März 9th, 2020

WILD FLAG aus #156, 2012

Posted in interview by Jan

Manche neuen Bands sind wirklich gut, aber niemand bekommt es mit. Andere neue Bands sind auch wirklich gut, aber die Medien reißen sich um sie. Wild Flag gehören eher zu denjenigen Bands, die mit Aufmerksamkeit überschüttet werden. An der Qualität ihres namenlosen Debüts alleine dürfte es kaum liegen. Die Platte ist zwar gut, aber gute Platten kommen jede Woche geschätzte hundert raus. Es liegt wohl eher daran, dass die Band aus Menschen besteht, die alles andere als unbeschriebene Blätter sind. Carrie Brownstein und Janet Weiss waren bei Sleater-Kinney, Mary Timony war bei Helium und Autoclave und Rebecca Cole, mit der wir uns im Berliner Lido trafen, war bei The Minders.

Der Medienrummel um Wild Flag ist echt enorm. Während wir im Backstage mit Rebecca saßen wurden auch dem Rest der Band von Arte Tracks bzw. dem Girl Gang Zine Kameras und Mikrofone vor die Nase gehalten. Offenbar geht da einiges im Hause Wild Flag. Das Konzert später am Abend untermauerte – mal abgesehen von der oberüberflüssigen Vorband – diese Annahme. Aber erstmal war ja Interview:

In jedem Text über Wild Flag steht etwas wie „Riot Grrrl Supergroup“ oder „Riot Grrrl Allstar Band“. Wie denkst Du über solche Label?
Wenn die Leute Fan von unseren vorherigen Sachen sind, dann ist es cool. Aber das Wort „Supergroup“ im Zusammenhang mit meiner eigenen Band? Normalerweise kommt das eher bei diesen riesigen Stars, die Millionen von Platten verkaufen. Keine von uns ist eine Legende wie Johnny Cash, Tom Petty, Bob Dylan, Jeff Lynne oder ähnliche. Wenn wir in der gleichen Kategorie sein sollen, dann hat Supergroup jetzt wohl eine neue Bedeutung. Wenn jeder in deiner jetzigen Band vorher schon in einer anderen Band war, dann hast du eine Supergroup. Ich weiß nicht, so fühle ich mich dabei.

Supergroup heißt für mich Chickenfoot und Sammy Hagar. Ich hoffe Wild Flag sind anders. Die Leute starten die Supergroup, weil sie eines Tages gelangweilt sind. Es ist kein echter Versuch richtige Musik zu machen. Wir dagegen versuchen aus unserer Leidenschaft heraus bleibende Songs zu schaffen. In einer Band wie Chickenfoot sehe ich keinen Sinn…

Und was ist mit dem anderen Teil des Labels? War Riot Grrrl ein wichtiger Einfluss für Dich und ist es heute noch wichtig?
Ich persönlich habe einen etwas anderen musikalischen Background als der Rest meiner Band. Marry, Janet und Carrie waren alle sehr aktiv darin, den Begriff zu dem zu machen, was er heute bedeutet. Ich komme aus einem Kollektiv, in dem ich mich nicht gefühlt habe, als wäre das Frausein ein großes Thema in unserer isolierten Welt, die wir geschaffen haben. Das war so, bis ich auf Tour gegangen bin und Musik richtig erfahren habe. Bis dahin wusste ich nicht, dass es Dinge gibt, gegen die man kämpfen muss, da ich in einer isolierten Blase gelebt habe.

Also ja, es gibt immer noch Kämpfe, die für Frauen im Musikbereich gekämpft werden müssen. Manchmal werden Kommentare über uns gemacht, einfach nur weil wir Frauen sind. „Sie sehen wie Soccer moms aus…“, oh wirklich? Keine von uns ist Mutter, keine spielt Fußball. Ich kenne genügend Männer in meinem Alter, die Musik machen, aber über die so etwas nicht gesagt wird. Das gibt es also immer noch und es ist immer noch stechend. Es ist für uns wichtig, als vier starke Musikerinnen zusammenzustehen, die eine Band gründen. Das für sich ist ein Statement über Frauen in der Musik. Auf unserer ersten Platte bewegen wir uns nicht im politischen Bereich. Es geht um Musik, Spaß, Liebe und Leben.

Wir haben beim Lesen von Artikeln über Wild Flag aber auch keinen gefunden, der nicht Euer Geschlecht extra erwähnte. Du?
So einen Artikel habe ich nie gesehen. (lacht)

Würdest du das gerne sehen?
Ich wünschte, es gäbe Zeiten, in denen das kein so großes Ding ist. Es gibt nur wenige reine Frauenbands derzeit, das ist eine Tatsache. Also würde ich gerne eine Zeit erleben, in der es nicht eine solche Neuheit wäre. Nicht jedes Interview behandelt das Thema gleich, aber Ihr habt Recht, es kommt immer. Ich denke, die Zeit ist gekommen, in der wir fragen „Junger Mann, wie fühlt es sich an, als 24jähriger Mann Musik zu machen?“ (lacht) Ich würde die Frage einfach gerne mal umgekehrt sehen. Dadurch, dass es neu ist, möchte ich nicht, dass es ignoriert wird, aber anderseits muss es auch nicht das Zentrum des Interesses sein.

Ist Wild Flag deine erste reine Frauenband? Und unterscheidet es sich von deinen Erfahrungen in vorherigen, gemischten Bands?
Es ist meine erste reine Frauenband und Wild Flag ist anders als jede Band, in der ich je gewesen bin. Vielleicht liegt es daran, dass wir alle Frauen sind, aber wahrscheinlich ist es eher, wie wir über Musik fühlen und die Leidenschaft, die wir mitbringen. Die beiden Gitarristinnen und die Schlagzeugerin in dieser Band gehören einfach zu den Besten. In dem Sinne ist es anders, als jede Band, die ich davor hatte. Wir sind vier starke Persönlichkeiten. Ich denke, wenn eine von uns ein Kerl wäre, wären wir immer noch eine Band. Es ist eher ein Treffen von Herzen und Ansichten als ein Treffen von Geschlecht.

Wie du schon selber sagst, ist die ganze Rockmusik in erster Linie ein Männerverein. Wir sind selber männlich, bewegen uns in dieser Szene und sind damit Teil des Problems. Wir fragen uns, was können wir machen um das zu ändern? Oder können wir nichts machen und sind es die Frauen, die für Änderungen sorgen müssen?
Ich denke, es liegt an beiden Seiten. Ich kann hier kein gesellschaftliches Problem wie Sexismus lösen, (lacht) denn es ist eine so große Frage. Was ich aber sagen kann, ist, dass Männer und Frauen, die sich so sehen, immer etwas Sicheres, Schönes oder Harmonisches machen müssen. Das soll nicht heißen, dass sie nicht in der Lage wären, Musik zu machen, aber sie können die Musik nicht auf neue Ebenen befördern. Es soll attraktiv und nicht-konfrontativ sein.

Ich denke, es ist eine gute Sache für Frauen, solche Räume zu erkunden. Meine Band macht das und wir sind alle Frauen. Ich würde gerne mehr Frauen sehen, die sich selbstsicher und stark genug fühlen, zu sagen, was sie sagen wollen, auf die Art und Weise, wie sie es sagen wollen. Ich glaube, der Schlüssel ist, dass mehr Frauen es machen müssen, dann werden auch Leute zuhören.

Im Patriarchat scheint das weit entfernt.
Ich muss sagen, dass sich schon viel verändert hat, seitdem ich angefangen habe, Musik zu machen. Natürlich sind wir dort noch nicht. Es gab nicht so viele Musikerinnen wie heute, als ich angefangen habe. Es ändert sich, auch wenn es noch einen langen Weg zurückzulegen gibt. Aber es wird besser.

Uns erscheint es so, dass Wild Flag in erster Linie als Nachfolgeband von Carries und Janets Sleater-Kinney gesehen werden, die ja die erfolgreichste eurer vorherigen Bands ist. Insbesondere fokussiert sich das Medieninteresse vor allem auf Carrie, die zusätzlich durch ihre TV-Sendung Portlandia bekannt ist. Ist das ein Thema für euch innerhalb der Band? Versucht ihr euch vielleicht auch dagegenzustellen, indem ihr betont, vier interessante Personen zu sein?
In der Dynamik der Band sind wir alle gleichwertig. Wir haben zwei Leadsängerinnen, eine davon hat zusätzlich ein vielbeachtetes Mediending laufen. Wir stellen uns dagegen, indem wir alle Interviews geben, alle Pressearbeit machen, alle etwas zu erzählen haben und reden wollen. Wir machen das rücksichtslos. Sleater-Kinney waren eine so großartige und populäre Band, da ergibt es schon Sinn, dass wir die Hälfte der Band und ihren Sound von ihnen haben. Es ist sicher viel Carrie in unserer Musik, aber ich höre auch viel Marry, ich höre Helium in unseren Songs und auch meine Band. Akustisch ist es eine schöne Mischung aus den vier von uns und unserer Geschichte. Es ist jetzt erst unsere erste Platte, wer weiß, wohin es auf Platte zwei geht. (lacht)

Im Alter von 30 Jahren hast du deine akademische Karriere abgebrochen, um dich stattdessen vollständig auf die Musik zu konzentrieren. Hat diese Entscheidung dein Verhältnis zur Musik verändert? Wenn man darauf angewiesen ist, Platten zu verkaufen, muss es anders sein, als Musik nur als Hobby zu betreiben.
Ja, diese Band läuft so, dass ich keinen Job nebenher brauche. Ich bin schon in einer Band gewesen, mit der man auf Tour war, nach Hause kam und zwei Wochen arbeiten musste, bevor es wieder auf Tour ging. Darüber muss ich mir gerade keine Gedanken machen. Es geht mir aber weniger um das Finanzielle. Wenn ich im akademischen Bereich etwas erreichen will, möchte ich es mit meinem ganzen Herzen machen, wie ich es mit der Musik mache. Es hat mir das Herz gebrochen, zu glauben, keine Musik mehr machen zu können. Also musste ich es wieder machen.

Als ich die Entscheidung getroffen hatte, wusste ich aber noch nicht, dass diese Band eine Möglichkeit wäre. In der Richtung hat es sich sehr gut entwickelt. Die beste Sache, die ich in meinem richtigen Job erreicht habe, war meine Intention, dort einige Zeit zu bleiben und eine Karriere anzustreben, das war etwas völlig Neues. Als ich aber in die Musik zurückging, habe ich es viel mehr genossen. Als ich das erste Mal in einer Band war, schien es so, dass jeder auf Tour geht und alle veröffentlichen Alben. Alle meine Freunde machten es, ich machte es.

Ich fühlte mich nicht privilegiert, ich sah es als gegeben an, aber tatsächlich ist es eine sehr besondere Sache. Der kreative Prozess selbst ist sehr besonders, das Verhältnis zu anderen Leuten zu haben, dieses musikalische Verhältnis zueinander. Ich schätze diese Art Verhältnis sehr. Und dann rauszugehen und es mit einem Publikum zu teilen, ist ein weiteres außergewöhnliches Erlebnis, welches viele Menschen nicht haben. Was wir nun jeden Tag machen, weiß ich sehr zu schätzen. Jede Minute davon.

Ist die Musikwelt so eine Art Wunderland, das sich von der Mainstreamgesellschaft unterscheidet?
Oooohhhh neeeeeiiiin. (lacht) Nicht wirklich, eigentlich ist es ähnlich. Touren ist eine Art Blase. Man kommt mit seiner Familie aus Crew und Band zusammen. Man sieht jeden Tag die gleichen Leute, aber in einer anderen Stadt. Das fühlt sich etwas fremd zu der Person an, die jeden Abend nach Hause kommt. An dieser Stelle fühlt man eine Abgetrenntheit von der Realität. Trotzdem sind viele der Grundlagen gleich. Man geht immer noch zur Arbeit, versucht sein Bestes zu geben und freundlich zu sein. Ich würde es nicht Wunderland nennen. Außerdem ist es harte Arbeit. Das ist nicht die einfachste Art, dich auf der Spur zu halten. Dinge mit anderen Leuten zu kreieren, der Versuch die Ideen von allen zu etwas Gutem umzusetzen. Das ist die lohnenswerteste Sache, die ich je gemacht habe.

Hat deine Einbindung in diese Blase deine Art des Zu-Hause-Fühlens in Portland verändert? Und dein Verhältnis zur lokalen Community?
Ja und nein. Ich liebe es dort wirklich sehr, aber ich genieße auch den Wanderaspekt gerade sehr. Man reist, man baut auf, man spielt das Konzert und verlässt die Stadt danach wieder, von der man nur sehr wenig gesehen hat. Der Teil ist gerade wirklich großartig für meine Persönlichkeit, aber es ist nichts gegen Portland. Immer wenn ich zu Hause in Portland bin, liebe ich es. Ich fühle mich sehr mit der Community dort verbunden. Viel davon läuft über soziale Netzwerke und Emails.

Ich habe gerade erst eine Email von einer Freundin aus einer anderen Band bekommen. Sie geht auf Tour, zwei Tage nachdem ich wieder nach Portland zurückkomme. „Hey, wie geht es dir? Lass uns auf einen Drink treffen und triff dich mit einem Freund von mir in Berlin.“ Wir sprechen also noch und treffen uns, wann wir können. Ich fühle mich nicht davon ausgeschlossen.

Das Internet hat viel auf dem Level verändert. Wenn du sagst, dass du dich immer noch zu Hause in Portland fühlst, dann bist du durch keine anderen Städte gekommen, die dich so umgehauen haben, dass du Portland vergisst?
Nein. Es ist lustig, dass Ihr das sagt, denn ich liebe es zu Reisen und neue Orte zu entdecken. Wenn ich wieder fort bin, hat etwas meine Augen berührt oder mich gar umgehauen. Doch dann komme ich zurück nach Portland und liebe es wirklich dort. Ich möchte nicht sagen, dass ich dort für immer lebe, denn das weiß ich noch nicht. Aber jetzt und für die nächsten Jahre schon. Wir sind nicht verheiratet, aber sicher ist es eine Langzeitbeziehung.

Du solltest das allen Hipster-Touristen erzählen, die nach Berlin kommen und es so sehr mögen. Vielleicht sollten sie nach Portland gehen, weil es dort so schön ist.
(lacht) Portland hat schon genug Leute, die dahin kommen. Wir haben da ein gemeinsames Problem. Ich möchte niemanden dahin schicken. Eigentlich mag ich es aber auch gerne, dass neue Leute kommen und die Szene verändern, daher möchte ich es nicht zu stark verurteilen. Es ist allerdings sehr schwer einen guten Tagesjob als Barista, Barkeeper oder Kellner in Portland zu finden. Das ist alles in Portland nur sehr begrenzt vorhanden. Das ist der Weg auf dem Musiker Geld verdienen, wenn sie zu Hause sind. Es sind sehr egoistische Gründe, um mich und meine Freunde zu schützen, damit wir finanziell über die Runden kommen.

Portland soll eine Stadt mit nahezu ausschließlich Weißer Hautfarbe sein?
Ja, das kann ich nicht abstreiten. Portland ist sehr seltsam Weiß. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Es gab nicht viele Gründe nach Portland zu ziehen. Daher gab es eine Zeit lang eine sehr schlechte Unterkunfts- und Rassentrennungspolitik. Das hat bestimmt, wie die Stadt wächst und wer wo Häuser kaufen konnte. Es ist definitiv Weißer als der Großteil der amerikanischen Städte. Das ist seltsam, ich bin in Kentucky aufgewachsen und selbst das war mehr divers. Dann habe ich für eine Zeit auf den Virgin Islands und in Denver gelebt, diese Orte haben einen vielfältigen Mix aus Leuten.

Und dann kommst du nach Portland und vergisst es. Wenn ich reise, ist es schön zu sehen, dass sich nicht jede Stadt selbst verwirklicht hat. Menschen in ihren 30ern schieben die doppelten Kinderwagen, haben den perfekten Handwerker zu Hause, elektrische Autos und orthopädischen Schuhe, eben diese ein-wenig-heiliger-als-du-artige Attitüde. Ich male eine negative Sicht, aber es ist schön zu sehen, dass es noch Städte und Plätze gibt, wo sich Menschen vermischen können und urbane Städte lebenswert werden lassen. Portland ist in vielerlei Hinsicht lebenswert. Aber ich würde nicht sagen, dass Diversität der stärkste Punkt ist. (lacht)

Es muss ja einen Grund geben, warum einem bei Portland so viele großartige Rockbands einfallen, aber kein einziger Rap-Künstler.
Es gibt eine HipHop-Szene, aber die ist nicht mal innerhalb der USA bekannt. Ich denke, es sind nur wenige Leute. Dass so viele Rockbands daher kommen, liegt auch daran, dass an der Westküste Portland am erschwinglichsten ist. Es ist einfacher dort zu existieren, Mieten sind günstiger und man kann sich einen Proberaum leisten, Du kannst durchkommen und das ist sehr wichtig, wenn man versucht seine Arbeit zu machen. Das mag der Hauptgrund sein. Das Wetter ist auch gut, falls man sich nicht an sechs Monaten Regen im Jahr stört. (lacht)

Aber warum verändert es sich nicht? Es gibt so viel Hype um Portland und durch die Portlandia TV-Serie sicher noch mehr.
Es ist schon weniger erschwinglich geworden, seitdem ich dort lebe. Es ändert sich also schon. Aber San Francisco, Seattle und Los Angeles sind uns mit ihren ökonomischen Gebäudevierteln weit überlegen. Die Wirtschaft in Portland ist schwach und San Francisco oder Seattle sind sehr teuer. Wir bieten nicht viel, was große Städte bieten. Wir haben nur ein Major-League Sportteam. Wir haben kein Football oder Baseball, also gewisse Sachen, die andere Amerikaner wirklich wollen.

Ihr habt ein gutes Fußball-Team.
Ja, Portland Timbers seit ein oder zwei Jahren. Sie spielen in einem kleinen Stadion, aber für viele Spiele ist es schwer kurzfristig Tickets zu bekommen. Portland will wirklich cool sein. (lacht) Fußball ist so eine coole Sache, genau wie Radfahren. Wir stehen auf Fahrräder und ökologisch korrekte Gebäude. In Europa ist das nichts Neues, aber in Portland halten wir die Dinge wie eine Fahne hoch. Was natürlich auch gut ist. Ich unterstütze diese Sachen.

Vielleicht gehören Fußball und Radsport zur Identität von Portland, also Dinge zu machen, die Amerikaner normalerweise nicht machen.
Ich liebe an Portland, dass die Lebensqualität dort für viele Leute sehr hoch ist. Das Ziel vieler Leute, die nach Portland ziehen, ist nicht zwingend 50-60 Stunden in der Woche zu arbeiten: (angespannt) „Geh los, besorge Sachen, erledige Dinge“. Es geht eher um die Lebensqualität: (entspannt) „Ich möchte einen tollen Kaffee am Morgen, dann durch einen schönen Park gehen und einen schönen Fahrradweg“. Wenn ich einen Job als Barista habe und dort 20 Stunden arbeite, ist das alles, was ich gerade vom Leben will. Und leckeres Essen. Ich mag das, es ist in der Stadt sichergestellt, dass es gutes Essen, guten Kaffee und Fahrräder gibt.

Ist Wild Flag denn kein 60 Stunden pro Woche Job?
Ich habe gestern wirklich meinen Taschenrechner herausgeholt, um zu prüfen, ob ich einen 40 Stunden pro Woche Job habe. Dabei habe ich die Pendelzeit berücksichtigt und ich gab mir zwei Wochen bezahlten Urlaub im Jahr. Ich habe auch acht Stunden Schlaf einberechnet, allerdings bekomme ich auf Tour immer weniger davon, aber zu Hause würde ich es. Also wäre man acht Stunden zu Hause und wach am Tag. Die Zeit verbringt man mit seinen Geliebten, seiner Familie oder Hobbys. Ich habe ausgerechnet, was das Äquivalent zu 4 1/2 Monaten auf Tour wäre. Es gleicht 15 Wochen jeweils 40 Stunden arbeiten. Das setzt voraus, dass man nicht weggeht zu Konferenzen oder mal eine 60 Stunden Woche schiebt. 4 1/2 Monate zu touren ist also in Ordnung, das machen viele Bands.

Um am Ende einen Bogen zurück zum Anfang des Gesprächs zu spannen: Das Konzert heute Abend kostet 20 EUR. Viele Jugendkulturen und insbesondere Riot Grrrl hatten die Idee Musik möglichst allen zugänglich zu machen. Weiterhin wird das Konzert erst spät abends sein. Ihr übernehmt eine Vorbildrolle, aber heute Abend wird es wahrscheinlich wenige Teenagerinnern geben, die die Möglichkeit haben, zu Wild Flag heraufzusehen? Ist es in den USA vielleicht anders?
Es ist nicht so, dass diese Dinge nicht wichtig wären. Wir haben den Eintrittspreis nicht festgelegt. Wir müssen die Shows spielen, um unsere Flüge und unseren Van zu bezahlen, der uns hier herumbringt. Unsere oberste Priorität war es, überhaupt hier rüber zu kommen. Es ist für viele Bands schwer, all-ages Touren auf die Beine zu stellen. Ich weiß nicht, wie es hier ist, aber in den USA ist es schwer, Orte zu finden, an denen man all-ages Touren spielen kann. Ihr habt sicher gehört, dass die Musikverkäufe sehr niedrig sind. (lacht) Also wird Touren zur Hauptquelle des Einkommens.

Und viele Clubs verdienen ihr Geld an der Bar. Das ist nicht immer okay. Wir spielen all-ages Konzerte, wann immer wir können, das ist meine kurze Antwort. Wir können aber nicht immer all-ages spielen, wenn wir die Tour am Laufen halten wollen. Das Großartige am Internet ist, dass es Musik zugänglicher macht, für Teenager mit Sicherheit, (lacht) aber eigentlich für jeden. Wer nicht am richtigen Ort lebt oder es sich nicht leisten kann, auf ein Konzert zu gehen, kann sich die Musik kostenlos auf Spotify, Mog oder YouTube anhören.

Die Ressourcen sind da draußen für Leute, die etwas über die Musik wissen wollen. Nicht nur über uns, sondern über jede Band und das war vor 20 Jahren noch nicht so. Damals musste man physisch auf einem Konzert anwesend sein um eine Idee davon zu bekommen, wie es wohl klingen mag. Oder man musste einen Freund haben, der etwas kannte und einem eine Kassette gegeben hat, bevor man die Musik vollständig verstanden hat. Musik ist nun für jeden erhältlich, der etwas auschecken will, was in gewisser Weise cool und powervoll ist.

Heute ist es so leicht Musik zu bekommen, dass es so schwer ist, sie dabei ausreichend zu würdigen. Man hat heute keine 10 Schallplatten mehr, aber dafür 200 MP3-Alben, da bleibt nicht so viel Zeit für eine einzelne. Das ist ein Nachteil, den wir für den guten Zugang zahlen müssen.
Klar, ich bin mir sicher in meinem iTunes Platten zu haben, die ich niemals gehört habe. Vielleicht sind sie es nicht Wert, gehört zu werden, vielleicht sind sie es. Ich entdecke immer wieder neue Sachen in meinem iTunes. Es ist immer kompliziert mit Musik, Kunst und Business… Aber es ist wichtig, dass Leute die Gespräche darüber führen. Also das, was wir gerade gemacht haben. (lacht)

Vielen Dank für deine Zeit und wir sind gespannt auf das Konzert gleich.
Ich danke Euch, freue mich auch darauf.

Und ich habe euer Album übrigens als physischen Tonträger gekauft.
Danke. (lacht)

Jan Tölva / Benjamin Schlüter

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