Dezember 31st, 2021

THE NERVES (#204, 2020)

Posted in interview by Thorsten

Das schwäbische Quartett THE NERVES steht für flotten, rotzigen und melodischen Punk Rock auf Englisch, Deutsch und Japanisch. Sängerin Nina H. hat sich die Zeit genommen, bei der Interview Reihe #PunkToo mitzumachen. Heraus kam ein interessantes Gespräch über Sexismus, Gender sowie über Punk Rock und Subkultur.

Hallo Nina. Danke, dass du dir Zeit für das Interview nimmst.
Die Interview Reihe heißt #PunkToo. Es geht also in erster Linie um Sexismus in der Punk Rock Szene.
Als Aufhänger fällt mir die Debatte über Anti-Nowhere League ein, deren sexistische, homophobe und transphobe Äußerungen im Jahr 2015 zu einer großen Diskussion führten. Heute wissen wir, dass die Band nach wie vor auf große Bühnen gebucht wird. Daher die einleitende Frage: Wo siehst du die Punkszene heutzutage? Ist die Debatte fortgeschritten oder sind wir nicht wirklich vorangekommen?

Ich muss dir ehrlich sagen, das ging an mir vorüber. Mein bisheriger Eindruck, zum Beispiel auf Gigs in Punk-Locations, war, dass Menschen wie Menschen behandelt werden, gleichwertig, egal welchen Geschlechts. Unbewusst spielt, denke ich, die individuelle Sozialisation die größte Rolle: Mit welchen Geschlechterrollen und -bildern ist er/sie aufgewachsen? Wie setzt er/sie sich damit auseinander? Geschieht dies überhaupt? Und wenn ja, entscheidet er/sie sich für ein traditionelles Rollenbild oder dagegen? Oder wird „Rosinenpickerei“ versucht? Ich schätze, in allen alternativen Szenen ist die Anzahl derjeniger, die die traditionellen Geschlechterrollen in Frage stellen, höher als im Mainstream. Ich hoffe, dass uns diese kritische, hinterfragende Attitüde, eben nicht gedankenlos alles zu übernehmen, was das Umfeld uns vorlebt, auch in Zukunft erhalten bleibt.

Die Repräsentanz nicht-männlicher KünstlerInnen auf den Bühnen der Punk Rock Venues lässt immer noch schwer zu wünschen übrig. Teilst du diese Ansicht? Und wenn ja, was könnte deiner Ansicht nach des Pudels Kern sein?

Ich stimme zu, der Männeranteil ist bei den Punkbands deutlich über dem der Frauen. Ich erlebe jedoch auch bei den Fans den Anteil der Männer als höher. Meine Vermutung ist, dass sich das dann auch auf der Bühne bei den Bands widerspiegelt. Interessant erscheint mir die Frage, ob sich auf der Bühne unbewusst eine Rollenverteilung eingeschlichen hat. Oft habe ich in gemischten Bands Frauen am Gesang, gelegentlich auch am Bass erlebt. An eine Schlagzeugerin in einer gemischten Punkband könnte ich mich andererseits nicht erinnern (was angesichts meines begrenzen Wissens jedoch nicht viel heißen soll).

Gibt es Erlebnisse, die du teilen möchtest, in denen du sowohl als Sängerin der NERVES als auch als Privatperson Sexismus im Rahmen der Punk Szene wahrgenommen hast?

Negative Erlebnis hatte ich selbst zum Glück kaum. Einmal jedoch, als ich auf der Bühne ein enges Kleid trug, kam nach dem Gig ein (männlicher) Gast und fragte mich, ob ich auf der Bühne erregt gewesen sei, man habe meine Brustwarzen unter dem Kleid deutlich gesehen. Da dachte ich im Nachhinein, das wäre meinen (männlichen) Bandkollegen wohl nicht passiert, so einen Kommentar zu bekommen. Ist es de facto auch noch nie.
Und es kommt bei mir im Vergleich zu meinen Bandkollegen deutlich häufiger zu Annäherungsversuchen (In-den-Iro-fassen-Wollen, Flirtversuche etc.). Wobei, und das finde ich in diesem Falle auch gut so, die Jungs ein Auge darauf haben, dass niemand zu übermütig wird (wohl ein klares Beispiel von benevolentem Sexismus beziehungsweise Rosinenpickerei meinerseits). Dazu muss ich, leider ein Vorurteil bestätigend, anmerken, dass aufdringlich-dreistes Verhalten meist von offensichtlich szenefremden Besuchern kommt. Derlei Erfahrungen sind allerdings, wie schon gesagt, die Ausnahme. Unwohl fühle ich mich stattdessen eher, wenn ich alleine, vollbepackt und in voller Montur mit Bus und Bahn zum Treffpunkt, bevor es mit dem Tourbus weitergeht, anreise. Und noch eine nette Anekdote: Eine Zeit lang haben uns Leute Damenunterwäsche auf die Bühne geworfen. Mit welchen Absichten auch immer… Die schönsten Teile sind in meinen Kleiderschrank gewandert (;-)

Und auch die andere Seite soll natürlich nicht unbeleuchtet bleiben. Welche positiven Erfahrungen bezüglich des Umgangs mit Sexismus in der Punk Bewegung möchtest du gerne mit den Lesenden des TRUST Zine teilen? Und gibt es Programme, Kollektive oder Programme, die dahingehend Erwähnung verdient haben?

Im Allgemeinen erlebe ich, wie schon gesagt, die Punkszene als eine Szene, in der Sexismus kein großes Problem ist. Ein Mensch ist ein Mensch, egal welchen Geschlechts, und wird als Mensch behandelt. Ich kann mich nicht erinnern, dass Frauen in irgendeiner Form in bestimmte Rollen gedrängt oder gar bei Entscheidungen übergangen wurden. Mit allen Rechten und Pflichten. (Das heißt, ich schleppe mein Zeug beim Auf- und Abbau brav selbst… (;-)). Auch finanziell wäre mir, im Gegensatz zur alltäglichen Arbeitswelt, nie eine Benachteiligung aufgefallen (dass im Jahr 2020 Männer und Frauen für gleiche Arbeit immer noch nicht gleich entlohnt werden, ist echt das Letzte!). Aktionen, Programme…, ich erinnere mich an ein beeindruckendes Kulturfestival in Esslingen am Necker, 2018, „Stadt der Frauen“. Ich zitiere: „Künstler*innen, Esslinger Bürger*innen und Kultureinrichtungen besetzten Altes Rathaus, Rathausplatz und Marktplatz mit ihren Ideen zu einer idealen Stadtgesellschaft und zur Umverteilung von Privilegien. Spielerisch setzte das Festival an drei Tagen eine offene, gleichberechtigte und inklusive Gesellschaftsutopie um.“ (https://www.esslingen.de/11400957.html, 05.07.20). Da war natürlich auch das alternative Jugend-/Kulturzentrum Komma mit von der Partie. Ich selbst habe Tanzworkshops und -performances musikalisch begleitet. Das Festival war für mich ein gutes Zeichen – für ein besseres Miteinander und Gleichberechtigung.

Wenn du gerade nicht mit den NERVES unterwegs bist, hältst du dich eher in der Gothic-Szene auf. Kannst du Unterschiede zwischen den Bewegungen ausmachen, wenn es um Gender, Sexismus und Toleranz geht?

In der Gothic-Szene geht man, meinen Erfahrungen nach, noch offener mit der Gender-Thematik um. Androgynität und Spiel mit den Geschlechterrollen sind nichts Ungewöhnliches. Auch das Ausleben der eigenen Kreativität durch das äußere Erscheinungsbild. Was anderswo als sexy oder aufreizend angesehen würde, wird dort unter dem Aspekt der Ästhetik wahrgenommen. Auf die traditionellen Geschlechterrollen wird kaum Wert gelegt. Kein Männlichkeitsgehabe, kein Zurschaustellen oder gar Messen dieser untereinander. So empfinde ich dort diesbezüglich sogar noch etwas mehr Toleranz und Gelassenheit. Auch hier natürlich bestätigen Ausnahmen die Regel. Wenn mir zum Beispiel eine mir völlig unbekannte ältere Festivalbesucherin Stylingtipps gibt, à la: „Mädchen, wenn du deinen Iro nicht mit Eigelb stellst, dann ist das kein richtiger Iro!“ Das passiert männlichen Iroträgern vermutlich seltener, hätte bislang nicht davon gehört. Unterschwellig lässt sich hier eindeutig ein konservatives Rollenverständnis erkennen: Die Frau ist zuständig für Haare und Make-Up. So werde in aller Regel dies betreffend auch ich angesprochen und nicht beispielsweise mein ebenfalls irotragender Mann.

Lass uns auch über deine Musik reden. THE NERVES stehen mittlerweile für über drei Jahrzehnte Punk Rock und neun Alben. Was hat die Zeit zwischen Proberaum, Studio, Bühnen und Tourbus mit dir gemacht?

Die 10 Jahre mit den Nerves habe mich auf jeden Fall reicher an Erfahrungen gemacht. An den guten freue ich mich. Aus den schlechten lerne ich oder verarbeite sie in neuen Songs. Dadurch bin ich auch selbstbewusster geworden. Ich habe zunehmend Willen entwickelt, was ich musikalisch möchte (und was nicht). Wie ich in Erscheinung treten möchte. Was ich mitteilen möchte. Und dass, wenn mal etwas schiefgeht oder nicht so läuft, wie ich es mir vorgestellt habe, die Welt davon nicht untergeht, vielleicht sogar etwas Neues, Lustiges, Interessanteres, Gutes, … daraus entsteht. Nebenbei wurde auch meine Stimme kräftiger ;-). Ich wage es mehr und mehr, zu experimentieren. Mit der Stimme. Mit neuen Sprachen. Mit neuen Instrumenten. Ich habe einen guten Platz gefunden, in dem ich vieles, was mich bewegt, musikalisch umsetzen und mit der Welt teilen kann. Und mich immer weiterentwickeln kann. Eine immer wieder Gänsehaut auslösend ergreifend-schöne Erfahrung ist, wenn Leute mir zu verstehen geben, dass sie sich von einem Song angesprochen fühlen, sich darin wiederfinden. Es war bis jetzt eine tolle Zeit, ich möchte sie nicht missen und hoffe, dass noch viele weitere gemeinsame Jahre folgen.

Oft sind es Schlüsselerlebnisse, die eine Beziehung am besten beschreiben. Hast du ein Erlebnis, mit dem du die Zeit mit den NERVES oder das Verhältnis zum Punk Rock in Assoziation setzen kannst?

Nach dem Gig die ganze Nacht lang im wahlweise verqualmten oder zugigen Bandbus sitzen und quatschen. Oder im Backstage. Das ist jedes Mal wieder so ein Schlüsselmoment. Oder sich mit anderen Bands austauschen. Den Erzählungen und Gesprächen lauschen. Das ist oft Punk-Rock-Geschichte pur.

Was wird die nahe Zukunft uns bringen? Ist ein zehntes NERVES Album schon in Planung?

Auf jeden Fall! Solange Corona unser soziales Miteinander beeinträchtigt, arbeiten wir von zu Hause aus an den neuen Songs. Nachdem ich letztes Jahr in Japan war, ist überraschend viel Deutschsprachiges dabei… Und auch instrumental wird es Neues geben.

Nochmal vielen Dank für das Interview! Die abschließenden Worte gehören ganz dir.

Wie schon eingangs gesagt, denke ich, ist unser Verhalten, auch was Geschlechterrollen angeht, hauptsächlich durch die individuelle Sozialisation geprägt. Erst einmal szeneunabhängig. Im Rahmen einer alternativen Szene, sei es Punk oder Gothic, können wir Alternativen kennenlernen, leben und vorleben.
Eine Herausforderung für das gleichberechtigte Miteinander scheint oft das Thema Familienplanung. Dann lauert Sexismus bei ganz alltäglichen, aber so fundamental wichtigen Fragen wie: Wer kümmert sich um die Verhütung? Ist es automatisch Frauensache, sich für Jahre/Jahrzehnte Fremdkörper implantieren zu lassen oder Hormone einzunehmen? Wer kümmert sich um den Haushalt? Wenn dann ein Kind geboren wird: Wer geht, in Elternzeit? Wer schränkt sich beruflich und in der Freizeit der Familie zuliebe ein? Hier erlebe ich, leider auch bei Leuten aus der alternativen Szene, immer wieder drastische, für mich schockierende Veränderungen hin zum Urkonservativen.
Ich schließe mit einem Allgemeinplatz (ein Zitat – ihr kommt nie darauf, von wem!):
„Ich glaube, ein Mann will von einer Frau das gleiche wie eine Frau von einem Mann: Respekt.“

Text/Interview: Raphael Lukas

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