Dezember 31st, 2021

Türkei Punk Special (#206, 2021)

Posted in interview by Jan

PUNK IN DER TÜRKEI !! ??

Die Punk und Hardcorebewegung, wurde seit jeher vorwiegend als ein westeuropäisches, amerikanisches oder am Rande noch, als ein japanisches „Phänomen“ wahrgenommen. Das im Rest der Welt, (wenn auch oftmals mit einer gewissen Verspätung), dennoch Punk und Hardcore existierte, findet in Szeneberichten oder Plattenbesprechungen (spätestens seit dem ableben des MaximumRocknRoll-Fanzines), meist nur noch marginal seine Erwähnung. Obwohl in unserer TRUST-Homebase, Mika in seinen Kolumnen, stets interessantes aus dem asiatischen Raum zu erzählen und zu berichten hat und er interviewte erst letztens, in der Ausgabe # 203, die polnische Band Trottel. Auch wurde mit dem Buch „Warschauer Punk Pakt: Punk im Ostblock 1977-1989“, etwas Licht in die Ostblockszene gebracht und von der ehem. DDR, gibt es so einige Bücher und Sampler.

Die Berichterstattung über die Türkei, kam aber stets zu kurz! Oder wer von euch TRUST-Lesern, weiß schon genaueres über die türkische Punk und Hardcorebewegung?

Dabei ist es doch gerade interessant und wichtig zu erfahren, wie es ist… Wenn du in einem streng reglementierten Machtsystem wie unter Erdogan lebst und darin ausbrechen oder dir zumindest eine eigene Welt, abseits der konservativen Normen und Dogmen erschaffen willst. Wo die Unterschiede liegen, zwischen ländlichen und urbanen Regionen? Wie es sich als Frau anfühlt, unter dem traditionellen, patriarchalischen Wertesystem, in der Türkei zu leben? Oder welche Rolle, die muslimische Religion einnimmt? Die letztere Frage wegen der Religionszugehörigkeit, traf gleich zweimal auf ein etwas ablehnendes Verhalten, indem meine Frage als orientalisch gewertet wurde. Denn schließlich scheint die Ablehnung gegenüber Religionen, auch in der türkischen Szene allgegenwärtig zu sein. Die Ablehnung gegenüber Kurden, scheint jedoch relativ weit verbreitet zu sein. Jedenfalls wollte ich mit meinen Fragen, keinesfalls alte Vorurteile bedienen, sondern vielmehr Licht ins Dunkle bringen, um diese gegebenenfalls zu relativieren oder abzubauen.

Außerdem war es mir auch sehr wichtig zu erfahren, wie Punk und Hardcore in der Türkei Fuß fassen konnte. Denn durch den Militärputsch im Jahre 1980, war dies durch unterdrückende Maßnahmen, die bis zu Gefängnis, Folter und Hinrichtung für Andersdenkende führte, noch nicht möglich und fand somit erst rund sieben Jahre später statt. Wobei mir das Szeneurgestein und der Buchautor TOLGA GÜLDALLI Frage und Antwort stand, der bereits mit dem leider nicht mehr erhältlichen Buch „An Interrupted History of Punk and Underground Resources in Turkey 1978-1999“, tiefe und interessante Einblicke, in jene Szene übermittelt.

Als weiteres Szeneurgestein ist auch Asli Akinci anzusehen, die als Sängerin mit ihrer Band TAMPON, bereits in den frühen 90ern loslegte, aber bisher nur eine Demo-CD und die „Planet Tampon“-LP veröffentlichte. Unumgänglich war auch das Interview, mit dem größten, türkischen Undergroundlabel MEVZU Records, die ihr Herz, in der D.I.Y.-Kultur verankert haben.

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Interview mit SEMIH ORHAN

Den Anfang der Interviewreihe übernimmt Semih Orhan, der als Webdesigner, hauptsächlich Bands und Plattenlabels grafisch unterstützt, in der Grindcoreband SAKATAT spielt und mit dem Konzertkollektiv ATOM KULE, schon einige Grindcorebands in die Türkei holte. Durch Semih kam das vorliegende Türkei Punk Special, auch erst so richtig ins Rollen. Denn nachdem ich in der TRUST # 198, die türkische Garageband The RAWS interviewte, sendete Dolf das Original-Interview in englischer Sprache an Semih.

Der darauf freudig und ausgiebig antwortete. Daraus entstanden noch viele weitere Informationen und so kam ich auch auf die Idee, mit Semih ein Interview zu führen. Was nur noch grundliegender und tiefer, meine Interesse erweckte, auf weitere und nähere Informationen bezüglich der türkischen Undergroundszene. Semih gab mir auch die E-Mail-Kontakte, zu Tolga Güldalli, Mevzu Records und dem Label und der Bookingagentur Wargasm Istanbul, die jedoch leider nicht auf meine Anfragen antworteten. Ein weiterer Impuls zur Motivation, kam von meinem, ebenfalls aus der Türkei abstammenden DJ-Kollegen Tankut, der mehrmals im folgenden O-Ton, den Satz erwähnte: „Hey Bela, du weißt gar nicht wie sehr es auf Punk und Garage-Konzerten in der Türkei abgeht, da würdest du nur so mit den Ohren wackeln“.

Und nachdem ich mir als Außenstehender die Livepics auf den Facebook-Seiten von Mevzu Records und Wargsam Istanbul angesehen oder vielmehr bewundert habe, glaube ich ihm jedes einzelne Wort. Denn diese Bilder übermitteln für mich, genau diesen Enthusiasmus, diese Euphorie, die Szene und Geschlechtsübergreifend in unserer Szene, durch die Überflutung an Liveacts, letztendlich etwas abhandengekommen ist. Obwohl das wiederrum vielleicht auch so ein überfüttertes, westliches Großstadtphänomen darstellt, denn die Konzerte die ich in eher ländlich geprägten Regionen so kenne, sind auch meist ziemlich laut, euphorisch und nicht von bestimmten Szenen oder Geschlechtern dominiert, oder wenn dann nur davon unterwandert…

Ein Special-Thank! geht noch an Cihan Akün, der mir bei dem Tolga Güldalli und Asli Akinci Interview, bei der Übersetzung der türkischen Sprache, ins deutsche half. Danke auch an Marco Bechtinger, für die Übersetzung der Interviews von Semih und Mevzu Records. Aber kommen wir nun zu dem Interview, mit Semih Orhan.

Hallo Semih, klär uns doch mal über deine Person auf. Wo lebst du in der Turkei? Und welche Szeneaktivitäten betreibst du?
Hallo Bela, mir geht es gut. Ich bin gerade mit der Arbeit fertig geworden und habe ein paar Platten aufgelegt und geniesse einen schönen, warmen Nachmittag hier in Bursa. Anfangs habe ich für ein lokales Metalmagazin geschrieben. Danach habe ich mein eigenes Zine herausgebracht. Ich spiele auch in einer Grindcore-Band namens SAKATAT, mit der ich einige Platten veröffentlichte und zwischen 2010 und 2013 einige Touren gespielt habe. Mit unserem Kollektiv Atom Kule, haben wir bis etwa 2015, viele tourende Grindcore-Bands in die Türkei geholt. Aber all das liegt momentan etwas auf Eis. Zurzeit bin ich sozusagen „nur“ ein Fan. Ich bin ausgebildeter Webdesigner, aber die meisten meiner Kunden, sind Bands und Plattenlabels.

Der Kontakt zu dir, kam über Dolf zu Stande. Woher kennt ihr euch und beherrschst du die deutsche Sprache, um das TRUST zu lesen?
Früher habe ich das Maximum Rock’n’Roll Fanzine in der Türkei vertrieben. In fast jeder Ausgabe konnte ich etwas über das Trust lesen. Ich glaube ich habe Dolf etwa 2012 erstmals über E-Mail kontaktiert, als ich ihm eine Platte von SAKATAT zum Besprechen schickte. Ich bin mir aber nicht sicher, vielleicht bringe ich alles durcheinander. Ich habe in der Universität einige Deutschkurse besucht, aber ich habe nie wirklich im Unterricht aufgepasst. Daher kann ich nur die Photos bewundern, wenn ich eine neue Trust Ausgabe in die Finger bekomme.

Du hattest geschrieben, dass viele tourende Bands behaupten, dass ihr Auftritt in Istanbul am besten gewesen wäre. Was denkst du macht den Reiz aus, in Istanbul aufzutretten? Oder wo denkst du liegen die Unterschiede zu anderen europäischen Städten?
Ich würde sagen, dass ich hauptsächlich in der Death Metal- und Grindcore-Szene involviert bin. In der Türkei sind die einzelnen Szenen aber nicht so sehr geteilt. Alle, die irgendwie in der Underground-Szene aktiv sind hängen miteinander ab. Ich war bis jetzt nur in etwa 20 Ländern, aber ich würde behaupten, dass die Underground-Szene in Istanbul einige der besten Metal und HC-Punk Bands sowie die hingebungsvollsten Fans hat. Meiner Ansicht nach ist die Hingabe der Menschen der grösste Unterschied. Wenn man am Ende des europäischen Kontinents ist, kommen nur die eher abenteuerlustigen Bands hierher. Aber sobald du hier spielst, merkst du dass die Stadt mehr zu bieten hat als nur einige exotische Erfahrungen. Die Tatsache, dass die meisten Bands wiederkommen, bestätigt meine Annahme. Neben Istanbul hat auch Ankara, die Hauptstadt, eine sehr etablierte Szene. Bursa oder Izmir haben Szenen, die locker mit denen europäischer Städte mithalten können.

Welche der tourenden Bands, blieben dir besonders gut in Erinnerung?
Vor der Coronapandemie hatten wir jedes Wochenende einige Shows, daher ist es schwierig, eine Auswahl zu treffen. Mir persönlich wurde bewusst, als ich Bands wie MALIGNAN TUMOUR, CERABRAL TURBULENCY oder GUIDED CRADLE anfangs bzw. Mitte der 2000er gesehen habe, dass es kein Problem ist, sich international in der Underground-Szene zu bewegen. Sowohl Mevzu Records als auch das Wargasm Kollektiv bringen jedes Jahr einen Haufen Bands in die Türkei. Daneben veranstalten sie auch Konzerte mit lokalen Bands. Du siehst, es ist viel los hier.

Klär uns doch mal bitte über die Entstehung der türkischen Punkszene auf? Wann entstanden die ersten Punkbands in der Turkei? Und gab es in den letzten Jahrzehnten, irgendwelche Hochphasen, wo mehr abging oder mehr Leute hinzu kamen?
Ich wäre ein arrogantes Arschloch, wenn ich diese Frage beantworten würde, während es Menschen wie Tolga Güldallä? gibt. Er hat ein sehr gutes Buch über die Geschichte des Punks in der Türkei geschrieben. Siehe: http://www.turkiyedepunkveyeraltikaynaklarininkesintilitarihi.com/

Wie sieht es in der Turkei mit Punkfanzines aus?
Früher gab es viele Fanzines, aber das Internet hat uns alle in faule Säcke verwandelt. Tolga Güldallä? hat auch darüber ein Buch bzw. Fanzine gemacht.

Du hattest auch erwähnt, dass sich eine wachsende Punk-Szene um Mevzu Records aufbaut und es eine Compilation mit 4 CDs gibt, auf der beinahe alle türkischen Hardcorebands vertreten sind. Wie heißt denn der Sampler und wie oder wo ist er zu erwerben?
Ich würde sagen, dass die türkische HC/Punk Szene bereits seit Mitte der 90er sehr aktiv ist. Bands wie RADICAL NOISE, TURMOIL oder ASK IT WHY haben Platten veröffentlicht und Konzerte gespielt. Die vierteilige Compilation „Zamansä?z Zerk“ von Mevzu Records beinhaltet wirklich jede HC/Punk und Grindcore Band in der Türkei. Du kannst dir die Compilation sowie andere gute Poppunk Platten auf ihrer Bandcamp Seite anhören. Eine andere gute Quelle für türkischen HC-Punk ist das Wargasm Kollektiv.

Lass uns über die derzeitige politische Lage in der Turkei sprechen: Inwiefern sind Redefreiheit und die persönliche Freiheit eingeschränkt, seit Erdogan an die Macht kam?
Meinungsfreiheit gibt es hier schon lange nicht mehr. Es ist nicht so, dass die Menschen keine eigene Meinung haben. Aber für die Regierung stellt es eine grosse Bedrohung dar, wenn Menschen sich der Opposition anschliessen. Die Regierung stellt daher sicher, dass das nicht geschieht oder öffentlich wird.

Hat Erdogans Politik die Untergrundkultur beeinflusst? Kam es zu der Schließung von Konzertorten oder anderen Schikanen gegenüber einzelnen Szeneleuten?
Die wirtschaftlichen Probleme wiegen wohl am schwersten. Mit dem stetig sinkenden Wert der türkischen Währung wird es für die Menschen immer schwieriger zu reisen, Platten zu bestellen oder auf Konzerte zu gehen. Ich befürchte, dass das irgendwann zu einer Isolierung der Szene führen wird. In der Türkei gibt es, wie in vielen anderen Ländern, eine freie Marktwirtschaft. So lange du die Steuern bezahlen kannst, darfst du auch ein Konzertlokal betreiben. Die sogenannten Terroranschläge, die serbelnde Wirtschaft sowie die steigenden Steuern auf Alkohol, hatten einen sehr grossen Einfluss auf die Musikindustrie. Es gibt aber noch genügend Lokale und Ressourcen, um die Szene am Leben zu erhalten.

Wie verhält es sich mit den Textinhalten, inwieweit stellen sich die Bands inhaltlich gegen die Regierung und wie gefährlich ist so eine kritische Haltung, in diesen Tagen?
Ich denke die meisten Bands stellen sich sehr offen gegen die Regierung. Aber die Underground-Szene ist so sehr isoliert, dass sie für die Regierung keine Bedrohung darstellt. Hingegen wird aber kommerzielle Musik, Filme und Theaterstücke so weit unterdrückt, dass sie keine politischen Themen mehr offen ansprechen können.

Ich würde behaupten dass die Punkszene im allgemeinen atheistisch eingestellt ist. Wie ist diesbezüglich die Situation in der Turkei? Glauben die Leute auf Punkkonzerten an einen Gott und wie stehst du selber zum Glauben?
Ich kenne absolut niemanden in der Szene, der religiös ist. Mir persönlich ist es egal, an was die Menschen glauben oder was sie praktizieren, so lange sie es nur für sich machen.

Du hattest geschrieben, das du in Deutschland und den Niederlanden unterwegs gewesen bist und du dir selbst, von der ach so liberalen Punkszene Vorurteile anhören musstest. Was waren das für Vorurteile und woher denkst du kommt diese undifferenzierte Geisteshaltung der Europäer?
Ich reise schon mein ganzes Leben ins Ausland, aber meine Erfahrungen in den letzten Jahren, und vor allem nach dem angeblichen Putsch, waren sehr komisch. Ich habe viele Vorurteile gespürt, sogar von Menschen in der Szene. Ich habe das Gefühl, dass die europäischen Medien einen sehr klaren Plan haben, wie sie die Türkei und die türkische Bevölkerung darstellen wollen. Dieser Plan scheint auf der Linie der türkischen Regierung zu sein. Beide wollen die Türkei vom Westen isolieren und in ein nahöstliches Land verwandeln. Mir scheint es, als werden die Resultate einer unfreien Wahl als Beweis verwendet, dass die türkische Bevölkerung hinter der türkischen Regierung und ihren Taten stehe. Daher müssen sie mit den Konsequenzen dieser Taten leben. Dabei handelt es sich nur um eine persönliche Meinung, die wie ich hoffe falsch ist.

In fast ganz Europa, wurden wegen dem Coronavirus sämtliche Konzerte abgesagt. Wie ist die Stimmung und die Situation derzeit in der Turkei?
Wir hinken etwas hinter Europa her. Was die Restriktionen anbelangt, so würde ich sagen, dass es in der Türkei nicht anders ist als im Rest Europas.

Noch ein abschließendes Wort:
Ich möchte Dolf und dir danken, für eure Interesse an der türkischen Szene. Ich hoffe, dieses Interview wird erweitert und wir können noch ein paar Kommentare, von Leuten wie Tolga und vielleicht sogar den Jungs von Mevzu Records und dem Wargasm Kollektiv aufnehmen. Wenn jemand Kontakt aufnehmen möchte, kann er mich gerne unter www.rhnsmh.com kontaktieren. Habt ihr gewusst, dass der Name „Trust“, auf türkisch „Ärger“ bedeutet? Damit lässt sich schwer leben :-). Nochmals vielen Dank und viel Respekt dafür, dass das am längsten laufende Print-Punk-Magazin lebendig und relevant bleibt!

Interview: Bela
Übersetzung: Marco Bechtinger

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Interview mit TOLGA GÜLDALLI

Den zentralen und informativsten Teil des Türkei Punk Special, nimmt das Interview mit Tolga Güldalli ein. 2007 brachte er zusammen mit dem Autor Sezgin Boynik, das Buch „An Interrupted History of Punk and Underground Resources in Turkey 1978-1999“ heraus, welches sehr ausführlich in englischer und türkischer Sprache, auf 570 Seiten die türkische Punkszene dokumentiert. Leider ist das Buch derzeit ausverkauft und Tolga sucht für eine Wiederveröffentlichung des Buches einen Verlag! Also meldet euch, wenn ihr einen geeigneten und ambitionierten Verlag dafür kennen solltet!

Die Zeitangabe 1978 – 1999 mag jedoch etwas Verwirrung stiften, denn während den späten 70ern und frühen 80ern, war es wegen des Militärputsches unmöglich in der Turkei eine Punkszene zu etablieren. Denn zu jener Zeit folgte für viele Andersdenkende Zensur, Verbote, Exil, Gefängnis, Folter oder gar eine Hinrichtung. Vor allem die Linke wurde ausgeschaltet oder ruhig gestellt. Erst ab den späten 80ern und frühen 90ern formierten sich in langsamen Schritten die ersten Punkbands, Distros und Fanzines. In dem Interview erfährt ihr viel interessantes und wissenswertes über die Anfänge und der Entwicklung, der türkischen Punk und Hardcoreszene und wie schwer und gefährlich es war, sich damit Gehör zu verschaffen. Und Tolga besitzt auch ein gutes, kritisches Auge, um die einzelnen Machtverhältnisse zu durchschauen. Aber lest am besten selbst, denn ich möchte im Vorfeld jetzt auch nicht zu viel verraten, um die Spannung auf das folgende und sehr wichtige Interview zu nehmen…

Leider ist das Buch ausverkauft. Gibt es bald einen Nachdruck davon?
Das Buch erschien im Jahre 2007 und war schon bald ausverkauft. Weil es einen sehr umfangreichen Einblick in jene Szene übermittelt und es auch kein vergleichbares, anderes Buch über das Thema gibt, erhalten wir nach wie vor viele Anfragen per E-Mails aus der Türkei und dem Ausland. Aber der Herausgeber BAS, ist kein Verlag im herkömmlichen Sinne, deswegen müssten wir für einen Neudruck, erstmal einen Verlag finden. Die meisten Verlage in der Türkei, empfinden die Punk-Underground-Kultur der Türkei als irrelevant und die wenigen die Interesse daran hätten, würden aus Kostengründen, nur eine reduzierte Version davon drucken. In diesem Sinne ist es durchaus möglich, das Buch erneut zu drucken, wenn wir einen Verlag finden, der unseren Kriterien entspricht.

Nach meinen eigenen Recherchen zu Folge, gilt Tünay Akdeniz als der Godfather of turkish Punk und es erschien von ihm posthum ein Album mit Aufnahmen von 1975-1978. Welchen Stellenwert hat Tünay und wie kam es zu seiner Vorreiterrolle für den türkischen Punk? Ist Tünay eher eine Lachnummer oder eine ernstzunehmende Person der türkischen Punkszene?
Meine Meinung zu Tülay Akdeniz in der Beziehung zu Punk, ist ein bisschen anders, als die allgemein verbreitete Ansicht. Neben seiner Musikeridentität, war er in der Undergroundszene bekannt für seinen Plattenladen, den er Anfang der 80er Jahre eröffnete. Zu dieser Zeit gab es sowohl in der Türkei, als auch in der ganzen Welt, ein großes Interesse an Heavy Metal, aber die Musik war nur sehr eingeschränkt erhältlich. Tünay kopierte die Schallplatten, die er aus dem Ausland bestellte oder mitgebracht hatte auf Kassetten und verkaufte diese in seinem Musikgeschäft. Deshalb ist er einer der ersten Personen in der Türkei, der den Heavy Metal verbreitete, was ihn den Spitznamen “Big Rocker” einbrachte. Er war mehr für diesen Aspekt bekannt und wichtig, als für die Musik, die er spielte. Aber dennoch sorgten seine alten Aufnahmen, in den 2000ern für Aufmerksamkeit. Der Plattentitel “The Godfather of turkish Punk Rock” und die Fotoshootings, die er mit Innereien gemacht hatte, dienten aber vor allem darum, um mehr Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich denke dass der Plattentitel, von der Plattenfirma für kommerzielle Zwecke verwendet wurde. Sie waren kein „Punk“, in Bezug auf die Musik oder Haltung, die sie gemacht haben.

Gab es während den späten 70ern auch schon aktive Punkbands in der Türkei? Und orientierten sich diese Bands eher nach englischen oder amerikanischen Vorbildern, oder hatten diese Bands ihren eigenen Stil? Entwickelte sich in den späten 70ern, schon eine Punkszene in der Türkei? Und wie groß und aktiv war diese Szene? Es heißt das während den 80ern, als in der Türkei der Militärputsch stattgefunden hat, es unmöglich gewesen wäre eine Punkszene zu etablieren. Wie kann man sich diese Zeit vorstellen? Welche unterdrückenden und freiheitsberaubenden Ausmaße, nahm der Militärputsch für Andersdenkende und damit auch für die Punkszene ein? Oder anders gefragt, mit welchen staatlichen Konsequenzen, hätte eine türkische Punkband in den frühen 80ern zu rechnen gehabt? Und sicherlich war es ein befreiendes Gefühl, als dann endlich der Militärputsch zu Ende war. Kann mir gut vorstellen dass zu dieser Zeit eine starke Aufbruchsstimmung existierte und für viel Kreativität sorgte.
(Ich werde die Fragen zusammen beantworten, weil sie inhaltlich miteinander verbunden sind). In der zweiten Hälfte der 70er Jahre, gab es einen Aufstieg der sozialen Opposition in der Türkei, die linke Bewegung zu dieser Zeit war sehr stark und organisiert. Um diese politische Kraft einzuschränken, gab es viele bewaffnete Angriffe und Massaker gegen die Linke, um deren Machtposition zu schwächen. Deshalb kam es nicht in Frage, in dieser Zeit über eine musikalische Jugendbewegung oder Subkultur zu sprechen. Die Auswirkungen des Militärputschs am 12. September 1980, waren schwerwiegend und hielten jahrzehntelang an. Die Erdogan-Regierung in der wir uns jetzt befinden, ist wieder ein Produkt dieses Militärputsches. Nach dem Putsch wurden viele, insbesondere linksgerichtete Menschen, festgenommen, gefoltert und getötet. Linke Kultur wurde zerstört, es wurden Bücher verbrannt, zahlreiche Filme und Musikalben verboten.

Weshalb viele Menschen, darunter auch Musiker und Künstler, ins Ausland fliehen mussten. Der Putsch hatte das Ziel, eine unpolitische und religiöse Gesellschaft zu erschaffen. Neben all diesen Verboten und der Unterdrückung, gab es zusätzlich eine große Wirtschaftskrise und die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen von der Türkei, mit der Außenwelt waren nur spärlich. Es gab nur einen Fernsehkanal und Radiosender, der gänzlich unter staatlicher Kontrolle stand. In dieser Hinsicht war auch der Zugang zu Musik aus dem Ausland sehr begrenzt. Die Leute verfolgten einige Popmusik-Magazine aus dem Ausland. In jener Zeit war Heavy Metal sehr populär im Ausland und erweckte auch Interesse in der Türkei und nach ein paar Jahren gründeten sich einige Bands und es entstand dafür ein Publikum. Die meisten Bands hatten jedoch nicht die Möglichkeit, ein Album aufzunehmen oder es zu veröffentlichen. Es war auch nicht möglich, von einer Szene zu sprechen. Das Hardcore/Punk Publikum trennte sich erst ab den 2000ern von dem Metal Publikum und begann seine eigene Szene zu erschaffen.

Was waren die ersten türkischen Punkbands nach dem Militärputsch und gibt es von diesen Bands Veröffentlichungen oder Aufnahmen?
Die erste türkische Punkband waren die Headbangers, die sich 1987 gründeten. Desweiterem waren Noisy Mob und Moribund Youth aus Istanbul, Spinners und The Guts aus Ankara, die ersten Punkbands die sich gründeten. Es gab noch einige andere Bands, die in dieser Zeit gegründet wurden, aber ich konnte keine Aufnahmen oder Information darüber ausfindig machen. Nur die Spinners veröffentlichten 1991 ein Demo. Auf dem Sampler “Sevdasä?z Hayat Ölümdür”, der in Frankreich veröffentlicht wurde, erschien ein Song von den Headbangers, der 1989 aufgenommen wurde. Der CD-Sampler bot die Möglichkeit, noch andere Songs von den Headbangers und Noisy Mob zu hören. Auch Fotos und Konzertflyer von Bands aus jener Zeit, traten erstmals nach unseren Gesprächen für das Buch in Erscheinung und wir fügten einige Fotos davon in das Buch ein.

Einen großen Teil deines Buches, nimmt die erste türkische Frauenpunkband SPINNERS ein. Weshalb war dir die ausführliche Beteiligung der Band, in deinem Buch so wichtig? Und gab es noch weitere Punkbands in denen Frauen involviert waren?
Der Großteil des Buches handelt nicht wirklich von den Spinners. Alle Bands mit denen wir sprachen, kommen in dem Buch zur gleichen Geltung. In den 90ern gab es mit Tampon, eine Band, die zu ihrer Anfangszeit nur aus Frauen bestand. In einer geschlechtlich gemischten Besetzung, existieren Tampon immer noch, einschließlich der Gründerin und Sängerin Asli. Die Band ist seit 1994/95 aktiv, aber das erste Album wurde erst 2017 aufgenommen. In diesem Sinne hat der Faktor Zeit, keine wirkliche Bedeutung in der türkischen Punkszene, weil viele Veröffentlichungen, erst später erschienen sind. Die Tampon-Platte, kann ich jeden empfehlen, der sich für Punk aus der Türkei interessiert.

Ist es schwer für Jugendliche, aus dem traditionellen, religiösen und konservativen Wertebild der türkischen Gesellschaft auszubrechen? Welche Rolle und Beachtung findet der Gottesglaube, in der türkischen Subkultur? Gibt es Leute in der Szene, die sich als Muslime bezeichnen und an Gott glauben? Und wie stehst du selber zu Gott? Siehst du dich als Atheist, oder als einen gläubigen Menschen?
Erstmal möchte ich den letzten Teil deiner Frage beantworten. Denn ich finde die Frage ziemlich Orientalistisch. Mich würde es interessieren, ob du irgendwelchen Bands aus Europa oder Amerika, die gleiche Frage nach ihrer Religionszugehörigkeit stellst. Ich denke dass, die Punk-Philosophie universell ist. Ich glaube nicht, dass ein Punk aus ä?stanbul auf andere Weise über Religionen, den Statt oder Autoritäten denkt, als ein Punk in Hamburg. Denn wenn wir den Song „Religion“ von Slime hören, deuten wir ihn nicht anders. Natürlich gibt es einen großen Unterschied, zwischen einer christlichen und einer muslimischen Gesellschaft.

Auch wenn die Türkei im Vergleich mit anderen muslimischen Ländern noch ein wenig flexibler ist, so kannst du doch in Schwierigkeiten geraten, wenn du den Islam scharf kritisierst oder eine sarkastische Bemerkung darüber machst. Du kannst dafür ohne weiteres, einige Monate, oder sogar für Jahre, deswegen im Gefängnis schmoren. Ein einfaches und absurdes Beispiel dafür ist, das ein Punk, auf eine Stadtmauer in englischer Sprache “Fuck Religion” schrieb, und dafür 5 Monate Haftstrafe erhielt, wegen “Beleidigung aller religiösen Werte”.

Der politische Islam, der mit dem Militärputsch vom 12. September 1980 an die Macht kam und mit Erdogan weiter ausgeübt wurde, verursachte durch den damit verbundenen Druck, Korruption und eine Veränderung des wirtschaftlichen Gleichgewichts, sowie eine scharfe Polarisierung in der Gesellschaft. Die Religion steht auch im Zentrum dieser Polarisierung, und die Reaktion auf Erdogan und seine Politik, hat zur Säkularisierung und Ablehnung der Religion geführt, insbesondere bei jungen Menschen, die in Großstädten und an nicht konservativen Orten leben.

Welche Themen behandelten die türkischen Punkbands in ihren Songtexten? Und kamen manche Bandmitglieder in den Knast, weil sie sich inhaltlich zu sehr gegen die Regierung auflehnten?
Soziale, politische und persönliche Themen, sowie die Bewältigung des Alltags. Es ähnelt also den Themen, die in der „allgemeinen“ Hardcore / Punk-Szene behandelt werden. In der Türkei ist die Hardcore / Punkszene jedoch nur von begrenztem Ausmaß und der Einflussbereich ist limitiert. Weil die meisten Bands auf Englisch singen, wird der Einfluss noch zusätzlich beschränkt. Deshalb denke ich, dass diese Bands, „vorerst“ noch keine Bedrohung für den Staat darstellen. Folglich kam noch nie ein Mitglied einer Hardcore / Punk-Band, wegen ihrer Texte ins Gefängnis. Jedoch wurde vor circa 10 Jahren, die Band Deli verklagt, wegen Beleidigung des Bildungssystems.

Du giltst als Urgestein der türkischen Punkszene, gibt es für dich Unterschiede zwischen der Punkszene der späten 70er, 80er, 90er, den 2000ern bis heute? Oder anders gefragt: Gab es in den letzten Jahrzehnten diverse Hochphasen in der türkischen Punkszene, wo die Szene größer und aktiver war?
Zunächst muss ich sagen, dass die Anfänge von Punk in der Turkei, erst in den späten 80ern und frühen 90ern begannen. Deshalb werde ich den Vergleich mit den 90ern beginnen, an denen ich selbst aktiv beteiligt war. Zu jener Zeit war die Punkszene noch ziemlich klein, aber es gab eine produktive Gemeinschaft von Bands, Distros und Fanzines. Wir waren alle sehr jung und weil es keine Referenzbeispiele von anderen Szenen gab, an denen wir uns hätten orientieren können, waren wir sehr experimentell. Leider waren viele Bands in den 90ern, aufgrund der damaligen, schweren Bedingungen und Umständen, sehr kurzlebig, ohne auch nur eine Platte zu veröffentlichen.

In den frühen 2000ern entstanden unter dem Einfluss der Band Athena, die im Mainstream mit ihren Pop-Punk und Ska-basierten Songs, sehr populär wurden, viele ähnliche Bands, aber die meisten von ihnen beendeten schon bald ihre Karriere, aufgrund von „kommerziellen Misserfolgen“. In den 2000ern vermehrten sich aber auch die Bands aus verschiedenen Stilen, wie Hardcore und Punk, sowie auch in alternativen Genres. Das Internet erleichterte und beeinflusste positiv den Zugang zur Musik der damaligen Bands. Die heutigen Möglichkeiten sind unvergleichlich größer als in der Vergangenheit. In Bezug auf neue Bands, Aufnahmen, Konzerte usw., gibt es heute eine größere Szene. Aber die Hardcore/Punk Szene ist immer noch ziemlich klein. Es gibt einen zerstreuten Personenkreis mit einem jedoch nur niedrigen schöpferischen Bewusstsein und obwohl die Möglichkeit besteht, sich stärker zu verbreiten, kann die Szene ihr Potential und ihre Energie nicht genügend nutzen und verbreiten.

Was sind deiner Meinung nach die wichtigsten türkischen Punkbands?
Wie ich schon sagte, hatten wir zu den Anfangszeiten eine ziemliche kleine Szene und die Beziehung zwischen Bands und Zuhörer bestand vor allem aus einem freundschaftlichen Verhältnis. Deshalb denke ich, dass es nicht richtig wäre, Hardcore/Punk Bands aus der Türkei nur wegen ihrer Musik oder ihren Lyrics zu bewerten. Die Bands, die sich Anfang der 90er Jahre formierten, waren die ersten der Szene und meiner Meinung nach, hatte jeder von ihnen eine besondere Bedeutung. Moribund Youth (Turmoil), Radical Noise, Rashit, Tampon, Crunch von den 90er Jahren und Poster-iti, Cemiyette Pişiyorum, Lifelock, In Between, Noisy Sins of the Insect, Ultimate Blowup von den 2000er Jahren kommen als Erstes in den Sinn. Hedonistic Noise, eine der Bands der neuen Ära, hat mich wirklich begeistert. Leider haben wir in den letzten Tagen eine große Trauer erlebt, weil der Sänger und Gitarrist der Band, in sehr jungen Jahren sich selbst getötet hat.

Gab es in der Türkei viele Punkfanzines? Und welche Wirkung hatten sie auf die Szene?
Die ersten Undergroundfanzines in der Türkei waren Mondo Trasho und eine Metalfanzine namens Laneth, die 1991 veröffentlicht wurden. Mit dem Laneth, stieg auch rasch die Nachfrage nach Fanzines mit Metal-Musik-Inhalten. Damals gab es kein Unterschied in der Underground-Szene zwischen Metal und Hardcore/Punk. Mitte der 90er erschienen auch immer mehr Punk/Hardcore-Fanzines. Und diese Fanzines waren ein wichtiges Instrument, um Musik zu verbreiten und Verbindungen zu ausländischen Netzwerken herzustellen.

Gleichzeitig unterschieden sie sich in den Inhalten und der visuellen Ästhetik, von anderen Musikmagazinen und leisteten einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der allgemeinen Fanzinekultur. Für diese kleine Szene, wurden relativ viele Fanzines veröffentlicht, obwohl es bei vielen Zines thematisch, eher um persönliche Inhalte ging. Es gab kein reguläres Fanzine, das die gesamte türkische Hardcore und Punk-Szene abdeckte. Heute gibt es eine zwar etablierte Fanzinekultur, aber die Anzahl der Fanzineveröffentlichungen nahmen entweder ab, oder haben fast keinen Bezug zur Szene.

Welche Möglichkeiten gab es in der Prä-Internet-Ära, sich um ausländische Punkbands zu informieren?
In der Prä-Internet-Ära, waren vor allem kopierte Kassetten weit verbreitet. In manchen Plattengeschäften wurden die LP´s oder Singles auf Kassetten kopiert und man konnte diese Kassetten auch kaufen. Aber in diesen Geschäften oder auch bei den Straßenkassettenhändlern, gab es nur die bekannteren Punk oder vom Metal beeinflussten Hardcorebands, aus England oder den USA. An Undergroundbands zu gelangen war dort nicht möglich. Aus diesem Grund führten wir einen Fanzine und Demo-Austausch mit Leuten durch, mit denen wir im Ausland korrespondierten, oder wir bezahlten ihnen Geld, damit sie uns Kassetten kopierten.

Diese Kassetten kopierten und verteilten wir dann untereinander weiter. Weil die meisten Leute keine Plattenspieler besaßen, gab es auch nur wenige Leute, die Platten aus dem Ausland bestellten. Doch wenn jemand Platten aus dem Ausland bestellte, dann wurden diese auch wieder kopiert und in der Szene verteilt. Durch diesen Austausch, lernten wir Gruppen aus vielen verschiedenen Ländern kennen. Natürlich war auch der Einfluss der ausländischen Fanzines und der darin besprochenen Platten sehr hoch und einige Monate, nach deren Veröffentlichung, haben sie auch bei uns Aufsehen erregt.

War und ist die Punkszene hauptsächlich in Großstädten aktiv, oder hat sie sich auch in die kleineren Städte oder ländlichen Regionen ausgebreitet?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir weiter in die Vergangenheit zurückkehren. Die wirtschaftliche, politische und soziale Struktur der Türkei, war nach den 1950er Jahren von vielen drastischen Veränderungen geprägt. Die Türkei begann nach dem Zweiten Weltkrieg, die strategischen Beziehungen zu den USA gegen die Sowjetunion zu vertiefen und trat der NATO bei. Diese Veränderung führte auch dazu, dass die rechten und konservativen Sektionen in der Türkei, an Stärke und Macht zunahmen.

Die staatliche Politik, die nach den 50ern verabschiedet wurde und sich bis heute erstreckt und der Urbanisierungs- und Kapitalisierungsprozess, sowie die Abwanderung aus ländlichen Gebieten und Kleinstädten in die Großstädte, brachte viel Ungleichgewicht, bezüglich der Ökonomie, Bildung, Kultur und der Bevölkerungsverteilung, zwischen den Großstädten und kleineren Städten. Dieses Ungleichgewicht hat dazu geführt, dass kleine Städte, noch konservativer geworden sind. Unter diesen Gesichtspunkten fanden Subkulturen wie „Punk“ keine Gelegenheit, außerhalb von Großstädten wie Istanbul, Izmir, Ankara und wenigen anderen Städten, in denen sich Universitätsstudenten aufhielten, zu existieren oder sich zu entwickeln. Selbst um sich als Individuum auszudrücken, fiel dies in den ländlichen Gegenden sehr schwer oder fast unmöglich.

Wie hat sich seit Erdogan die politische Situation in der Türkei verändert?
Die türkische Regierung war schon immer rechts und konservativ eingestellt und führte eine ungerechte und despotische Politik durch, gegenüber den Grundrechten und Grundfreiheiten. Infolge dieser Politik und des Militärputsches, insbesondere bei der Unterdrückung und Gewalt gegen linksgerichtete Dissidenten, wurde der Aufbau einer linkspolitischen Kultur schon seit jeher behindert. Diese Hindernisse ermöglichten es dem politischen Islam, in allen Bereichen des staatlichen und sozialen Lebens stärker zu werden. Mit Erdogans Regierung, konnte der politische Islam stärkere Strukturen ausbauen, die bis in die Finanzpolitik hineingreifen.

Die Regierung brachte eine identitätslose, konservative Bourgeoise hervor, die ihrer Ideologie nahesteht. Um ihre Macht zu bewahren, ernährt die Regierung diese Bourgeoisie ständig finanziell und hält die verarmte Gesellschaft unter Kontrolle, indem sie eine Religion benutzt. Folglich ist die Regierung zu einem autokratischen System geworden, das jeden Aspekt des öffentlichen Lebens miteinbezieht, wie Erziehung, Gesundheit, Recht, Ökonomie, Sozialleben, Wissenschaft, Kunst und Kultur. Mit der Hilfe von kontrollierten Medien und einer militanten Belegschaft dahinter, wird jede Form von Kritik unterdrückt und bekriegt.

Hat Erdogans Politik, die Undergroundkultur negativ beeinflusst? Kam es zu der Schließung von Konzertorten oder anderen Schickanen gegenüber der Punkszene?
Die Punkszene ist in politischer oder kultureller Hinsicht, nicht eine bemerkenswert, verbreitete Existenz oder “Bedrohung” für die Regierung. Andernfalls würde die Regierung sie sicherlich daran behindern. Erdogans Existenz und Politik beeinflusst nicht nur die Undergroundkultur, sondern auch der Austausch und das Zusammenleben im Allgemeinen, werden von ihm negativ beeinflusst. Aber auch aus ökonomischer und wirtschaftlicher Hinsicht, wirkt sich seine Politik, durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit und den einhergehenden Rückgang der Kaufkraft, negativ auf die Musikproduktion, den Kauf der Merchandiseartikel und der Teilnahme an Konzerten aus.

Die Abwertung von der Türkische Lira, wegen der falschen ökonomischen Entscheidungen, macht zum Beispiel auch die Buchung von ausländischen Hardcore/Punk Bands für Konzerte, fast unmöglich. Im Bezug auf die Konzertorte, hat das aber eher einen negativen Einfluss auf die Alternativeszene, anstatt auf Punkbands. Denn der Punk-Hörerkreis ist nur ein kleiner Teil des Gesamtgeschehens. Bands die Punk oder alternative Musik spielen, haben keine Möglichkeit in anderen Orten, als in Bars zu spielen. In dem Sinne sind solche Bars, die wichtigsten Auftrittssorte, um diese Musik zu verbreiten. In den 90ern und 2000er Jahren, gab es viele alternative Veranstaltungsorte und Bars.

Der Istanbuler Stadtteil Beyoä?lu wurde seiner Identität beraubt und mit Erdogans Richtlinien in ein Open-Air-Einkaufszentrum verwandelt. Aufgrund der allgemein konservativen Mentalität der Gesellschaft, die keinen Lebensraum für diejenigen anerkennt, die ihm nicht ähnlich sind, begrenzt sich die Undergroundkultur, nur auf ein paar wenige, zentrale Stadtteile wie Beyoä?lu und Kadä?köy. Wegen der kommerziellen Attraktivität dieser Stadtbezirke stiegen die Mieten in die Höhe und der Druck der Verwaltungen nahm zu. Womit es zur Schließung oder zu Verboten von Auftrittsorten führte. Ebenso kam es zu einer Erhöhung der Alkoholsteuer und es fehlt an der Unterstützung, der verbleibenden Veranstaltungsorte. Die Lage, sieht also nicht besonders gut aus und die Möglichkeit Konzerte zu organisieren wird immer schwieriger. Im Anbetracht, das in Istanbul über 16 Millionen Menschen leben, gibt es mit 3-4 Veranstaltungsorten, wo Punk und Hardcorebands spielen können, eh nur sehr wenige Freiräume.

In den deutschen Medien, kam letztens auf Arte ein Bericht über die türkische Politband GRUP YORUM, dessen Bassist und Sängerin nach einem lang anhaltenden Hungerstreik verstarben, während die restlichen Bandmitglieder in Haft sitzen. Welchen Stellenwert nimmt die Band in der Türkei ein und wie kam es zu diesem eskalierenden Ende?
Grup Yorum gründeten sich 1985 und sind mit mehr als 20 Alben, die wichtigste politische Band in der Türkei. Ihre Konzerte wurden schon hunderte Male verboten, ein Dutzend Klagen wurden gegen die Bandmitglieder erhoben, woraufhin es zu einigen Verhaftungen führte, oder andere Bandmitglieder ins Ausland geflohen sind, um dort Asyl zu beantragen. Grup Yorum definiert sich als Menschen, die revolutionäre Musik machen, um den Sozialismus zu verteidigen, und sich für „organisierte Künstler“ einzusetzen. Nicht nur durch das Musizieren, sondern auch durch die Teilnahme an Studentenprotesten und Streiks, nahmen viele Arbeiter am politischen Kampf teil und wurden zu einer Stimme gegen die faschistischen Praktiken im Land.

In diesem Sinne werden sie immer als ernsthafte Bedrohung für den Staat angesehen. Besonders in den letzten Jahren gerieten Grup Yorum, immer mehr unter dem Druck des Systems. Alle ihre Konzerte wurden verboten, das Kulturzentrum, in dem sie Musik machten, wurde durchsucht, ihre Instrumente wurden von der Polizei zerstört. Für die einzelnen Gruppenmitglieder folgten Klagen, wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation“, einige wurden verhaftet und andere auf die Fahndungsliste gesetzt. (Diese Verbote waren aber nicht nur auf die Türkei beschränkt, zum Beispiel hat auch die deutsche Bundesregierung die Konzerte, die sie in Deutschland spielen wollten, verboten.)

Fünf der verhafteten Bandmitglieder, begannen einen Hungerstreik mit dem Ziel, die Verbote und Unterdrückungen an der Band zu beenden. Helin Bölek, eine von den Vokalistinnen und ä?brahim Gökçek, der Bassgitarrist, starben in Folge dieses Hungerstreiks. Helin Bölek verlor ihr Leben an den 288. Tag ihres Todesfastens und ä?brahim Gökçek am 323. Tag. Zwar wurde er noch im Krankenhaus behandelt, aber nach zwei Tagen verstarb auch er in der Folge des Hungerstreiks bzw. Todesfastens. Leider wurde inzwischen auch ein weiteres Konzert, das sie spielen wollten, vom Staat verboten. Trotz aller Arten von Druck und Verboten ist Grup Yorum tatsächlich eine Institution und wird ihren Platz und ihre Haltung in der Musikszene und im politischen Kampf immer beibehalten, selbst wenn sich die Gruppenmitglieder ändern.

Noch ein abschließendes Wort:
Vielen Dank für das Interview. Es war mir eine große Freude, mit dem Trust zu sprechen, dass ich vor einem Vierteljahrhundert kennengelernt habe. Wer sich über die Entwicklungen in der Türkei informieren und mehr Information über die Szene in der Türkei erhalten möchte, der kann mir unter tguldalli@gmail.com, eine E-mail senden.

Interview: Bela
Übersetzung: Cihan Akün

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Interview mit Asli Akinci von TAMPON

Wie bereits in der Einleitung erwähnt, war es mir in dem Türkei Punk Special auch wichtig, das diverse Szenefrauen zu Wort kommen, um darüber einen Eindruck zu gewinnen, wie es sich als Frau anfühlt, sich in der Szene, oder vielmehr allgemein in der Gesellschaft behaupten und emanzipieren zu können. Asli ist die Sängerin von TAMPON, die sich bereits 1993 gründeten und somit zu einer der ersten Punkbands aus der Türkei zählen.

Ihr Album „Planet Tampon“ erschien über das tschechische Label Prof Sny Records und beinhaltet klassischen, pöbelnden Punkrock, der sich inhaltlich und im Plattencoverartwork kritisch und provokativ, mit seiner Umwelt auseinandersetzt. In den letzten Jahren stieg Asli bei der Postpunkband STEFFI ein, die vor kurzem eine EP veröffentlichten. Zwar bewegen sich STEFFI in etwas ruhigeren Indierock-Gewässern, aber die Musik ist dennoch sehr packend und hörenswert. Asli erwies sich als eine sehr coole, selbstbewusste und intelligente Frau und beantwortete mir Fragen zur Bandgründung, Emanzipation, Religion, Nationalismus usw.. Desweiterem habe ich auch Yaprak von POSTER-ITI und HAYWIRE DESIRE, wegen eines Interviews angefragt. Nach einer anfänglichen Interesse, ist aber schon bald wieder der Kontakt eingeschlafen und ich bekam leider keine Rückantwort von ihr.

Hallo Asli, was war für dich der ausschlaggebende Grund die Band TAMPON zu gründen? Und wo und wann gründete sich die Band?
Wir waren vier Schulfreundinnen und haben Tampon 1993 oder 94 gegründet. Wir haben festgestellt, dass dies der beste Weg ist, um die Ereignisse in unserer Umwelt und unsere eigenen Erfahrungen ausdrücken.

Ihr habt eine Platte über das tschechische Label Prof Sny Records veröffentlicht. Gab es in der Türkei kein Label für eure Band?
Es gab tatsächlich kein geeignetes Label für Tampon. Prof Sny ist sogar ein Label, das ausschließlich für diesen Zweck, von einer unserer Gitarristinnen Özge, gegründet wurde, um unseren ersten Longplayer zu veröffentlichen. Als Tampon-Family haben wir versucht, ein gutes, retrospektives Album aufzunehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt (im Jahre 2017), hatten Tampon keine richtigen Aufnahmen, wir hatten nur Videos, die unsere Freunde im Studio oder auf Konzerten aufnahmen, oder minderwertige Demotapes. In unserer Frühphase versuchten wir nicht, unsere Musik aufzunehmen, wir sahen uns als eine Live und Performance-Band und wir verteilten die selbstgemachten Konzert-Aufnahmen unter dem Publikum.

Auf dem Backcover der LP, ist ein Plastiksoldat abgebildet, der an einer Tamponschnur hängt. Wie wichtig ist dir Provokation?
Ich mag es genauso in visueller Form zu kommunizieren, wie mit der Musik. Für mich ist bildende Kunst eine bessere Ausdrucksform, als das Sprechen im allgemeinen. Und ja, ich provoziere gern mit meiner Musik. Vielleicht können wir ein kleines Erdbeben in den tauben Köpfen verursachen, denn schließlich funktioniert ein Neustart, manchmal besser als ein Reparaturversuch.

Die Platte „Planet Tampon“ liegt auch schon wieder drei Jahre zurück. Können wir bald mit einer neuen Veröffentlichung rechnen?
Wir haben vor fünf Jahren eine Dorfschule in Izmir, die seit 20 Jahren nicht mehr benutzt wurde, zu einer Lebens und Produktionsgemeinschaft verwandelt und leben/proben seit drei Jahren, in diesem hölzernen und schallabsorbierenden Club. Wir haben viele neue Songs wie „Testesferon” und „Sinyal Çek” aufgenommen, aber wir hatten nicht die Möglichkeit um sie so professionell aufzunehmen, wie das bei „Planet Tampon” der Fall war. Inzwischen haben wir uns die dafür nötige Ausrüstung gekauft, um im DIY-Verfahren, bis auf das Schlagzeug, die Songs selbst aufzunehmen.

Über befreundete Labels wie Prof Sny, Kafadan Kontak und Mevzu, können wir unsere neuen Songs nun veröffentlichen. Im letzten Jahr, haben wir den Song „Testesferon”, auf der Mevzu Records-Compilation „Timeless Infusion” beigesteuert. In dem Song geht es um eine Frau, die mit Gewalt unter Kontrolle gehalten wird. Darüber hinaus ist der auf 300 Stück limitierte DIY-Sampler “Not Your Turkish Delight”, eine exzellente Compilation. Mittlerweile haben wir eine neue Gruppe namens STEFFI gegründet und letzte Woche unsere erste EP veröffentlicht.

Wie sieht es mit den Touren aus, habt ihr auch schon außerhalb der Türkei Konzerte gespielt?
Es gibt Probleme mit dem Touren, wir wurden zwar von verschiedenen Organisatoren eingeladen, aber wir können nicht auf Tour gehen, weil es Erstens wegen unseren türkischen Reisepässen problematisch ist, das alle Bandmitglieder, die dafür benötigten Auslands-Visa bekommen und Zweitens “No Honey No Bunny” : ). Niemand in unserer Band hat genügend Geld dafür. Wenn ich für mich selbst spreche, habe ich zwischen 1998 bis 2006 in New York gelebt, deswegen gab es bei TAMPON zwei verschiedene Existenzperioden. Ich gründete Tampon in New York nicht wieder, stattdessen spielte ich dort in lokalen Bands und wirkte an neuen Formationen mit. Außerdem eröffnete ich in der Lower East Side ein Geschäft namens „Mondo Trasho”.

Seht ihr euch von bestimmten Bands beeinflusst?
Es gibt viele Bands, die ich höre und die Liste ist zu lang. 77er Punk-Bands haben uns immer sehr beeindruckt, doch ich mag auch Avantgarde-Musik. Es ist eben immer Stimmungsabhängig. An dieser Stelle möchte ich die RESTARTS erwähnen, mit denen wir in Istanbul gespielt haben. Auch ihre Energie, ihr Aktivismus und ihre Weltansicht, empfinde ich als großartig. Und natürlich dürfen auch CRASS nicht fehlen.

Welche Themen behandelst du in deinen Songtexten?
Unsere Songtexte gleichen einer Pufferzone, in einem Gefahrenbereich. Es gibt ein System, in dem wir geboren wurden, das in eine falsche Richtung geht und wir versuchen dies manchmal mit Humor und manchmal direkt auszudrücken.

Wie waren die Reaktionen? War es für dich schwer als Sängerin, sich in der Punkszene zu etablieren?
Wir mussten erstmal eine Punkszene bilden. Wir waren wie Wegbereiter und manchmal verlierst du und manchmal gewinnst du, in dieser Reise ins Unbekannte. In den 90ern, gab es gerade mal 4-5 Bands und wir taten alles, um eine Szene zu schaffen und der Weg dorthin, bestand aus Zusammenhalt und indem wir die gleichen Interessen teilten. Wir hatten keinen bestimmten Konzertort, deshalb haben wir begonnen in Nachtclubs, Rockbars oder Lagerhäusern zu spielen. Eine Identität schaffst du auch ohne Geschlecht, denn die Geschlechterrolle ist nur zweitrangig und von geringer Bedeutung. Deswegen war es mir immer wichtig, dass TAMPON keine Geschlechterspezifische Band waren und jeder der in der Band spielen wollte, seinen Teil dazu beitrug.

Ist für Frauen die Punkszene ein positiver Zufluchtsort, um sich emanzipatorisch auszuleben?
Wer es schafft, der emanzipiert sich.

Nehmen Frauen innerhalb der Punkszene, ein anderes Geschlechter-Rollenbild ein, als in der restlichen Gesellschaft?
Meiner Ansicht nach, ist das Geschlecht keine Rolle, es ist ein biologischer Zustand. Aber wenn du auf der Bühne stehst, bist du befreit, um deine Denkweisen auszudrücken.

Welche Unterschiede bestehen für Frauen die in Großstädten leben zu den Frauen, die eher in ländlichen Gegenden beheimatet sind?
Eine Person kann sich entwickeln, egal wo er/sie geboren ist. Ich ziehe es nicht vor, mich hinter Diskursen, wie dem „geografischen Schicksal“ zu verstecken, selbst wenn wir in einer fatalistischen Gesellschaft leben. Es ist schwerer für Frauen, die in ländlichen Gegenden leben, um die jeweiligen Bildungs- und Arbeitsbereiche zu erreichen und ein Leben zu erschaffen, das von anderen unabhängig ist und es ist auch schwer für Frauen, aus diesem Kreislauf zu entkommen. Wie im Rest der Welt, sind die Wünsche, Anforderungen und Erwartungen der Menschen, die in Städten leben und den Menschen, die in ländlichen Gegenden leben, sehr unterschiedlich.

Auch wenn die heutigen Kommunikationsformen von Religion und Kapitalismus assimiliert werden, ist die Natur dennoch stärker und kräftiger als wir es selbst sind. Und wir können diese Kräfte auch nicht von uns abschütteln, vielmehr werden all diese Irrtümer, durch Lebenskämpfe ersetzt werden.

Die Machomentalität ist auch in Deutschland, besonders auf Hardcoreshows weit verbreitet. Wie weit ist die Machomentalität in der türkischen Punk oder Hardcoreszene verbreitet?
Ich würde sagen: „Punk und Hardcore unity”, aber das kann ich nicht, weil die gleiche Mentalität auch hier existiert.

Wie schwer ist es für Frauen, aus dem traditionellen, religiösen und konservativen Wertebild der türkischen Gesellschaft auszubrechen?
Ich denke, es ist sehr schwierig, denn das türkische Volk, wurde nach 1980 von einer stark religiösen, konservativen und kapitalistischen Staatsmentalität, wissentlich ausgenützt und ungebildet gelassen. Und die Widerstände der Dorfbewohner, Bauern, Arbeiter und Künstler, wurden einfach ignoriert.

Welche Rolle und Beachtung findet der Gottesglaube, in der türkischen Subkultur? Gibt es Leute in der Szene, die sich als Muslime bezeichnen und an Gott glauben? Und wie stehst du selber zu Gott? Siehst du dich als Atheist, oder als einen gläubigen Menschen?
Eine türkische Redewendung, die unsere Situation erklärt, behauptet: Wir verkaufen Schnecken in einem muslimischen Viertel. Ich habe keine türkische Punkband gesehen, die Religion propagierte. Ich fragte niemand, ob er/sie Muslim ist, aber in unseren Ausweisen sind wir als Muslime eingetragen. Ich weiß nicht, ob Religionszugehörigkeiten auch in Ausweisen anderer Länder vermerkt sind. Ich denke, ein großer Teil der Gesellschaft lebt diese Religion ohne sie zu hinterfragen, nur weil sie als Muslime geboren wurden. Aber dies gilt für alle Religionen.

Religion ist das Opium des Volkes und es stimmt, dass religiöse Staaten, die naiven und tiefgläubigen Menschen ausnützen. Aber diese Situation dauert schon seit Tausenden von Jahren an und wir können dies nicht von heute auf morgen lösen, aber es ist gut, wenn wir individualistisch sind. Ich denke schon, dass wir sagen können, dass die Subkultur aus der Türkei atheistisch ist und ich persönlich sehe die heiligen Bücher als Vermittlungen von gut konstruierten Erfahrungen. Ich sah ähnliche Geschichten in dem Buddhismus, dem Hinduismus, dem Paganismus, den monotheistischen Religionen und den griechischen Religionen.

In einem älteren Trust Interview mit der deutschen Band YACOPSAE, behauptete ihr Sänger folgendes: „Andererseits sind wir inzwischen bei einigen Teilen der türkischen Szene nicht mehr sonderlich beliebt, da wir es wagten, auf unserer Split 7“ EP mit YOUR KINGDOM IS DOOMED (Istanbul) in zwei Liedern den Genozid an den Armeniern („Armenien“), sowie den Völkermord an den Kurden („Giftgas“) thematisch aufzugreifen. Eine Kakophonie an reaktionären, faschistoiden Beschimpfungen war die Folge (und ich spreche hier von Leuten, die sich als Teil der dortigen Subkultur begreifen); eine differenzierte Auseinandersetzung fand de facto nicht statt“. Ist so ein Verhalten normal und weit verbreitet in der türkischen Szene? Und wie steht ihr selber zu den Kurden?
Ich empfinde diese Situation, die diese deutsche Band erlebte, nicht seltsam. Minderheiten erleben diese Situationen, jederzeit auf der Straße, in der Schule, auf den Konzerten und im Internet, aber trotz dieser Beleidigungen, dürfen wir unsere Ideen nicht aufgeben. Wir müssen unsere Ideen sogar mehr zum Ausdruck bringen, um ein Teil der Lösung des Problems zu sein. Ich frage mich, wieso solche Leute, „sich als Teil der Subkultur identifizieren”? Das System wurde von Anfang an falsch entwickelt. Wenn die monopolistischen Mentalitäten Macht bekommen, ändern sie völlig ihre Haltung und sie beginnen destruktiv zu unterdrücken, zu zerstören und auf uns zu spucken.

Die Weltgeschichte ist voll von diesen Massakern und wir lernen in den Geschichtsstunden, dass dies gute Errungenschaften wären, um aus ihnen zu lernen. Es wäre erfreulich, wenn wir das Gedächtnis löschen und neu definieren könnten, um diesen unnötigen Aufwand der Menschheit abzuschaffen. Faschismus ist wie eine Wunde, die nicht aufhört zu bluten. Die Erde weiß nichts von den Grenzen, die darauf aufgezeichnet sind. Wir ziehen diese Grenzen mit Kriegen. Kurden sind gute Leute, ich mag sie. Meine Ansicht reflektiert leider nicht die allgemeine Einstellung. Die anatolische Kultur besteht aus der Verschmelzung von vielen Völkern. Das Leben war aufgrund der staatlichen Politik noch nie einfach, die Entwicklung konzentrierte sich auf die Städte, und die Menschen in Anatolien wanderten aus. Ich denke, dass alle Minderheiten dieses schwierige Leben teilen (einschließlich der Künstler).

Bist du neben deiner Band TAMPON, auch noch anderweitig aktiv, in der türkischen Punkszene?
Nach dem Album von Tampon, gründeten wir einen neues Bandprojekt STEFFI und wir arbeiteten an einem Album. Ich spiele Bass und singe bei STEFFI. Ich beschäftige mich viel mit bildender Kunst und studiere in einer Kunstakademie. Wir haben ein Spezialeffektstudio namens „Dükkan-ül Hayal” und produzieren SFX, Make-up und Requisiten für Filme.

Wie hat sich die Situation allgemein für Frauen verändert, seit Erdogan an der Macht ist?
Mit Erdoä?an lebt die Türkei den arabischen Frühling. Es existiert ein Druck innerhalb der Familien und der Nachbarschaften. Frauen mit Kopftüchern in den öffentlichen Orten haben sich vermehrt. Die Besitzer des Geldes haben sich ausgewechselt und eine islamische Revolution tritt fühlbar näher, an die breite Gesellschaft heran.

Noch ein abschließendes Wort oder Lebensmotto:
No borders, no nation, stop deportation.

Interview: Bela
Übersetzung: Cihan Akün

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Interview mit MEVZU RECORDS

Weil Mevzu Records auch internationale Releases veröffentlichen und viele Bands auf dem Label nicht aus der Türkei abstammen, ist es schwer zu sagen, wie groß oder aktiv, die türkische Undergroundmusikszene im allgemeinen ist. Aber im Anbetracht der dreiteiligen Samplerreihe, „….“, mit 140 (!) Songs/Bands, scheint in der Türkei doch einiges abzugehen. Und das Label versteift sich jetzt nicht auf die genretypischen Subgenres, der Punk und Hardcorecommunity, sondern ihr musikalischer Horizont ist sehr breitgefächert, als würden sie den ganzen, türkischen Underground abdecken. Wie auf den Fotos (oder dem YouTube Video) zu sehen ist, positionieren sich die Labelmacher, voll und ganz im Herzen und Idealismus, der D.I.Y.-Kultur und es scheint bei den Stückzahlen von 30-50 Exemplaren, auch kein Wertedenken von möglichst hohen Stückzahlen zu geben. Ein überaus sympathisches Label.

Klärt uns doch mal auf, wer steckt hinter Mevzu Records? Wann hattet ihr das Label gegründet? Und wie viele Releases sind bisher entstanden?
Mevzu Records wurde von zwei Leuten gegründet. Später wuchs es auf acht Mitglieder und deren Freund*innen an. Beteiligt sind aber nicht nur die Kernmitglieder, sondern auch viele Leute, die Platten veröffentlichen, Artworks gestalten oder Videos machen. Jedes der Kernmitglieder spielt eh in mindestens einer Band auf dem Label. Wir können aber keine Namen nennen, weil einige Institutionen und Personen, deren Missetaten wir aufgedeckt hatten, vor Gericht gegangen sind. Auf www.mevzurecords.com kannst du mehr Details darüber erfahren.

Wenn ich eure Bandcamp-Seite durchschaue, habt ihr von jeglicher Stilrichtung etwas zu bieten, von Grind und Hardcore, Punk und Poppunk, Emo, Screamo und sogar einen Rapkünstler konnte ich ausfindig machen. Gibt es irgendwelche Auswahlkriterien, nach denen ihr eure Veröffentlichungen oder Musiker aussucht?
Auf dem Label sind verschiedene Genres erschienen, von Skate Punk über HC-Punk, Post-Hardcore, Screamo, Rap, Folk Punk, Grindcore, Crust Punk bis Elektronika. Die Bands kommen unter anderem aus der Türkei, Deutschland, Südamerika, Schweden, Malaysia. Uns geht es mehr um die Haltung der Bands als um die Musik selber. Wir haben keinen Platz für Faschist*innen, Dummköpfe und diskriminierendes Verhalten.

In welchem Format veröffentlicht ihr eure Releases? Als Vinyl, CD, Kassette oder Digital?
Wir veröffentlichen alles DIY. Meistens sind es CDs oder CD-Rs. Für DRUNKTANK (Niederlande) und MALVINA (Brasilien) haben wir auch Vinyl gemacht. Wir planen, einige Releases auch in einer limitierten Version auf Kassette zu veröffentlichen. Alle unsere Veröffentlichungen gibt es auch auf YouTube, Bandcamp und Spotify. Wir haben auch ein Video gemacht, wie wir unsere CD-Rs produzieren: https://www.youtube.com/watch?v=bbnp_3k43Eo

Wie hoch sind die Stückzahlen eurer Releases? Und wie sieht es mit dem Vertriebsnetz aus? Ist es schwer eure Releases im Ausland zu vertreiben?
Wir produzieren meistens 30-50 Stück. Wenn die erste Edition ausverkauft ist, machen wir eine zweite Pressung. Wir vertreiben unsere Sachen nur über das Internet und auf Konzerten. Es ist ziemlich schwierig, die Releases im Ausland zu vertreiben, wir machen es aber trotzdem. Ein Euro ist etwa neun Lira wert.

Welche Releases kannst du uns besonders ans Herz legen?
ABSTRACT SENSE – „Realm“. War nur ein Witz, es ist nicht gerade unsere unbeliebteste Veröffentlichung, aber der Typ ist ein ziemlicher Vollidiot. Die Platte ist aber ganz gut. Ich lege dir wärmstens unsere „Turkish Punk Anthology“ ans Herzen, wo wir 140 Bands von den 90ern bis jetzt drauf haben. Aber all unsere Platten sind ziemlich gut.

War und ist die Punkszene hauptsächlich in Großstädten aktiv, oder hat sie sich auch in die kleineren Städte oder ländlichen Regionen ausgebreitet?
Leider ist die Punkszene in der Türkei nur in den grösseren Städten wie ä?stanbul, ä?zmir, Ankara, oder Eskişehir aktiv. In den kleinen Städten ist kaum was los, weil die Menschen in die großen Städte ziehen.

Ihr organsiert auch Konzerte. Wo finden die Konzerte statt und ist es schwierig für Punkbands einen Auftrittsort zu finden?
Wir organisieren unsere Konzerte in DIY-Lokalen, von denen es leider nicht so viele gibt. Also müssen wir alles irgendwie zusammenschustern, aber die Konzerte sind dann auch sehr authentisch und spassig.

Wo liegen die Hot Spots in der Türkei, also die Orte an denen es an meisten Bands gibt und die meisten Konzerte stattfinden?
Istanbul, und ein wenig in Ankara.

Wenn ich mir eure Konzertfotos auf Facebook anschaue, habe ich den Eindruck, eine sehr agile und lebendige Szene vorzufinden. Ich sehe viele euphorische, grinsende Gesichter und ein gut durchmischtes Publikum. Wie würdest du die türkische Szene umschreiben?
Wir lieben die Energie der Szene in der Türkei. Das ist alles.

Ist es schwer für Jugendliche, aus dem traditionellen, religiösen und konservativen Wertebild der türkischen Gesellschaft auszubrechen?
Wir wissen es nicht…Wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben.

Ist es schwer als türkische Band sich in den Textinhalten, gegen die Regierung zu stellen? Gab es Bands auf eurem Label, die Ärger mit staatlichen Repressionen hatten, indem z.B.
Die Bands werden nie so bekannt, dass es jemanden interessieren würde. So können wir entspannt unser Ding machen.

Lass uns über die derzeitige politische Lage in der Türkei sprechen: Inwiefern sind Redefreiheit und die persönliche Freiheit eingeschränkt, seit Erdogan an die Macht kam?
Wir glauben, dass die individuelle Freiheit, oder besser deren Mangel, von Anfang an ein Problem in diesem Land war. Es wird einfach nur sichtbarer, weil wir im Zeitalter der Information und Kommunikation leben.

Hat Erdogans Politik die Untergrundkultur beeinflusst? Kam es zu der Schließung von Konzertorten oder anderen Schikanen gegenüber einzelnen Szeneleuten?
Er hat ganz andere Probleme, bevor es uns jemals erreichen wird: )

Ich würde behaupten, dass die Punkszene im allgemeinen atheistisch eingestellt ist. Welche Rolle und Beachtung findet der Gottesglaube, in der türkischen Subkultur? Gibt es Leute in der Szene, die sich als Muslime bezeichnen und an Gott glauben? Und wie stehst du selber zu Gott? Siehst du dich als Atheist oder als einen gläubigen Menschen?
Das ist eine ziemlich orientalistische Frage.

In einem älteren Trust Interview mit der deutschen Band YACOPSAE, behauptete ihr Sänger folgendes: „Andererseits sind wir inzwischen bei einigen Teilen der türkischen Szene nicht mehr sonderlich beliebt, da wir es wagten, auf unserer Split 7“ EP mit YOUR KINGDOM IS DOOMED (Istanbul) in zwei Liedern den Genozid an den Armeniern („Armenien“), sowie den Völkermord an den Kurden („Giftgas“) thematisch aufzugreifen. Eine Kakophonie an reaktionären, faschistoiden Beschimpfungen war die Folge (und ich spreche hier von Leuten, die sich als Teil der dortigen Subkultur begreifen); eine differenzierte Auseinandersetzung seitens der Türken fand de facto nicht statt“. Ist so ein Verhalten normal und weit verbreitet in der türkischen Szene? Wie steht ihr selber zu den Kurden und gibt es auch kurdische Punkbands auf eurem Label?
Das ist normal, weil das faschistische Gedankengut überall hin vorgedrungen ist. Die Türkei ist da keine Ausnahme. Der Schlagzeuger einer der grössten Mainstreampunkbands in der Türkei steht auf einem Photo neben einem Vollidtionen mit SS Tätowierung. Er scheint vor Stolz darüber fast zu platzen. Der Sänger einer Band, die sich für die erste Punkband der Türkei halten, ist ein Faschist und erklärter Gegner der Kurden. Er macht das im Internet sehr deutlich. Wir haben keine Meinung über Rasse, aber über Rassist*innen. Sie können sich alle ins Kreuz ficken.

Interview: Bela
Übersetzung: Marco Bechtinger

 

 

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