber was bitte sonst? In einer Kirche eine Kerze anzünden, das war noch so ne Idee, aber wie viele eigentlich dann und nein, man MUSS was SCHÖNES machen, es verfolgt einen eh für immer, also an Bar rumhängen und 6 Pivo rein, das war gut, wobei: beinahe macht ich es wieder falsch, ich legte mich nach Lektüre gegen 22 Uhr pennen, konnte aber nicht einschlafen und dachte mir „Nein, geh Bier trinken“, zog mich wieder an und ging dann an die Hotel-Bar.

Ich schaute aber auch kurz, ob ich nicht einfach einen Flieger direkt abends/nachts zurück nehmen könnte und nicht in Krakau übernachtete.

Ich hatte in Krakau auch den 800 Seiten Wälzer von dem Uni Cambridge Historiker Adam Tooz, „Ökonomie der Zerstörung: Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus“ (2007), dabei, bestimmt die beste Stelle in dem Buch ist, wie er den Größtenwahn der Nazis so treffend beschreibt, Motto „Allright, wir fordern jetzt einfach mal die drei größten und höchst entwickelten Industrienationen der Welt – UdSSR, USA, UK – in einem Weltkrieg heraus, wir sind eben einfach die allerbesten“. Die Nazis haben bestialisch gewütet im Unternehmen „Barbarossa“, Toozte beschreibt so gut, wie primitiv die mit ihren „Pänzerchen“, Gewehren teils noch aus dem ersten Weltkrieg und Pferdewagen gen Moskau zogen, derweil in den USA am Manhattan-Projekt geforscht wurde. Sie dachten wohl, dass sie „blitzkriegmässig“ Moskau einnehmen können, wenn man sich das auf der Weltkarte nochmal anschaut, was für eine Idee überhaupt. Hass macht blind.

Nach dem Besuch: „Hass ist nie das letzte Wort“
Mich hat es später hoffnungsvoller gestimmt und mir auch geholfen, die Erfahrungen besser zu verarbeiten, nach der Reise nochmal das letzte Kapitel von dem wichtigem Buch „Lohn des Grauens. Die verweigerte Entschädigung für jüdische Zwangsarbeiter. Ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte“ (1986) von Benjamin Ferencz zu lesen (ami-Jurist, Chefankläger im Einsatzgruppen-Prozess, einem der Nachfolgeprozesse im Rahmen der Nürnberger Prozesse).

Er sagte dort ganz klar: „Hass ist nie das letzte Wort“. Er muss es wissen, denn er hat die Verhandlungen mit den Firmen später geführt, er hat Speer getroffen, kurz gesagt: „die zweite Schuld“ nach Auschwitz selber war insbesondere das Verhalten der Konzerne bezüglich Entschädigungen oder auch nur Einsicht: es ist wirklich „Kindergarten“, nur eben auf allerhöchstem Niveau: für den schrecklichsten Zivilisationsbruch der Menschheitsgeschichte mitverantwortlich, aber nach Deutschlands Kapitulation war aber dann keiner schuld. Einige ihrer Vertreter waren 1941ff in Auschwitz, wie kann man nur wenige Jahre später sagen, man „merkte nicht, was da passierte“, dieses Wissen hat man auch 75 Jahre in einer Minute, ohne vorher etwas zu diesem Thema gelesen zu haben!

Ja wie und was hättest DU denn 1933 bis 1945 gemacht?
Ich weiß es nicht, es kommt vielleicht drauf an, wie alt ich gewesen wäre. Wäre ich in der Pubertät, dann hätte ich bestimmt mitgemacht, Gruppendruck und so. Ich hoffe, ich hätte es dann später bereut und mich antifaschistisch engagiert. Wäre ich so alt, wie ich nun 2020 bin – 42 – dann ist die Antwort beinahe auch die gleiche: ich wünschte, ich könnte mit 100 prozentiger Bestimmtheit sagen, dass ich mich gewehrt hätte, in den Untergrund gegangen oder doch zumindest emigriert wäre. Fakt ist aber: ich weiß es nicht, das Netz war ja doch zu fast 100 Prozent „geschlossen“, wenn alle deine Freunde, alle ihre Eltern, alle Lehrer Nazis sind, ich glaube nicht, dass ich das als junger Mensch geschafft hätte – und als Erwachsener? Alle deine Arbeitskollegen, deine Chefs, deine Frau… 99 Prozent sind Nazis…

Aber es geht nicht um „was wäre wenn“, sondern um „was WAR!“. Dieses „Argument“ bezüglich der Involviertheit aller und damit auch zugleich der Unschuld aller bei Verschiebung der Schuld allein auf Hitler und seine Jungs ist zum Glück müßig. Wenn heute ein Richter einen Amok-laufenden Wahnsinnigen zu lebenslang verurteilt, der deshalb alles machte, weil seine Frau ihn verlassen hat, er seine Arbeit verlor und auch dann noch die Diagnose bekam, dass er Krebs hat und wahrscheinlich nur noch 1 Jahr hat – fragt dann jemand danach, ob der Richter sich besser verhalten hätte, wäre ER in so einer Situation gewesen? Kann man den Täter nicht „verstehen“, sind seine Taten dann sanfter zu sehen? Die Rechtsprechung berücksichtigt mildere Umstände, aber in einer Hinsicht ist sie glasklar: es spielt keine Rolle, ob DU dich in der gleichen Situation genauso verhalten HÄTTEST, es zählt, was DER ANGEKLAGTE GEMACHT hat.

Ich habe auch nie gesagt, dass man alle Nazis nach 1945 wie Tiere mit einigen Kanten Brot hätte einkerkern sollen. Jeder soll human, auch im Gefängnis, behandelt werden, Todesstrafe finde ich immer falsch. Natürlich sollen die je nach Tat in einem fairen Prozess bestraft werden! Meinetwegen dürfen die nicht-Lebenslänglichen irgendwann auch raus, sie sollen dann auch eine Arbeit bekommen und müssen natürlich auch irgendwo wohnen, das kein Erdloch ist, ja. Aber wie ist die Geschichte in der Realität nach 1945 WIRKLICH gelaufen? Vielen war es völlig egal und man hinterfragte es nicht, was im Krieg geschah. Viele Juristen, Ärzte etc. haben nach 1945 OFT FETTE KARRIERE gemacht. Man glaubt es einfach nicht, wie die später so tun, als ob man halt mal drei Mal über Rot mit überhöhter Geschwindigkeit vor 15 Jahren gefahren wäre. Selbst der fucking Doktorvater von Mengele hatte nach dem Krieg eine PROFESSUR in Münster, wurde ab 1952 VORSITZENDER der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie und war (teilweise Ehren!-) Mitglied in internationalen Gesellschaften der (Human-) Genetik, Anthropologie bzw. Bevölkerungsstudien – das geht doch nicht, das ist doch einfach nicht richtig!

„Bobwire shouldn´t exist“
Einige Zeit nach meinem Besuch fiel mir der Songtext der holländischen Punk-Band BOBWIRE von 1989 wieder ein, der leider immer noch so aktuell ist:

„All right, so the war is over, the camps remain to see. They should prevent us to fight for a stupid idea. Bobwire for tourists, so people will never forget. Forget what happened those five years, forget what has been said. But nevertheless, it didn´t work, the nazi´s try to come back again. Back again to fight for their idea´s and listen to a Hitler-man. They don´t care what has happened in the war, don´t care about it all. Want to start it all over again, still frustrated that fascim fell. Everywhere you see the signs of a growing movement. Neo-Nazi parties getting stronger all the time. Old nazi´s in high positions are still respected. By a lot of people that get them elected. Extreme-right back in government, try to take over the land. When economics are bad they will make their stand. Searching for a scapegoat, a group of people to blame. For everything that´s wrong accuse them without no aim…They´ll be stopped, old times won´t come back again / no way. People will always fight for your stupid idea´s again / and again. Times have changed, humanity learned from their mistakes again / and again. And nazism won´t brainwash so many people again / no way. Bobwire shouldn´t exist. Bobwire should be destroyed. Bobwire not for people. Bobwire never again”. (siehe Anmerkung 2.)

„Don´t turn away“: Einige Buchtipps
Das Buch von Joseph Borkin, „Die unheilige Allianz der IG Farben: Eine Interessengemeinschaft im Dritten Reich“ (1979), ist bestimmt „das Standard-Werk“ zu Auschwitz/IG-Farben, zusammen mit dem Werk von Otto Köhler „und heute die ganze Welt. Die Geschichte der IG Farben und ihrer Väter“ (1989). Es gibt aber auch „andere“ Klassiker, zum Beispiel „Nur ein Sohn: Ein Leben mit der Großchemie“ (1981) von Curt Duisberg, und natürlich die Memoiren von Auschwitz-Kommandanten Höß, die er in polnischer Haft verfasste (Rudolf Höß: Kommandant in Auschwitz: autobiographische Aufzeichnungen (1956)). Seine Ehrlichkeit ist bemerkenswert, Wikipedia notierte: „Auch in den Details wird der Stand der Forschung sehr gut wiedergegeben“.

Borkin erwähnte eine Aussage aus dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess: „Die von dem Konzentrationslager Auschwitz zur Verfügung gestellten Arbeiter lebten und arbeiten unter dem Schatten der Liquidierung“. Nach so einem Besuch in Auschwitz hat man natürlich auch Rachegefülte gegen die Nazis, die blutrünstig unschuldige Unbewaffnete gequält haben. Man liest nicht selten, dass „die Nazis“ wie Tiere wüteten. Was sicherlich für nicht wenige stimmt. Irritierend ist es aber andererseits auch, dass man weiss, dass viele Absolventen humanistischer Gymnasien waren, dass sie Akademiker, Doktoren, Professoren, Ingenieure, Naturwissenschaftler, hochgebildete, „auch in den schönen Künsten“ Menschen waren. Was ist mit denen, waren das auch alles Nazis?

„Die Bösen sind das kleinere Problem als die Gleichgültigen“?
Ich denke mir, dass „wir alle“ ja Nazis hassen – das „Gute“ daran ist: Nazis sind ein ganz klarer definiertes Feindbild. Sie hatten starke Gefühle und hassen alles Fremde. Aber beinahe genauso schlimm wie sie sind jedoch für mich auch diejenigen menschlichen Cyborgs, die keine Nazis „im eigentlichen Sinne“ waren.

Waren gewisse Firmen-Chefs bis 1945 (teilweise dann verurteilte Kriegsverbrecher in Nürnberg) und später wieder Unternehmens-Chefs, waren diese Menschen alle Nazis? Ich glaube ihnen manchmal sogar, dass sie das nicht waren. Julius Streicher, ja, ohne Zweifel, Nazi. Und auch wenn einzelne Industrielle zum Beispiel im Nürnberger Prozess auf die Frage, ob er selber denn die Versuche an Menschen im KZ Auschwitz für gerechtfertigt gehalten habe, sagte – „Den Häftlingen ist dadurch kein besonderes Leid zugefügt worden, da man sie ohnedies getötet hätte“ – …nein, Nazi, das war ihre Sache oft nicht.

Die Wahrheit ist beinahe schlimmer, denn sie waren etwas abscheuliches, etwas grauenhaftes und von ihrer Sorte Menschen gibt es immer noch viel zu viele: es waren ihnen scheißegal, sie waren keine Antisemiten von Natur aus, weil für sie nur eine Sache wichtig ist: selber Macht und Geld, der Rest wie die Mittel, Wege und Sicherung dieser Macht bzw. ihrer Kohle: WUMPE!

So was macht mich immer wieder fassungslos, wie Menschen sich so instrumentell verhalten. Sie könnten in jedem politischen System Karriere machen. Wenn das politische System eben heute gegen Juden ist, „Gut, machen wir mit – und tun unser bestes, dieses Ziel mit allen Mitteln zu erreichen, egal, was die Ziele sind, Hauptsache, ich bleibe oben und habe Geld“! Wenn das politische System morgen demokratisch ist? „Cool, machen wir mit“. Wenn übermorgen alle Menschen mit grünen Augen auf den Müll geworfen werden? „Klar, machen wir, solange ich selber meine Macht und Kohle behalte“. Sich selber hinterfragen? Gefühle? Zweifel? Es sind unbekannte Wörter für solche Typen.

Mich macht natürlich einerseits die Bestialität der Nazis immer wieder traurig und wütend, auch, dass nicht alle zahlten für ihre Taten, aber fast jedes Mal, wenn ich die alten Bücher nachlese, überkommt mich andererseits fast noch mehr das Grauen, wenn ich von solchen Menschen lese. Einerseits intelligenzmäßig höchst qualifiziert, andererseits elementare menschliche Fähigkeiten wie „Zweifel“ nie gehabt zu haben.

Und hey, wir alle machen Fehler, oft erkennen wir diese erst viele Jahre später und manchmal muss das erst ein Therapeut mit einem offen legen. Aber solche Roboter-Menschen, ihre Indifferenzen, etwas zu hinterfragen, das jagt mir echt horrormäßige Angst ein. Es ist eine Sache, fanatischer Antisemit zu sein. Gut, diese Typen sind durch, ab dafür.

Schwierig sind die „gleichgültigen“ Roboter und leider werden genau solche Menschen, die perfekt funktionieren und ihre instrumentelle Vernunft auf das höchste Niveau bringen und sich nur für sich selber – ihre Macht und ihr Geld – interessieren, scheiß egal, was die Folgen sind – immer wieder durch unser gesellschaftliches System regelrecht gezüchtet.

Dieses Einfordern von „Keinen Befehl hinterfragen bzw. 100% „Loyalität“ zu deiner Firma findet zu viel in der Arbeitswelt statt, weil genau diese Fähigkeit, etwas hinterfragen zu dürfen/können, ob die Mittel wirklich dem Ziel (und die Hinterfragung auch des Zieles) macht uns Menschen doch erst richtig aus!
Die gleichgültigen Roboter-Menschen dürfen nie wieder so eine Macht bekommen.

Sie sollen mit ihrer Intelligenz das Archiv ordnen, nicht-komplexe Bürotätigkeiten ausführen, wo man nichts hinterfragen muss, weil: sie können es ja einfach auch nicht. Wenn man einem Nazi sagt „Erschlag ab morgen alle Menschen mit Grünaugen mit Leitz-Ordnen“ und wenn man das Gleiche dieses Cyborgs sagt, dann wird der Nazi bestialisch Leute niedermorden. Aber der Roboter-Mensch, der dir wahrscheinlich bis übermorgen eine perfekte Höllenmaschine fertig und einsatzbereit gebaut haben (und den Tod hunderter Skalven dafür schulterzuckend in Kauf nehmen), die direkt 50 000 Grünaugen mit nur einem Aktenordner rationalst beseitigt (und schönerweise ist man auch noch an der Firma, diese diese Ordner herstellt, beteiligt!). (siehe Anmerkung 3.)

„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass ist, sondern Gleichgültigkeit“
Abschließend noch drei gute Zitate zur „Gleichgültigkeit“, erst von George Shaw: „Das größte Übel, das wir unseren Mitmenschen antun können, ist nicht, sie zu hassen, sondern ihnen gegenüber gleichgültig zu sein. Das ist absolute Unmenschlichkeit“. Dann Gerhard Kocher (mir unbekannt): „Die Bösen sind das kleinere Problem als die Gleichgültigen“. Und finalemente Elie Wiesel (amerikanischer Schriftsteller und Überlebender des Holocausts): „Ich habe immer daran geglaubt, dass das Gegenteil von Liebe nicht Hass ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Glaube ist nicht Überheblichkeit, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses, es ist das Ende eines Prozesses“.

Und hey, ich bin jetzt auch nicht der perfekte „Gutmensch“ und auch nicht Mutter Theresa, gebe auch selten Bettlern was, kauf kaum Obdachlosenzeitschriften, will sagen, ich habe wie jeder Mensch auch kalte Züge. Aber entschuldigt das die Kälte von so Cyborgs? Fehler zugeben und Kritik annehmen, dass kann ich. Ist eigentlich auch keine besondere charakterliche Auszeichnung, sondern „Standard“. Gleichgültigkeit und dieses Schulterzucken… damit fängt viel schlimmes und grausames an. „Don´t turn away“!

Text: Jan Röhlk
Bild: Wikipedia

https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Auschwitz-Birkenau#/media/Datei:Museum_Auschwitz_Birkenau.jpg

Anmerkungen:
(1.) Das Zitat stammt aus der TV-Serie „Twilight Zone“ und war das Sample-Intro zu einem Rorschach-Song, den ich eine zeitlang in den 90er auf meinem AB als Ansage hatte.

(2.) Über Discogs fand ich die Homepage des Sängers Erick und ich schrieb ihm, dass ich speziell den Song so passend und leider so erschreckend aktuell fände, weil ich nach dem Auschwitz-Besuch nach richtigen Worten für meine Trust-Kolumne suchte. Erick antwortete: „Deine Mail brachte den Song zurück in meinen Kopf und ich war überrascht, dass ich noch alle Textzeilen kannte, vielleicht nicht so überraschend, da ich den Song geschrieben habe, aber das ist schon lange her. Ich bin jetzt 54 Jahre alt. Ich erinnere mich auch an meinen Besuch in Bergen-Belsen, der die Wurzel einiger Bobwire-Songs war. Erschreckend und touristisch zugleich, eine seltene Kombination. Traurig, dass diese Texte immer noch relevant sind“.

(3.) Natürlich gab es durch die personelle Kontinuität der Nazis dem Krieg auch eine inhaltliche Kontinuität, wie man auch an dem Verhalten bundesdeutscher Geheimdienste nach Auffliegen des NSU feststellen konnte. Links? Drauf. Rechts? „Hallo, Schutz V-Männer“. Guter Buchtipp dazu: Kemal Bozay (Mit-Herausgeber): Die haben gedacht, wir waren das. MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus (2017).

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