Dezember 31st, 2021

TROTTEL (Label und Band) (#203, 2020)

Posted in interview by Thorsten

Es gibt Orte, Städte oder ganze Länder, für die interessiere ich mich relativ wenig. Die meisten osteuropäischen Staaten gehörten lange Zeit dazu. Ungarn, Rumänien, Bulgarien, alles Länder, aus denen mir über viele Jahre weder viele Menschen noch interessante Musik begegneten. Berufliche Gründe führten mich allerdings im Januar 2015 erstmal nach Ungarn. Im Vorfeld versuchte ich ein paar Punkkonzerte oder Plattenläden ausfindig zu machen, doch außer einigen Second Hand Läden und den gleich im Interview erwähnten Wave Records Plattenladen war ich nicht wirklich erfolgreich. Sagen wir mal so, ich habe eine Second Hand Platte von Aurora (Punk) erstanden sowie jeweils eine Single von The New Dead Project (Hardcore) und Norms (Hardcore). An dem Wochenende selbst war leider auch nicht viel los, außer das drei im weitesten Sinne Ska-(Punk-)Bands spielten, darunter Boogie Mamma, Kett? Kett? und Super Starsky. Die Show war ganz okay, aber das Publikum eher Abi-Feier-Style und der „Humor“ der Band erschloss sich mir als nicht ungarisch-sprachiger nicht wirklich. Es dauerte daher einige weitere Jahre und ein paar Texte über Punk in Ungarn (z.B. in den Büchern von Alexander Pehlemann), als ich vor circa drei Jahren auf die Pajtás Daloljunk Sampler-Reihe traf, die Trottel Records mit herausbrachte. Angefixt kontaktierte ich Tamás und es entstand ein kurzer Email-Austausch. Daraus wiederum resultierte die Idee eines Interviews. Viel Spaß beim Lesen!

Lieber Tamás, lass uns mit dem Gespräch über Punk / Hardcore in Ungarn beginnen. Wann hat alles begonnen und wie bist Du Anfang der 80er Jahre mit Punk in Berührung gekommen? Wie hast Du Punkrock entdeckt? Was war der erste Song, den Du hören konntest? Und wo? Was waren die ersten Bands, die Du live sahst?

Zum Punk kam ich als 15jähriger über einen älteren Typen vom Gymnasium. Er war der einzige Punk an der Schule und nahm mich 1981 zu einem Punk-Gig in einem Vorort von Budapest mit. Die Band spielte Ramones-Cover. Von ihr habe ich danach nie wieder etwas gehört. Die ersten Songs, die ich hörte, waren von den Sex Pistols sowie den Ramones. Sofort war ich fasziniert von der Energie und dem Charisma dieser Bands. Wir wussten damals nicht viel über Punk. Einige Informationen bekamen wir von dummen Jugendmagazinen, die normalerweise völlig falsche Sachen schrieben. Aber immer mehr junge Leute wurden von dieser neuen Energie und dem Radikalismus gegenüber der Politik und auch gegenüber unserer Elterngeneration, den alten Leuten, gefesselt.

Korrigier mich, wenn ich falsch liege, aber ich habe im Internet einige widersprüchliche Informationen bzgl. Deinen Bands gefunden. Bei Marina Revue hast Du von 1984 bis 1985 gespielt. Ihr geltet als eine der ersten, wenn nicht die erste Hardcore-Band Ungarns. Wie fandest Du Leute für eine Hardcore-Band? Warum gab es Marina Revue nur ein Jahr?

Ich begann bald darauf in Bands zu spielen. Ich traf einen Punk auf einem Rockfestival, der mich als einen weiteren, anderen Punk unter den ganzen Rockern fand. Er fragte mich, ob ich in seiner Band namens „Rottens“ spielen wolle. Da ich bereits einen Bass gekauft hatte, sagte ich: „Ja!“ und trat der Band mit einem Freund bei, der eine Snare Drum hatte. Rottens spielten den ersten Auftritt im Oktober 1981 und den zweiten im November 1981. Das dritte Konzert wurde zu einer totalen Katastrophe. Etwa 400 Leute kamen in diesen kleinen Club, denn wenn es damals ein Punkkonzert gab, kamen einfach alle mit. Im Club war diese sehr punkig aussehende Menge und die Polizei wusste nicht wirklich, wie sie damit umgehen sollte. Ein paar Tage später wurden wir als Band in die Jugendabteilung der Polizei „eingeladen“ und durchliefen eine lange Befragung über unsere Texte usw. Schließlich wurde der Sänger wegen Provokation gegen den sozialistischen Staat verhaftet. Da wir Anderen erst 15 Jahre alt waren, konnten wir nach der Registrierung die Polizei wieder frei verlassen. Gleichzeitig bedeutete das das Ende meiner ersten Band „Rottens“.
Anfang 1982 gründete ich mit den Anderen dann Trottel. Wir wählten den Namen aus einem deutschen Wörterbuch, weil wir einen hart klingenden Namen wollten. In diesem Wörterbuch bedeutete Trottel „schizophren“ und „verrückt“. Damals konnte eine kleine Punkband alle zwei bis drei Monate in verschiedenen kleinen oder universitären Clubs spielen, die Punks rein ließen, dann wieder schlossen, einen anderen eröffneten und so weiter. Wir waren gezwungen die Texte aufzuschreiben, aber normalerweise schrieben wir nur irgendeinen Schwachsinn. Im Herbst 1983 sagte eines Tages unser Schlagzeuger, der ein älterer Typ war, dass er nach Jugoslawien geht, um Platten zu kaufen und zwei Wochen später bekamen wir einen Brief von ihm aus dem Flüchtlingslager von Traiskirchen (Österreich). Er wanderte schließlich nach Australien aus.
1983 war ein hartes Jahr für die wachsende Punkszene. Zu dieser Zeit war die Geheimpolizei schon bei allen Auftritten, schnitt die Konzerte mit, zitierte die Bands in die Politik-Abteilung und registrierte alle. CPG (Anm. Mika: ungarische Punkband, die 1983 eines der ersten Punk-Demos veröffentlichte) wurden schließlich wegen ihrer Texte ins Gefängnis gesteckt. Auch auf dem Land und in anderen Städten litten Bands wie Agydaganat aus Nyiregyhaza, Auróra aus Györ oder Közellenség verstärkt unter der Aggression und Repression der Behörden. Viele Menschen sind dann schließlich ausgewandert.

In dieser Situation kam Ende 1983 ein französisches Mädchen namens Lucile Chaufour (Anm. Mika: Auf Youtube finden sich u.a. Ausschnitte aus der Doku „East Punk Memories“ von ihr) nach Ungarn und nahm einen Dokumentarfilm über einige ungarische Punks namens „T34“ auf. In dem Film sind Interviews mit Bands, aber da es eine Zeitlang keine Konzerte mehr gab, konnte sie nur die Bandproben filmen. Dieser Film ist seither die einzige Filmdokumentation über ungarischen Punk zu Beginn der 1980er Jahre.

Gleichzeitig war dies das Ende des Jahres 1983 und auch das Ende der ersten Periode von Trottel. Nach langer Suche konnten wir keine*n neue*n Schlagzeuger*in finden, also beschlossen wir, aufzuhören. Im Frühjahr 1984 gründeten wir Marina Revue mit Freunden, die aus anderen Bands, wie T34 und QSS, kamen. Dies war – nach den Aussagen der Leute aus der Szene – die erste ungarische Hardcore-Band, aber wir hatten nicht viele Informationen über die wirkliche Hardcore-Bewegung und deren Ideen. 1984, als ich 18 wurde, verließ ich Ungarn. Ich wollte nach Frankreich auswandern. Aber nach einem halben Jahr in elendiger Situation warfen mich die französischen Behörden raus, so dass ich wieder in Ungarn landete. Die Zeit in Frankreich war wirklich ein politischer, sozialer und kultureller Schock für einen 18-Jährigen, der hinter dem Eisernen Vorhang aufgewachsen war. Aber zeitgleich bekam ich alle möglichen Einflüsse durch die Musik, die ich kennen lernte. Ich hörte Bands wie Subhumans, die Punk auf eine andere, komplexere Art und Weise und mit komplexeren Texten spielten. Ich hatte das Gefühl, dass das eher meine Richtung ist.
Marina Revue endete so im Jahr 1985. Die Leute schlossen sich anderen Bands wie VHK, AMD oder Tizedes an und ich reformierte Trottel mit einem ganz neuen Konzept. Diesmal begannen wir, mit immer mehr Leuten aus der Punkszene im Westen zu korrespondieren und all diese Leute schickten uns Fanzines, Platten, Kassetten und immer mehr Informationen über die so ungefilterte Punkszene. Es war wirklich faszinierend, all das zu sehen, die Fanzines, die kleinen Radioshows, die DIY-Labels überall. Wir wollten ein Teil davon sein. Wir gründeten unser Label, Trottel Distribution. Das war zu dem Zeitpunkt natürlich illegal, da jegliche Vervielfältigung von Druck- oder Tonmaterial verboten war.

Es gibt viele Mythen über Budapest. In den 1910er und 1920er Jahren gab es eine große Szene von Intellektuellen, Kreativen, Künstler*innen und freien Köpfen, die in der Stadt lebten oder sich eine Zeit lang dort aufhielten. Auch die jüdische Gemeinde war groß und beeinflusste europäische Künstler*innen. Budapest war – im positiven Sinne des Wortes – ein liberaler Ort. War dies in den 1980er Jahren noch erkennbar? War Budapest anders als andere Städte wie Prag oder Warschau? Es war ja nicht mehr lange hin, bis der Eiserne Vorhang fiel. Soweit ich weiß, war Ungarn im Vergleich zur DDR, zu Polen oder gar Rumänien relativ fortschrittlich. Wie war die Situation bis 1989? Wie frei seid ihr gewesen, das zu tun, was ihr wolltet?

Insgesamt erinnere ich mich an das Budapest der 1980er Jahre nur als einen wirklich dunklen, tristen Ort. Aber wir können sagen, dass die Underground-Szene ziemlich groß war. Neben den vielen jungen Punkbands war eine Welle von punkigen Avantgarde-Bands sehr aktiv, wie Kontroll, Bizottság, die alle aus einer älteren Generation als wir kamen. Es gab viele experimentelle Bands. Aber Punk hatte auch Auswirkungen auf die Mode. Avantgarde-Designer*innen experimentierten mit allen möglichen, seltsamen Kleidern und Materialien. Sie organisierten seltsame Auftritte, zum Beispiel in türkischen Bädern und so weiter. Auch die ungarische, demokratische Opposition wuchs. Sie entschieden sich für politische Aktivitäten und veröffentlichten illegalerweise zum Beispiel die damals verbotenen Bücher, wie Farm der Tiere (George Orwell), 1984 (George Orwell) oder die Bücher von Milan Kundera. Alternative Theater gab es ebenso wie das Studio K., das verbotene Stücke aufführte. Wir hatten keine Ahnung, wie es in Prag oder Warschau war. Nach der Mitte der 1980er Jahre änderten sich die Dinge allerdings auch langsam. Ich glaube, der Staat hatte viel größere Probleme, als weiterhin zu verfolgen, was die Untergrundszene tat. Langsam entstanden mehr Konzertmöglichkeiten in Jugendzentren. Einige ausländische Punkbands kamen nach Ungarn. Es gab sogar einen Laden namens „Hunky Punky“, in den sogar Leute aus Osteuropa kamen, um punkiges Zeug zu kaufen, Abzeichen und so weiter. Es war ein kommerzieller Laden.

Als Trottel begannen wir langsam ab dem Jahr 1987 in Städten wie Miskolc, Debrecen und anderswo außerhalb von Budapest zu spielen. Keine Punkband in Budapest wurde wirklich mehr von der Polizei schikaniert, auch wenn es in anderen Städten noch hart war. Als wir das Total 87 Punk-Fest in einem Dorf organisierten, kam immer noch ein Polizeihubschrauber, um die Bauern vor den wenigen hundert Punks zu verteidigen. Viele von denen wurden am Ende verprügelt, aber so etwas passierte nicht in Budapest. Unser kleiner Vertrieb wurde sicherlich verfolgt und beobachtet, jedes Paket kam offen an. Aber Sachen, die wir bekamen oder schickten, verschwanden immerhin nie. Wir hörten alle möglichen seltsamen Geschichten aus anderen Ostblockländern: wie von Punkbands, die in Kirchen in (Ost-) Deutschland spielten und so weiter.

Wie groß war die Punk-/Underground-Szene in diesen frühen Jahren?

Ende der 1970er Jahre brachten Bands wie Spions und VHK, wesentlich ältere Jungs, einen neuen Zugang zur Musik und einen gewissen Radikalismus ein. Aber zu dieser Zeit war die Polizei mehr damit beschäftigt, sich mit der Rockszene zu befassen. Es gab einige sehr populäre Hardrock-Bands, die Tausende von Fans hatten, die ihnen überall hin folgten, als es den Bands verboten wurde in Budapest zu spielen. Ab 1980, mit einer jungen, neuen Generation, kam die eigentliche Punkwelle mit immer mehr jungen, wütenden und lauten Punkbands. Bis 1982 beobachteten die Behörden dieses neue Phänomen meistens nur. Sie begnügten sich damit, jede Band und jeden Einzelnen zu registrieren. Budapest war ziemlich „liberal“ im Vergleich zu anderen Städten, in denen die Behörden kein „abgrenzendes“ Verhalten mehr zuließen, dass über seltsame Blicke hinausging. Diese „Outlaws“ wurden oft von der Schule oder aus dem Beruf geworfen.

Trottel begann als Punkband und spielt heute mehr psychedelische Rockmusik. Wie ist das Feedback? Kommen immer noch ältere Leute zu Euren Shows? Spielt ihr noch die alten Punk-Klassiker?

Nein, die spielen wir nicht mehr. Trottel ist eine Band, die immer nach vorne schaut. Die musikalische Herausforderung ist zu groß, um zurückzuschauen und alte Sachen zu spielen. Das war eine wichtige Periode mit wichtigen Ereignissen in unserer Band-Geschichte und mit den Texten, die damals geschrieben wurden. Es gibt keinen Grund zurückzuschauen. Ich hoffe, dass ich noch etwas kreative Zeit vor mir habe, bevor ich mich in die Nostalgie zurückziehe. Ich habe nichts gegen Bands, die das tun, aber das war und ist nicht meine Motivation.

1989 habt Ihr angefangen mit Trottel live zu spielen. Das französische Label On A Faim! veröffentlichte 1989 eine Kassette („In Concerto A Torino“), 1989 eine 12″ auf X-Mist („You Sincere Innocence“) und 1991 eine Platte auf X-Mist („The Final Salute In The Name Of Human Misery“) in Zusammenarbeit mit Nikt Nic Nie Wie (Polen, s. Trust #200) und Malarie Records (Tschechien). Ihr ward also recht früh gut vernetzt. Ich habe gelesen, dass ihr, weil ihr das Land nicht verlassen durftet, angefangen habt, an Menschen in der ganzen Welt zu schreiben. Wie bist Du mit On A Faim! und X-Mist in Kontakt gekommen und wie war die Zusammenarbeit mit NNNW und Malarie?

1984 nahm mir die Polizei aufgrund meiner Auswanderungserfahrung meinen Pass ab und entzog mir das Ausreiserecht. In all diesen Jahren haben wir dank der Korrespondenz Hunderte von Menschen aus der internationalen Punkszene kennen gelernt. Als ich Ende 1988 meinen Pass zurückbekam, begannen wir mit der Hilfe all dieser Leute aktiv zu werden, Platten zu machen und zu touren. Mit einigen von ihnen arbeiten wir seitdem zusammen.

Du hast schon gesagt, dass Ihr 1985 in Budapest das Label Trottel Distribution als Kassettenvertrieb gegründet habt. Soweit ich weiß, waren bereits einige Punkbands aktiv und mit AMD und Marina Revue auch Hardcore-Bands. Was war Deine Motivation? Wie war die Reaktion von Freund*innen? Wie kamt ihr in Kontakt mit Leuten innerhalb von Ungarn und außerhalb?

Okay, zurück zu Trottel Distribution: Wir waren total erstaunt über all das Zeug, das wir aus dem Ausland bekommen haben. Auch von Dolf und vom Trust übrigens! Wir wollten ein Teil von all dem sein. Wir kauften leere Kassetten und nahmen alle Punkbands der Stadt mit einem Hitachi-Doppelkassettendeck auf und zwar in unserem Zimmer im Haus der Mutter unserer Sängerin. Das war irgendwo in einem kleinen Dorf in der Nähe von Budapest, wo wir wohnten. Dann erstellten wir die Cover von Hand und gingen zum Fotokopieren an verschiedene Orte in der Stadt, weil es verboten war, größere Mengen von etwas herzustellen. An allen Orten machten wir nur fünf Kopien der Cover. Unsere ersten selbstgemachten Produktionen waren neben unseren eigenen ersten Trottel-Demokassetten, einer Reihe von Kassetten, die wir „Pajtas daloljunk“ („Lasst Genossen singen – kommunistische Jugendlieder“) nannten. Wir schickten all diese Kassetten in die ganze Welt und lernten im Gegenzug immer mehr über die DIY-Punk- und HC-Szene außerhalb Ungarns kennen. Um ehrlich zu sein, hatten viele unserer Freund*innen vor Ort keine Ahnung, warum wir das taten. Es gab sogar einige Gerüchte, dass ich von dem Geld einen neuen Bassverstärker gekauft hätte. Es gab eine Zeit zu Beginn, wo das alles eher negativ begleitet wurde. Aber nichts konnte unsere Begeisterung bremsen und langsam hatten wir Ende der 1980er Jahre auch in Ungarn einen sehr kleinen Kreis von Leuten, die begannen, unsere Tapes zu vertreiben. Einige Fanzines wurden gestartet und wir hatten auch eine Mini-DIY-Szene im eigenen Land.

Du hast es schon gesagt: Als Du anfingst war es nicht erlaubt, ein unabhängiges Label in Ungarn zu betreiben. Du hast 1985 mit dem Vertrieb begonnen, woraus ja später Trottel Records wurde. Magst Du noch mal was zu der Motivation schreiben? Was musstet ihr riskieren? Wie konntet ihr Schallplatten / Tapes produzieren?

Zunächst einmal wollte ich das immer schon machen. Nicht nur Musik spielen, sondern auch eigene Platten etc. machen. Ab 1986 wurden wir zu groß und die beiden guten alten Hitachi-Geräte reichten nicht mehr aus, um alle Tapes produzieren zu können. Tatsächlich dachten wir nicht wirklich darüber nach, was wir ernsthaft riskierten. Wie ich schon sagte, die zweite Hälfte der 1980er Jahre war viel, viel softer. Die Polizei konnte einer kleinen Sache, wie wir es waren, nicht mehr so viel Aufmerksamkeit schenken. Sie begnügten sich damit, nur zu überwachen. Als dann unsere ersten Platten in Frankreich mit Gougnaf und in Deutschland bei X-Mist herauskamen, konnten wir nur 100 Kopien über die Grenze schmuggeln. Also suchten wir nach einer kleinen Tape-Fabrik und stellten hier Kassetten her, immer noch illegal. Als sich das System dann änderte, konnte es nicht mehr so weitergehen. Wir beschlossen 1992 ein offizielles Label zu werden. So entstand Trottel Records als eines der ersten unabhängigen Label in Ungarn. 1992 gab es ansonsten nur noch die staatliche Plattenfirma mit dem Monopol der Herstellung von Tonmaterial.

1991 habt ihr die erste Platte von Leukémia, einer lokalen Hardcore-Band, veröffentlicht. Wie viel die Wahl auf die Band?

Leukémia war eine der ersten HC-Bands hier und sind bis heute ein wichtiger Farbtupfer der hiesigen Szene. Wir haben Leukémia im Jahr 1987 auf unserer „Pajtás Daloljunk“-Kassette aufgenommen, aber das erste Leukémia-Album, „Close to the headbender-machine“, dass Du erwähntest (Anm. Mika: Für Trottel Records Reviews, schaut in die Hefte #199 / #200), war schon die dritte Veröffentlichung von Trottel Records im Jahr 1993. Dieses Album ist für mich eines der kreativsten und energetischsten Alben, die es je in diesem Stil gab. Es musste einfach veröffentlicht werden. Die Aufgabe eines Underground-Labels ist es – in meiner Vision – auch, die Gegenwart zu dokumentieren, vor allem den musikalischen Teil der nichtkommerziellen Kultur. Deshalb entstanden die ersten „Pajtás-Daloljunk“-Kassetten, die jetzt als Vier-Vinyl LP-Reihe wieder veröffentlicht wurden. Oder vor kurzem zum Beispiel die KI NER MA-Compilation-LP, die Punk und Hip Hop-Songs gegen Orban für die Wahlen 2018 sammelte. Oder Bobafett, ein Hardcore-Rapper mit starken Anti-System-Texten. Oder das Tudósok-Album, auf dem sie ihre Avantgarde-Musik mit Gemälden mit starker Bedeutung kombinieren.
Veröffentliche Dinge, die Du für einzigartig und aus einem bestimmten Blickwinkel für wichtig hältst! Mach mit inspirierenden Menschen inspirierende Sachen! Von den plus/minus 150 Veröffentlichungen von Trottel Records sollte ich vielleicht bei vielen von ihnen erklären, warum ich sie veröffentlichen wollte. Denn man sucht immer nach Dingen und Menschen, die etwas in einem bewegen.

Wie waren die 1990er Jahre in Ungarn? Goldene Jahre, um ein Label zu betreiben? Offene, interessierte Leute die auf neue Musik-Acts warten und dann die Platten, CDs und Kassetten kauften?

1992, als Trottel Records als offizielles Label gegründet wurde, waren die Dinge schon anders als heute. In Ungarn war es die Zeit der Öffnung, die Leute waren neugierig auf neue Sachen. Wir veröffentlichten von Anfang an jede Art von Musik, zum Beispiel die der schottischen Archbishop Kebab und Dawson, experimentelles Zeug also, eklektische Musik. Wir haben auch eine der ersten elektronischen Techno-Acts aufgenommen. Und die Leute waren interessiert. Man konnte sogar ein paar hundert oder tausend Tapes von jeder neuen, kleinen Underground-Band verkaufen. Es war eine inspirierende Zeit und mein Musikgeschmack entwickelte sich in viele verschiedene Richtungen. Genau wie heute war ich auf der Suche nach Bands mit ähnlicher Mentalität, Kreativität, Innovation und Integrität in der nicht-kommerziellen Musik.

Wie erlebst Du den Rückgang der Verkaufszahlen für physische Alben und Schallplatten? Was hat sich für Dich geändert neben der Auflage der gepressten Tonträger? Wie fühlt sich dieser Rückgang in Ungarn, bei Trottel Records und Trottel als Band an? Ich erinnere mich, dass ich im Jahr 2015 in Budapest viele Second-Hand-Plattenläden finden konnte, aber es war schwierig, zeitgenössische, ungarische Hardcore- und Punk-Platten zu finden. Außer „Wave“ Nahe der Innenstadt habe ich eigentlich keinen guten Laden gefunden.

Für ein kleines Label kamen nach 2000 schwere Zeiten, als die Musikszene zusammenbrach. Wenn man groß war, verkaufte man plötzlich viel weniger, aber wenn man klein war, verkaufte man noch weniger. Grundsätzlich konnte man sagen, wenn man eine Platte für eine kleine, nicht tourende Band veröffentlichte, war diese unmöglich zu verkaufen. Zeitgleich wurde es für eine Band, die merkwürdige Sachen jeglicher Art spielte, in Ungarn wirklich schwierig Orte zu finden um zu spielen. Zum Glück spielten wir mit Trottel verstärkt im Ausland, so dass es uns als Band nicht zu sehr beeinträchtigte. Wenn die 2000er Jahre schon hart waren, dann ist es seit 2010 die totale Wüste. Es existieren keine Plattenläden mehr. In Budapest gibt es nur noch den von Dir genannten Wave-Plattenladen, der seit 1990 überlebt. Ansonsten nur noch Mediamarkt und so ein Kram. Clubs in ganz Ungarn können nur noch Konzerte machen mit Bands, die ein größeres Publikum anziehen oder mit Geld aus dem nationalen Kulturfond. In Ungarn gab es keine Hausbesetzungen, so dass es für Underground- und kleine Bands außerhalb von Budapest ein langsames Sterben ist.

Du hast ja bereits die „Pajtas Daloljunk“-Sampler erwähnt. Gratulation, sie geben großartige Überblicke über die Szene in den 1980er Jahren. Wie schwer war es, die Songs auszugraben? Es scheint, dass es hauptsächlich seltene Live-Aufnahmen sind. Welche Rückmeldungen hast Du für diese Kompilationen von ungarischen Punks, den alten Szene-Mitgliedern und international erhalten?

Nun, es sind seltene Live-Aufnahmen, weil es von damals einfach keine Studioaufnahmen gab, vor allem nicht für eine Punk-Band. Erst ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre konnten sich Punks in kleine, nicht so gute Studios buchen. Und es ist natürlich offensichtlich, dass niemand das Interesse hatte, eine Punkplatte auf dem einzigen staatlichen Monopol-Label zu machen. Das hat natürlich auch gute Seiten. Da die Reproduktion von Material, egal ob gedruckt oder sonor, verboten war, hat niemand selbst etwas veröffentlicht. Also habe ich alles zusammengetragen, was ich finden konnte. Leider konnten die meisten Bands kein eigenes Archivmaterial herausgeben. Deshalb ist die Dokumentation in den Fanzines (Anm. Mika: die den Platten beiliegen) so schlecht. In Ungarn gab es ein recht gutes Feedback, aber leider haben im Ausland noch nicht sehr viele Leute von den Samplern gehört.

Trottel Records ist auch an der Neuauflage des „We Are The Flowers Of The Red Zone“-Samplers beteiligt. Ich finde den Sampler ja sehr interessant, weil er Hinweise darauf gibt, wie die Vernetzung der Szenen damals war. Was war Deine Motivation ausgerechnet diese Zusammenstellung (mit) zu veröffentlichen?

Der Sampler ist eine legendäre Zusammenstellung, die das polnische QQRYQ-Label zur gleichen Zeit gemacht hat, als wir in Ungarn angefangen haben, unseren illegalen Vertrieb zu betreiben. Das Networking war für mich wirklich wichtig, da ich damals keinen Pass hatte. Mit dem Release kommen sehr viele romantische Gefühle zurück. Angestoßen wurde dieses Projekt von Refuse und Sonic und ich bin froh, dass sie Trottel Records eingeladen haben, sich daran zu beteiligen.

Du hast es schon deutlich gemacht: Wenn man sich die Veröffentlichungen von Trottel Records ansieht, fällt es schwer, ein zentrales Thema oder eine besondere Art von Musik oder Klang zu finden. Soweit ich es verstehen konnte, kommen fast alle Bands aus Ungarn. Was qualifiziert eine Band dazu, auf Trottel Records veröffentlicht zu werden?

Meistens veröffentliche ich erste Alben von Bands, von denen einige dann später in Ungarn recht bekannt wurden. Seit 1985 bin ich der Meinung, dass Punk für mich nicht wirklich ein typischer Musikstil ist, sondern eine Energie, eine Vision, eine andere Herangehensweise an das eigene Tun und die Wahrnehmung der Welt. In den 1990er Jahren verlor der ungarische Punk irgendwie die Kraft und Bedeutung für mich. Skate-Punk kam in Mode, Fun-Punk ohne jede Bedeutung und so weiter. Die Energie und Mentalität, die ich suchte, fand ich öfters bei Bands, die ganz anderes Zeug spielten, Folk, Noise, was auch immer. Und das Gleiche passierte mit unserer eigenen Musik von Trottel. Mit den sich verändernden Leuten, neuen Leuten und neuen Instrumenten, kamen neue Energien und Inspirationen hinzu. Langsam wurde Trottel zu einer total eklektischen Band. Mit diesem Prozess bin ich sehr glücklich, weil es wirklich langweilig gewesen wäre, über 35 und mehr Jahre, über Tausende von Konzerten und elf Alben immer nur das gleiche Zeug zu spielen. Daher denke ich, dass die Band auf dem gleichen philosophischen Weg ist, wie das Label. Wir sind Teil der Underground-Szene und spielen an allen möglichen Orten ohne kommerzielle Interessen. Es stimmt zwar, dass der Großteil der so genannten Punkszene nicht immer versteht, was wir da machen, aber der Musikgeschmack ist halt nur eine Sache. Das ideologische Engagement und das Committment ist eine andere. Seltsamerweise hatte ich stets den Eindruck, dass die Menschen in anderen Ländern diesen Veränderungen gegenüber immer offener waren als ein großer Teil des ungarischen Publikums.

Wie würdest Du heute die Verbindung zwischen Underground und Mainstream-Musik in Ungarn beschreiben? Du erwähntest ja, dass einige Bands Trottel Records als Ausgangspunkt benutzen und später wachsen.

Heutzutage denke ich, dass sich Underground und Mainstream immer weiter voneinander entfernen und es ist gut so. Es gab eine Zeit ab Ende der 1990er Jahre, in der der Mainstream in Ungarn nicht mehr so groß und der Underground nicht mehr so klein waren wie heute, so dass es tatsächlich eine verschwindende Grenze zwischen beiden gab. Größere Underground-Bands traten auf Festivals auf und kamen auf einer gewissen Ebene auch bei Mainstream-Labels unter. Trottel Records machte immer hauptsächlich Debütalben aller Stilrichtungen. Es waren dynamische und kreative Underground-Bands, von denen sich einige weiterentwickelten. Und wie die meisten wachsenden Bands wollten sie größer werden, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Das kann und will sich ein kleines Underground-Label nicht leisten. Ich wollte schon immer mit Bands arbeiten, die bei Trottel Records sein wollten und dies nicht als eine Art Zwischenschritt auf dem Weg nach oben betrachten. Das hat, um ehrlich zu sein, selten wirklich gut mit einer ungarischen Band funktioniert und sie haben häufig einen Schritt weiter nach vorne gemacht.

Bekommst Du als unabhängiges Label die Aufmerksamkeit von Mainstream-Medien wie Fernsehen, Radio oder Zeitung? Ich meine, in Deutschland tauchen manchmal Underground-Bands in Fernsehsendungen, Dokumentationen oder in Zeitungen auf.

Auch das geschah immer in Wellen. In den 1990er Jahren gab es eine realistische Möglichkeit im nationalen Radio gespielt zu werden. Einige Sendungen boten an, nicht kommerzielle Sachen zu spielen. Merkwürdigerweise gab es in den Jahren Anfang der 2000er Jahre einige Sendungen auf den Kanälen des nationalen Fernsehens, die Underground-Bands einluden. Aber alle diese Möglichkeiten verschwanden, vielleicht eröffneten sich auch einige andere neu. Heutzutage existiert diese Option nicht mehr. Die wirklich kommerziellen Fernseh- und Radiosender standen dem Untergrund nie wirklich offen gegenüber. Die Presse war lange Zeit offener. Von Anfang an gab es eine ganze Reihe von Zeitungen, nicht nur die Musikpresse, in der wir im Kulturteil erscheinen konnten. Seit einer geraumen Zeit – und trotz der Tatsache, dass ziemlich viele Leute aus unserer Generation jetzt für die Medien arbeiten – gibt es nicht mehr wirklich viele Möglichkeiten. Es existieren eigentlich nur noch ein bis zwei größere Musikseiten und ein kleiner Teil der übrigen, linken Presse.

Du hast in einem Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur erwähnt (https://www.deutschlandfunkkultur.de/ungarns-musikszene-man-hoert-wieder-mehr-stimmen-zur.2177.de.html?dram:article_id=423720), dass die alten liberalen und linken Künstler noch immer aktiv sind, wie Zsuzsa Koncz oder Janos Brody. Diese sind heute noch populär und artikulieren beharrlich politische Proteste. Gleichzeitig trauen sich in Ungarn jüngere Künstler*innen seltener offen Kritik zu äußern, weil sie ansonsten den Entzug von Unterstützung oder gar Auftrittsverbote befürchten. Wie wirkt sich das auf die jüngere Generation aus? Gibt es eine politische Lethargie? Wie spiegelt sich dies in einer Punk-/Hardcore-Szene wider?

Das ist ein existierendes Phänomen, das natürlich nicht auf den Underground wirkt. Es betrifft mittelgroße und größere Bands, die im offiziellen Kreis von Festivals und Jugendzentren oder Clubs spielen. Es kommt vor, dass man, wenn man das Orban-Regime kritisiert, Auftrittsmöglichkeiten in Jugendzentren oder staatlichen Kulturstätten verliert. Das Orban-Regime sitzt heutzutage überall dort, wo es Geld gibt. Und wenn man als Klubbesitzer*in Subventionen beantragt, ist es schwer, wenn man zu kritisch oder politisch aktiv ist. Um in diese Sphären zu kommen, ist Punk zu klein. Diese Leute sind nicht an Bands interessiert, die an sehr kleinen Orten vor 50 bis 100 Personen herumschreien. Und um ehrlich zu sein, ist der Punk hier in Ungarn eher unpolitisch. Alte Bands sind oft Nationalisten und schreien gegen Kommunisten. Es stimmt auch, dass es eine kleine, junge Punkszene mit politischem Engagement gegen das eigentliche Regime gibt. Aber alles in allem war der ungarische Punk in der Regel nie politisch aktiv – vielleicht in seinen Anfängen in den 1980er Jahren, als wir noch sehr jung und rau waren.

Vielen Dank Tamás, dass Du Dir die Zeit genommen hast. Ich habe sehr viel gelernt und freue mich, die Sampler und die Alben in Kürze mal wieder aufzulegen. Vielleicht zum Ende hin: Gibt es noch eine Frage, die Dir mal gestellt werden sollte?

Ja, haha. Wie gewöhnlich natürlich: Was bringt die Zukunft, zumindest für mich, haha? Denn in diesem Jahr (2020) wird die erste Veröffentlichung von Trottel Records ein Vinylalbum mit sibirischer Schamanenmusik sein. Es gab im Jahr 1998 eine Tape-Serie mit Musik, die ein Freund in Sibirien bei der dortigen Bevölkerung gesammelt hat. Die Leute dort konnten ihren Schamanenglauben auch während der Sowjetunion bewahren. Sehr interessantes Material und großartige Qualität, aber 1998 habe ich die Musik nur als Kassetten veröffentlichen können. Nun erscheinen sie noch einmal als Re-Release auf Vinyl. Vielleicht werden es sogar zwei Platten, wenn genug Leute die erste kaufen. Es wird darüber hinaus ein neues Album des ungarischen HC-Rappers Bobafett geben – ein großmäuliger, direkter Typ, der das Orban-Regime kritisiert. Zudem gibt es die Wiederveröffentlichung des ersten Trottel-Album „Borderline Syndroma“, das 1989 in Frankreich herauskam und von dem nur 100 Exemplare über die Grenze geschmuggelt wurden. Und dazu arbeite ich auch an einem neuen Trottel-Album für das Ende des Jahres.

Wow! Respekt! Viel Erfolg und gutes Gelingen. Wir sind gespannt!

Mika Reckinnen

Homepage: www.trottel.hu
Vertrieb in Deutschland: https://x-mist.de/

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