Mai 10th, 2019

SPECIAL ÜBER INDIE-VERTRIEBE (#145, 2010 )

Posted in interview by Jan

„The only notes that really count are the ones that come in wads“

Special zum Thema Indie-Vertriebe mit:
New Music Distribution, Broken Silence, Indigo, Alive, Cargo, Rough Trade

Wie war das eigentlich früher, auf allen Platten (oder kam es einem nur so vor?) stand immer „EFA“ oder „Semaphore“ drauf? Ich hatte mich immer gewundert, was war das, sind das Labels, heißt Epitaph in Deutschland „Semaphore“ und was heißt EFA überhaupt? Dass das Vertriebe sind (und EFA eben“ Energie für alle“ heisst (übrigens das gleiche Spiel bei SPV, haha, Schallplattenvertrieb)), hey, „das wussten wir damals einfach noch nicht, wir hatten doch nix“.

Die Zeiten beider Vertriebe sind vorbei, die Zeiten von Vertrieben aber nicht, deshalb dieses Special, in dem das Trust wieder mal den Hintergrund von dem ganzen Musik-Ding beleuchtet. Für euch! Denn Bands und ihre Labels sind immer die sichtbare Spitze des Eisberges, darunter verbirgt sich eine weitaus größere teilweise miteinander vernetzte Welt aus Konzertläden, Promo-Agenturen, örtlichen Veranstaltern, Tourbookern, Mailordern, Plattenläden, Fanzines, Radios (Medien), Studios, Presswerken, PA-Verleihern, Tourfahrern, Caterings, klar, den Fans oder den Endverbrauchern und eben: Vertrieben. Dieses Mal geht es um einige Fakten zu eben jenen. Es ging mir hier natürlich um den Trust Kontext „Indenpendent Vetriebe“ von Punk, HC, Indie. Natürlich wird auch indirekt Werbung gemacht für die Arbeit der jeweiligen Vertriebe, warum auch nicht, ist in Band- und Label-Interviews ja auch nicht anders.

Bevor wieder – wie bei allen Trust-Specials davor zu Plattenläden, Tourbookern und Fanzines – die gleichen sechs Leute ankommen mit „Mimimi, warum nehmt ihr so kommerzielle Läden, ihr seid doch ein Punk-Heft, warum nehmt ihr nicht…???“ – dann hier direkt meine Antwort in Bezug auf Vertriebe: Weil es außer den hier interviewten keine weiteren HC-Punk-Indie-Vertriebe in DEUTSCHLAND gibt (bzw. hat sich Zebra Solution nicht auf die Special-Anfrage gemeldet und Soul Food Distribution ebenfalls nicht, war aber bei letzteren auch mein Fehler, da zwei Wochen vor Deadline erst angefragt). Wenn es Mailorder und Leute gibt, die Plattenkisten auf Konzerten machen, dann ist das super, aber es sind eben keine Vertriebe, und auch wenn die sich so nennen, sind es meistens Labels mit (ein wenig) Mailordertauschkram.

Ein echter Vertrieb sorgt dafür, dass die Platten deiner Lieblingslabels an die Plattenläden kommen. In den Verkauf. Ja! Die sind dafür verantwortlich, dass man Fugazi-CDs im Saturn kaufen kann. Und natürlich können Begriffe wie „Marketing technisch gut aufgestellt“ oder „Kerngeschäft“ etc. erstmal abschrecken, aber eigentlich müsstet ihr diese Begriffe schon aus dem Tourbooking- und dem Plattenladen-Special kennen… und Fakt ist, dass so gut wie jedes Punk-HC-Label – ob BRD oder USA oder Japan – über einen dieser Vertriebe geht. Der Hauptansatzpunkt für dieses Special ist, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie es abläuft. Vielleicht wird dieses Special noch mal wiederholt, dann aber mit Fokus auf die internationalen Vertriebe in den USA und Europa.

Nur noch kurz was zum Aufbau, die Reihenfolge der Antwortenblöcke ist identisch, am Ende hatte ich eigentlich vor, allen Interviewpartnern noch spezielle Fragen zu stellen, das konnte ich jedoch nur noch teilweise einlösen, ein Grund war, dass die Antworten manchmal spät kamen, oder es einfach nichts mehr nachzufragen gab. Wenn mal eine Antwort im allgemeinem Frageblock fehlt, dann hat das aus technischen Gründen nicht funktioniert. Ach so, kleiner Joke in der Überschrift nech, „die einzigen Noten (Musik- oder Banknoten) die wirklich zählen, sind diejenigen, die in Bündeln kommen“, Zitat aus dem „Great RocknRoll Swindle“ Song und JA JA, die besten Witze sind die, die man erklären muss.

Zu guter Letzt eine ganz persönliche Anmerkung: eine Person der hier interviewten ist für alle Leser dieses Specials längst bekannt und eine echte „Berühmtheit“ (auch wegen seiner damaligen Bandmitgliedschaft und ich bin sehr froh, dass hier noch die Antworten kamen), ich sage nur das Stichwort „TV-Diskussionsrunde und der Tischzerhacker mit dem Beil“; der/die erste, der/die sich mit dem richtigen Namen der Interviewperson bei mir (Email Adresse im Impressum) meldet, bekommt die nächste Trust Ausgabe umsonst und portofrei zugeschickt, ist das fucking nichts?!

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Hi Michael von New Music Distribution, Andrew von Alive, Jan von Broken Silence, Ralph von Cargo, Sabine von Rough Trade und Nikel von Indigo, danke für eure Zeit für dieses Special zum Thema Vertriebe. Wenn es um das Thema geht, habt ihr da auch den Eindruck, dass keiner die Arbeit der Vertriebe so richtig schätzt? Es wird immer „nur“ auf die Band / das Label geschaut, es heißt bei ausverkauften Konzerten, es ist die Band, die den Laden vollmacht… ja schon, aber ohne Vertrieb wüsste ja keiner von der Band etc.? Stimmt ihr mit diesem Bild überein, also, das die Wichtigkeit von Vertrieben nicht wertgeschätzt wird und immer dann das Geschreie groß ist, wenn eben der Vertrieb Konkurs geht, wie jetzt SPV?

Michael von NMD: Hallo Trust, die Zeit nehmen wir uns sehr gerne, ha. Den Endverbraucher /Konsumenten können wir gut verstehen, denn dem ist es sicherlich vollkommen egal, wer die CD seiner Lieblingsband in den Laden oder in den Online-Shop stellt. Insofern ist es den Verbrauchern oft egal, welches Label oder welcher Vertrieb dahinter steckt. Es gibt allerdings auch bestimmte Genres, bei denen die Verbraucher gezielt nach Labels oder Vertrieben kaufen, sprich: „Alles vom Label oder Vertrieb XY ist geil!“… Ich glaube nicht, dass ohne Vertriebe keiner von den Bands wüsste. Die Bands selber und auch die Labels machen mittlerweile viel Werbung und Marketing für ihr eigenes Produkt, anders geht es heutzutage auch gar nicht mehr. Aber ohne Vertriebe wäre die Musik der Band nicht verfügbar bzw. nur minimal verfügbar!

Andrew von Alive: Im Wesentlichen kommt es auf die Sichtweise des Betrachters an. Da ein Vertrieb in erster Linie den Handel beliefert, also Plattenläden, Mailorder oder die Großmärkte wie Müller oder Saturn, müsste man dort fragen, ob die Arbeit  wertgeschätzt wird. Ich denke, das wird sie. Denn ohne die Vertriebe würde es zum großen Teil keine Ware in den Läden geben. Sprich, der Vertrieb sorgt dafür, dass die Band, die man kennt, im Handel erhältlich ist. Du spielst  jedoch auf die Sichtweise des Fans, Konzertbesuchers oder eines Veranstalters an. Dort ist das Marketing und die Promotion für den Bekanntheitsgrad einer Band verantwortlich.

Jan von Broken Silence: Da hast du wohl grundsätzlich recht, der Vertrieb sitzt eher im Backstage, als auf der Bühne herumzufuchteln. Damit können wir aber gut leben, und es liegt ja an jedem Vertrieb selbst, sich bekannter zu machen. Ein guter Ruf bei Lieferanten und Kunden ist für uns jedenfalls viel wichtiger.

Ralph von Cargo Records: Das sehe ich nur zum Teil so. Die Öffentlichkeitsarbeit liegt allein bei den Labels und den Managern, nicht bei dem Vertrieb. Nur in Fällen, in denen das Label diese Verantwortung an den Vertrieb weitergibt, ist dieser für das „Bekanntwerden“ der Band verantwortlich. In solchen Fällen nimmt er die Position einer Promotionfirma ein. Aber Kernaufgabe ist es für den Vertrieb im Sinne eines Großhändlers die Alben in die Läden zu bekommen. Für die Promotion ist ein Vertrieb im Grunde nicht zuständig.

Sabine von Rough Trade: Nein, das würde ich so überhaupt nicht sagen. Ein Vertrieb ist ja nun mal dazu da, im Hintergrund dafür zu sorgen, die Tonträger in den Handel zu bringen, als ein Bindeglied zwischen Künstler/Label und Endverbraucher. Wir tragen unseren Teil dazu bei, dass draußen jemand Alben der Band XY kaufen kann und sorgen somit auch ein kleines Stück weit dafür, den Bekanntheitsgrad zu steigern, keine Frage. Aber wer im Rampenlicht stehen möchte, sollte doch lieber direkt Sänger, Schauspieler oder Moderator werden, als bei einem Vertrieb anzufangen.

Was ist eigentlich genau der (vielleicht nur theoretische) Unterschied zwischen Mailordern und Vertrieben? Gibt es für euch „das“ Vorbild eines Vertriebes?  

Michael von NMD: Kurz und knackig: Mailorder beliefern Endverbraucher/Konsumenten und Vertriebe wiederum beliefern nur die Händler (Plattenläden, Onlineshops, Mailorder). Vorbilder sind wir selber, ha.

Andrew von Alive: Der Mailorder bietet seine Ware direkt dem Endkonsumenten an und ist quasi ein virtueller Laden. Er bezieht seine Tonträger über die Vertriebe oder von den einzelnen Labels direkt, was von Mailorder zu Mailorder verschieden ist. Der Vertrieb beliefert ausschließlich den Groß- und Einzelhandel und nicht den tatsächlichen Käufer. Zu den Kunden des Vertriebes gehören dann auch die Mailorder. Es gibt nur den eigenen Anspruch, für reibungslose Abläufe und guten Service zu sorgen.
Jan von Broken Silence: Vertriebe beliefern keine Endkonsumenten direkt, sondern Händler, die Tonträger an Einzelkunden weiterverkaufen. Das war’s eigentlich auch schon.

Ralph von Cargo Records: Sorry, aber ich bin weder mit der Arbeits- noch mit der Funktionsweise eines Mailorders vertraut. Und nein, ich habe kein „Vertriebsvorbild“.

Sabine von Rough Trade: Nun ja, bei einem Mailorder können Kunden direkt ihre Ware bestellen. Der Vertrieb beliefert den Handel, unter anderem auch Mailorder, aber keine Endverbraucher.

Nikel von Indigo: Ein Mailorder ist ein Versandunterthemen, dass sich hauptsächlich an Endverbraucher richtet, während Vertriebe alle anderen möglichen Handelsformen beliefert: den Großhandel, die Handelsketten, aber auch Mailorder und selten den Endverbraucher. Das Vorbild eines bestimmtes Vertriebes gibt es für uns nicht, wir haben hier eigentlich alle sehr viel Berufserfahrung gesammelt aufgrund jahrzehntelanger Vorarbeiten, früher bei der EFA Medien GmbH und weiß der Himmel wo nicht überall und sind eher vielleicht Vorbild für andere Vertriebe geworden. Auch gibt es für uns keinen Vertrieb im Ausland, bei dem wir sagen würden, an dem richten wir uns irgendwie aus, von seiner Vertriebspolitik oder so.

Was genau vertreibt ihr denn, habt ihr Schwerpunkte, wie viele Leute arbeiten bei euch, seit wann gibt’s den Laden und wo seid ihr ansässig?

Michael von NMD: Wir vertreiben CDs, DVDs und Vinyls aus diversen Genres, von Blues über Jazz bis hin zu Rock, Alternative, Punk und Hardcore. Unsere Schwerpunkte liegen mittlerweile zum einen im gesamten Punk- und Hardcore-Bereich und zum anderen im Blues-Bereich. Bei uns arbeiten insgesamt acht Leute und New Music Distribution gibt es bereits seit 1996. Wir sitzen in Hamburg, fast schon so was wie die Hauptstadt der Indie-Vertriebe, ha.

Andrew von Alive: Alive vertreibt alle erdenklichen Entertainmentprodukte, wie man so schön sagt. Zusammengefasst: Film, Musik, Hörbuch, Buch. Einen Schwerpunkt haben wir nicht, wir sind in vielen Genres stark vertreten. Im Filmbereich: Vom Dokumentarfilm über das Arthouse-Cinema bis hin zum Wrestling, Manga oder Marvel Comic. Musikalisch decken wir ebenfalls das gesamte Spektrum jeglicher Couleur ab: Jazz, EBM, Dark Wave, Punk, Hip Hop, Elektro, Dance, Metal… alles vertreten. Die Kölner Alive AG wird in diesem Jahr 10 Jahre alt und ist 75 Mann stark.

Jan von Broken Silence: Hauptsächlich Tonträger als CDs und Vinyl sowie DVDs. Inhaltliche Schwerpunkte sind Indie, Punk, Ska / Reggae, Hardcore, Dark Wave, Jazz / World und Rock’n’Roll. Wir sind momentan 16 KollegInnen und seit 2004 dabei. Wir arbeiten in Hamburg.

Ralph von Cargo Records: Cargo Records wurde 1998 gegründet und ist ein auf Vinyl spezialisierter Indie-Vertrieb, mit mehr als 20 Mitarbeitern (Anzahl schwankt, da die Zahl der Praktikanten nicht immer gleich hoch ist). Obwohl wir auf die Verbreitung von Vinylen spezialisiert sind, ist dies nicht unser alleiniges Kerngeschäft. Schwerpunkte haben wir nicht, die höchsten Bekanntheitswerte dürften unsere Labels Sub Pop, Fierce Panda, Secretly Canadian, Killrockstars, Touch & Go, Haldern Pop und Sideonedummy besitzen, dennoch sind sie „nur“ einige von über 120 Labels bei uns im Vertrieb.

Sabine von Rough Trade: Schwerpunktmäßig vertreiben wir physische Tonträger, sprich CDs und Schallplatten. Aber auch DVDs und Software. Zudem haben wir ebenfalls eine Digitalabteilung, die dafür sorgt, dass auch Onlineshops – wie Itunes, Musicload und Amazon – Musik von unseren Künstlern zum legalen Download anbieten können. Die Firma Rough Trade Distribution gibt es schon seit den frühen 80er Jahren. Die meiste Zeit saßen wir in Herne, seit August 2009 sind wir nun gemeinsam mit Groove Attack in Köln-Ossendorf. Bei uns arbeiten ca. 70 Leute.

Nikel von Indigo: Wir vertreiben CDs und DVDs, Vinyl vertreiben wir auch, Computergames vertreiben wir nicht. Relativ wenige T-Shirts, kaum noch Musik-Kassetten, eigentlich gar keine mehr und noch ein oder zwei Videos. Schwerpunkt ist der internationale Independent-Rock, also Labels wie Beggars Group (4ad, XL Recordings, Matador), Domino und Epitaph zum Beispiel. Dann haben wir einen sehr starken Schwerpunkt bei deutschen inländischen Labels, die sowohl deutsch- als auch englischsprachige Musik produzieren und natürlich auch Instrumentalmusik. Dann haben wir einen sehr großen Kreis an Lieferanten, die sich im Weltmusikbereich tummeln und zu guter Letzt vertreiben wir seit neuestem, d.h. seit knapp 1,5 Jahren, klassische Musik. Ja, wie viele Leute arbeiten hier, Olaf?
Olaf von Indigo: Ja das sind mit den Außendienstlern so um die 60, würde ich mal sagen.
Nikel: Genau, und den Laden gibt es seit 1993 und ansässig in…
Olaf: Hamburgo.

Was genau macht ihr, wie sieht ein normaler Tag aus? Wolltet ihr das werden oder hat sich das mehr oder weniger glücklicherweise so ergeben? Ist es nicht einerseits komisch, man kann bei den Freunden locker angeben, „Cooler Job in der Plattenindustrie“, „im Biz“, aber die konkrete Tätigkeit ist doch eigentlich eher weniger funky, viel Dokumentation, Zahlen, Archivtätigkeiten? 

Michael von NMD: Wie du schon sagst: Der größte Teil der Arbeit besteht aus „typischen“ Büroarbeiten, aber auch die bringen viel Spaß. Weil sie immer mit dem Produkt zu tun haben, um das es uns allen geht: um Musik! Insofern ist der Job auch „cool“ und die Mädels und Jungs aus unserem Team haben nicht das Gefühl, morgens zur Arbeit zu „müssen“, sondern kommen gerne her. Reich werden wir durch einen Vertrieb sicherlich nicht, aber mit Musik sein Geld zu verdienen ist schon ein großes Stück Freiheit! Letztendlich hat es sich irgendwie so ergeben, ich glaube, dass so gut wie keiner von Anfang an seiner Laufbahn in der Musikbranche gearbeitet hat. Richtige Ausbildungsberufe in diesem Bereich gibt es ja noch nicht so lange… Wie ein Tag bei uns aussieht? Musikhören, Essen, nach Hause gehen, ha… OK, nicht ganz. Also geregelte Arbeitszeiten gibt es nicht, aber wir fangen spätestens um 10 Uhr an. Und nach hinten hinaus kann`s dann auch mal 20 Uhr oder länger werden, gerade wenn wir mit Labels aus Übersee telefonieren o.ä. Ansonsten gilt: Täglich mit unseren Labels kommunizieren, täglich mit unseren Kunden kommunizieren und täglich nach interessanten Neuheiten Ausschau halten!

Andrew von Alive: Die Firma Alive begleitet quasi alle Entwicklungs-Schritte eines Tonträgers: von der Produktion/Herstellung über die Vermarktung und Promotion bis hin zur Platzierung im Handel. (Anm: Folgende Antwort bezieht sich auf den zweiten Teil der Frage wg. dem Biz und so) Ich denke, dieses Verhalten hat psychosoziale und altersspezifische Ursachen.  Es besteht aber in der Tat eine Kluft zwischen dem, was „man“ mit dem „Biz“ assoziiert und der alltäglichen Realität, also zwischen der Vorstellung, man würde mit Künstlern den ganzen Tag auf der Couch abhängen und dem Tatsächlichen, nämlich dem Künstler eher überhaupt eine Couch zu ermöglichen.

Jan von Broken Silence: Ich bin hauptsächlich A&R / Labelbetreuer (führe Kommunikation zwischen den Vertriebslabels und uns, bereite mit den Labels die Releases vor, muss den Lagerbestand „meiner“ Artikel kontrollieren). Ferner bin ich für die Koordination von Marketingmaßnahmen verantwortlich, layoute unsere Verkaufsunterlagen und habe noch genügend andere kleinere Aufgaben im Alltag, die mich ordentlich auf Trab halten. Ich habe einen ganz klassischen Büroarbeitsplatz und befinde mich ansonsten in Besprechungen mit KollegInnen. Ich bin seit 1995 in die Branche „hereingewachsen“, hatte aber nicht die erklärte Absicht, genau das zu tun. Es hat sich günstig ergeben, und ich bin darin letztlich auch unterstützt und bestärkt worden. Außerdem habe ich eine kaufmännische Ausbildung im Unternehmen abgeschlossen. Meine wirklichen Freunde wissen genau, wo der Hammer hängt, und im Nachtleben oder vor flüchtigen Szenebekanntschaften gebe ich grundsätzlich nicht mit beruflichen Dingen an.

Ralph von Cargo Records: Ich bin zuständig für Marketing und Promotion, mein Tag besteht in erster Linie aus dem Einschätzen vom Potential und den Marktchancen eines Albums. Dazu gesellt sich die Koordination von Interviews, und die Beantwortung von Fragen zu unseren promoteten Künstlern von Seiten der Medien. Ich bin praktisch das Bindeglied zwischen den Medien und den Künstlern, das Sprachrohr der Labels, die Cargo mit der Öffentlichkeitsarbeit ihrer Produkte beauftragt hat.
Sabine von Rough Trade: Ich arbeite in der Promo-Abteilung, habe also mit dem wirklichen Vertriebsgeschäft nur bedingt zu tun. Ich versuche also, die Alben und Künstler, die ich betreue, in die Medien zu bekommen.

Mein Tag besteht aus der Sichtung der Presse, die auf meinem Tisch landet, der Archivierung eben dieser Presseergebnisse, Beantwortung von allen möglichen Anfragen von Journalisten (seien es Promo CDs Anfragen, Interviewanfragen, Gästelistenanfragen etc. pp), genereller Kontaktpflege, dem Verschicken von Promo CDs, dem Einholen von Feedback, dem Erstellen von Promoupdates für unsere Labels und Künstler und unserem Newsletter, dem Organisieren von Interviewtagen und auch Papierkram (wie z.B. Weiterberechnungen von Promokosten oder Reisekostenabrechnung). Es war eher ein Zufall, dass ich in der Musikindustrie gelandet bin, wie es, glaub ich, bei den meisten der Fall war. Ein glücklicher Zufall, keine Frage. Einen wirklichen Traum bzw. ein Vorhaben, das zu machen, hatte ich nicht. Angeber gibt es genug in dieser Welt und dazu zähle ich mich definitiv nicht. Ich weiß, dass es viele davon besonders in der Musikbranche gibt, treffe auch immer wieder auf Leute, die das alles total „funky“ finden. Freue mich dann darüber, dass ich zwar gerne das tue, was ich mache, mein Leben aber Gott sei Dank noch Anderes zu bieten hat.

Nikel von Indigo: Das sieht so aus, dass wir eine sehr arbeitsteilige Firma sind mit den 60 Leuten… Im Grunde genommen begleiten wir die gesamte Wertschöpfung, also, wenn ein Label oder ein Künstler bei uns das fertige Band abgeliefert hat, sorgen wir dafür, dass es gepresst wird, Leute hier im Haus sorgen dafür, dass es promotet wird, dann gibt es Leute, die versuchen, das zu verkaufen, mit allen möglichen Argumenten rauf und runter, dafür haben wir dann auch extra Leute auf der Landstrasse, fünf Leute, die in ganz Deutschland herumfahren. Obendrein haben wir noch einige Telefonverkäufer… Wenn dann alle Aufträge hier gemacht worden sind, versuchen wir, das auszuliefern an die weit über tausend verschiedenen Plattenhändler, die es noch immer in Deutschland gibt. Aber es gibt hier auch ganz profane Arbeiten wie eine Buchhaltung, denn wir wollen natürlich auch irgendwann mal am Monatsende unser Geld auf dem Konto sehen, und es gibt natürlich ganz harte stramme Lagerarbeiten. Pakte packen ist genauso wichtig wie eben Neukundenanmeldungen, sehr viel Bürokratie hängt damit zusammen, aber wir haben eben auch sehr viel Beschäftigungen, die sich um das sogenannten Repertoire-Feld drehen, d.h. was für ein Repertoire wir in den Vertrieb aufnehmen. Und das ist so einer der Jobs, die ich persönlich betreue, sprich, wir kriegen jede Menge Anfragen von Künstlern, Labels aus dem In- und Ausland, die gerne über Indigo vertrieben werden wollen, um auf dem deutschen Markt präsent zu sein. Und da suchen wir natürlich das Gespräch mit diesen Lieferanten und es stellt sich dann heraus, das und das ist interessant für Indigo, wenn man sich das dann angehört hat oder es ist völlig daneben, dann sagt man gleich „Liebe Leute, geht lieber zu einem netten Mitbewerber, aber hier wir werden nicht gemeinsam etwas auf den Markt bringen können“.
Olaf: Zu der Frage, ob wir das werden wollten, kann man, glaube ich, allgemein sagen, dass wir hier sehr viele Quereinsteiger haben, die als Musikfans Bock haben, hier zu arbeiten, also die haben das hier dann nicht unbedingt gelernt oder so, d.h. die haben kein Musikmarketing gemacht, sondern sind über irgendwelche vorherigen Jobs da halt reingerutscht. Bei Nikel war das ja auch ähnlich früher, denke ich.
Nikel: Ja, das ist bei fast allen so. Es gibt zwar jetzt so halbwegs Lehrberufe wie Medienkaufmann, aber den hat hier z.B. keiner durchlaufen, wir sind aktuell auch wieder mal kein Ausbildungsbetrieb, obwohl das sinnvoll wäre, hier wird viel Wissen per learning bei doing sich raufgeschafft. Natürlich gibt es einige Leute mit Spezialkenntnissen, meinetwegen, wenn sie sehr viel am Computer rum machen müssen, dann müssen die da natürlich programmieren können oder solche Sachen… Ein bisschen kaufmännischer Hintergrund sollte natürlich auch bei den Tätigkeiten hier nicht ganz von der Hand zu weisen sein. Ob das noch cool ist, in der Branche zu arbeiten? Nee, da gibt es heute viel zeitgemäßere Sachen. Wir sind doch ein Medium des vorletzten Jahrtausends, deshalb kann man uns glatt vergessen…
Olaf: Also ich kriege die Frage schon öfter „Vinyl-Schallplatten? Gibt´s das denn noch, will das noch jemand kaufen?“ Das ist nicht von der Hand zu weisen, dass so was tatsächlich kommt. Ansonsten hängt es wahrscheinlich davon ab, je jünger man ist, um so cooler findet das der Bekanntenkreis irgendwie noch, andererseits wissen die 20 Jährigen wahrscheinlich gar nicht mehr, was das ist, weil man alles umsonst aus dem Netz runter lädt. Und ansonsten, ja Jan, das ist für die meisten von uns eine 40 Stunden Woche, d.h. du kommst fünf Tage die Woche hier her, arbeitest deine acht neun Stunden ab, was auch immer, gehst dann abends vielleicht noch mal auf ein Konzert, was von einer Band stattfindet, die wir vertreiben, aber das ist schon ein Bürojob, also für die meisten, keine Frage.

Wie läuft das, ich mache jetzt nen DIY Punklabel und bringe neun Singles meiner Band raus und will bei euch in den Vertrieb, hab ich ne Chance und warum nicht? Ab wann werden Labels für euch interessant? Was wäre (egal ob lange schon nicht mehr existent oder so) für euch „das“ Label für euren Vertrieb? 

Michael von NMD: Klar hast du eine Chance, weil bei uns erstmal jeder angehört wird und eine Chance bekommt, der mit Musik aktiv ist. Dann muss man aber natürlich auch anfangen, nach dem Kosten-Nutzen-Faktor zu schauen. Es ist relativ sinnlos, ein Album oder Single, egal ob CD oder Vinyl, ins Programm zu nehmen und dem Handel anzubieten, wenn um das Produkt herum nichts passiert. Also muss gewährleistet sein, dass die Band live aktiv ist, dass in den Szene-Magazinen über die Band berichtet wird, dass es Reviews gibt, dass sie ggf. sogar von einigen Radio-Sendungen gespielt werden, usw… Natürlich gibt es noch haufenweise andere Marketing- und Promotion-Tools und hier müssen Künstler, Label und Vertrieb gemeinsam schauen, was Sinn ergibt und was nicht. Und wenn ein Label bereit ist selber auch aktiv zu sein und einen realistischen Blick auf die heutige Branche hat, dann sagen wir: Herzlich Willkommen!

Andrew von Alive: Nun ja, primär müsste man sich deine Band und das Drumherum mal genau betrachten: Es gibt nicht nur eine unglaubliche Vielzahl an Bands, sondern im direkten Verhältnis auch die gleiche Menge an Labels. Natürlich denkt jedes Label, sein Künstler wäre das Non-Plus-Ultra, was jedem auch erlaubt sei. Unsereins würde eine Vielzahl an Komponenten betrachten, u.a. wie viele Veröffentlichungen plant das Label, ist es marketingtechnisch gut aufgestellt? Gibt es eine Promotionarbeit um das Label, um den Künstler herum? Hat die Band eine Historie? Alles Argumente, um die Veröffentlichung dem Handel „schmackhaft“ zu machen, denn dieser benötigt ja auch zumindest die Chance auf eine Nachfrage.

Jan von Broken Silence: Ein Label (und seine Künstler) sollte in seinem Genre Akzente setzen und Aufmerksamkeit erregen. Es hilft, wenn bekanntere Bands an Bord sind. Es hilft, wenn die Bands viel spielen und das Label ordentliche Promotionarbeit leistet, um seinen Katalog in der (Szene) Öffentlichkeit bekannt zu machen. Aber das sind vage Eckpunkte. Ein Label mit drei Künstlern kann genau so gut oder schlecht laufen wie eines mit einem Backkatalog von über 100 Titeln. Was aber sicher wichtig ist: Der Vertrieb muss den Handel davon überzeugen können, dass ein Label und dessen Künstler überregionale und genre-interne Relevanz besitzen. Es muss eine Nachfrage geben, Leute, die die Tonträger da draußen kaufen wollen. Daran müssen Label und Vertrieb permanent gemeinsam arbeiten.

Ralph von Cargo Records: Um bei Cargo Records eine Chance als Label zu haben, muss eine gewisse Anzahl von Veröffentlichungen pro Jahr gewährleistet sein. Dazu muss das Portfolio des Labels auch echte Verkaufschancen haben, ein reines Punk-Singles Label ist zwar ein löbliches Hobby, hat aber keine realistischen Verkaufschancen. Da wir zurzeit an der Obergrenze unserer Kapazitäten stehen, mit mehr als 120 Labels im Vertrieb, sind die Aufnahmekriterien zurzeit natürlich extrem am Markt orientiert. Labels, bei denen wir über das selbst auferlegte „Aufnahmestop“ nachdenken würden, gibt es natürlich, ich denke da nur an Epitaph oder Asthmatic Kitty.

Sabine von Rough Trade: Es muss halt passen, von allen Seiten. Sprich, musikalisch, menschlich und auch betriebswirtschaftlich.

Olaf von Indigo: Nee, also mit Indigo, das bringt nichts, wir erreichen schon eher die größeren Händler. Wir erreichen sicherlich auch kleine Vinyl-Höker, aber wenn du ein neun Single DIY Label hast, machst du sowieso zwei Drittel deines Umsatzes nicht über die traditionellen Vertriebswege. Und für Singles gibt es andere Vertriebe, die darauf ein bisschen spezialisierter sind.
Nikel: Oder die spezial Mailorder, die würden das im Fall der Fälle natürlich bei uns kaufen wollen, aber jetzt ne Singles-Reihe rauszubringen ist für uns nicht gerade das Thema, wovon hier die Firma überleben kann. Wir müssen immer darauf achten, dass das Verhältnis von Umsatz und Arbeitseinsatz irgendwo so halbwegs stimmig ist. Man kann sich sicherlich auch mal so ein kleines Schätzchen nebenher und aus Freude an der Sache leisten, aber der Hauptumsatz, von dem eben hier die 60 Leute ernährt werden wollen, den machen wir halt nun mal im CD-Bereich, durch Umsätze mit Media-Markt und Saturn, mit amazon und vielleicht dem ein oder anderen interessanten Export-Partner.
Olaf: Dementsprechend muss man schon davon ausgehen, dass wir im Durchschnitt lieber 1000 von einer CD verkaufen wollen und gerne mehr, aber nicht unbedingt regelmäßig Themen haben wollen, wo wir 100 vielleicht mit Ach und Krach im Handel platziert kriegen, wo du dann die Hälfte noch als Retouren einsammeln wirst. Da sind viele von den kleineren Labels wirklich bei anderen Partnern besser aufgehoben, muss man schon sagen.

Würdet ihr Produkte augrund „politischer“ Bedenken nicht vertreiben, z.B. eine Rasta-Platte mit homophoben Texten etc.?  

Michael von NMD: Natürlich! Sobald es rechtsradikal wird oder bestimmte Gruppen diskriminiert werden oder es pornografisch oder gar in Richtung Kindesmissbrauch geht, dann gibt es natürlich gar keine Diskussion darüber dass solche Themen bei uns selbstverständlich nicht vertrieben werden!
Andrew von Alive: Ich gehe mal davon aus, du meinst mit „politischem Bedenken“ rechte bzw. rassistische Inhalte. Ja, diese lehnen wir ab.

Jan von Broken Silence: Ja, klar. Aber wir sind auch kein moralinsaurer Kaffeekranz, der bei jedem beliebigen Reizwort gleich zusammenzuckt. Grundsätzlich sollen Meinungsvielfalt und kontroverse Inhalte ihren Platz haben. Wenn Künstler Aussagen treffen, die eindeutig und ohne Interpretationsspielraum Minderheiten oder „Schwächere“ abwerten oder angreifen, die unverhältnismäßig unmenschlich und Gewalt verherrlichend sind, ziehen wir auch mal die Reißleine. Aber so was wird im Einzelfall sorgfältig abgewogen und nicht nur mit den Labels, sondern auch bei uns intern umfassend besprochen.

Ralph von Cargo Records: Ja. Wenn alle am Verkauf beteiligten Personen bedenken äußern, wird das Label keine Chance haben. Dabei ist rechtes Gedankengut genauso ein rotes Tuch, wie der Aufruf zu Gewalt, menschenverachtende Texte oder Bandmitglieder mit rechtsradikalem Hintergrund.

Sabine von Rough Trade: Da die von uns vertriebenen Labels (zum größten Teil) weder mit rassistischen oder Gewalt verherrlichenden Künstlern zusammenarbeiten und somit auch keine kritischen Alben veröffentlichen, stellt sich die Frage nicht wirklich. Sollte es dennoch der Fall sein, wird von Fall zu Fall geschaut, in wie weit es politisch vertretbar ist oder schlichtweg nicht.

Nikel von Indigo: Die Diskussion haben wir schon vor einigen Jahren gehabt, im Zusammenhang mit…
Olaf: …einem amerikanisch-jamaikanischem Reggae-Label, die halt viele Künstler vertreten haben, die haben für Europa nicht unbedingt die Platten mit den homophonen Texten veröffentlicht, aber wir wussten, dass diese Künstler halt andere Platten gemacht haben und haben hier dann eine lange Diskussion in der Firma gehabt. Es ist immer sehr einfach, pauschal zu sagen „Das ist uncool, das machen wir nicht“, aber da hängen noch ein paar mehr Sachen dran, d.h. im Endeffekt ist die Entscheidung darüber gefallen worden, dass einige Leute absolut kein Interesse hatten, damit weiterzuarbeiten und da wurden dann auch wirtschaftliche Erwägungen hinten angestellt und Indigo hat gesagt „Nein danke, wir kündigen halt“. Würden wir so sicherlich auch wieder machen, aber das ist kein Selbstgänger. Wenn irgendjemand ankommt und sagt, „Der ist jetzt aber homophob“ oder „Der ist jetzt aber Rassist“, da wird schon hier geschaut, bevor man eine Entscheidung fällt.
Nikel: Es wird auch vieles missverstanden, vieles ist interpretationsbedürftig, aber klar ist, dass wir hier im Hause eine klare Abgrenzung nach rechts haben, also wenn jemand mit irgend so einem Kram um die Ecke käme, der hätte keine Chance.

Entfällt in Zeiten des Internets nicht ein Vertrieb mit Tonträgerlager völlig? Stichwort Kulturflatrate usw.  „Provokant“ gefragt: Ist das nicht immer so, dass die Musikindustrie dem technischen Fortschritt hinterhinkt, in den 70er war’s das schlimme Tape, heute die mp3… kann man das nicht eher als Herausforderung sehen oder ist das Internet „wirklich“ eine Bedrohung?

Michael von NMD: Wir glauben nicht, dass ein Vertrieb heutzutage „entfallen“ wird. CDs wird es immer geben, viele Leute wollen nach wie vor ein schön gemachtes Produkt in der Hand haben. Mit schönem Booklet oder Digipack. Gleiches gilt insbesondere für Vinyls, die immer noch sehr gefragt sind. Gerade im Metal- und Punk-Bereich reißen sich die Fans und Sammler nach schönen Picture-Vinyls oder aufklappbaren Vinyl-Covern, usw. Und dem technischen Fortschritt begegnen wir, in dem wir mitmachen: Über Partner wird ein Teil unseres Kataloges mittlerweile in über 700 Downloadshops weltweit angeboten!

Andrew von Alive: So würde ich das nicht formulieren. Solange es physische Tonträger gibt, braucht es eine Logistikzentrale, die diese Veröffentlichungen bündelt und ausliefert. Jedes Label individuell zu betreuen, würde die Kapazitäten eines einzelnen Händlers personell und buchhalterisch doch arg überfordern. Auch gerade die Vielzahl an angebotenen Produkten erlaubt eine andere Preiskalkulation, die wiederum nicht unerheblich ist. Mit der Entstehung des digitalen bzw. MP3 Handels ist wiederum der Markt erweitert statt verkleinert worden.

Jan von Broken Silence: Der Vertrieb von physischen Tonträgern ist immer noch absolut führend in der Auswertung von Musikaufnahmen. Auch wenn’s früher sicher besser lief. Anders als ein Major, der vom Verlag über Label, Merchandise, Live-Geschäft bis hin zum Vertrieb alle Ebenen der Wertschöpfungskette abdeckt, müssen Indie-Vertriebe in ihrem kleineren Bereich optimal mit den Herausforderungen umgehen. Für uns bedeutet das z.B., dass wir selbstverständlich auch den digitalen Vertrieb für unsere Labels übernehmen. Gute Musik wird es sowieso immer geben, und Tonträger sicher auch noch eine ganze Weile.

Ralph von Cargo Records: Das Internet stellt für diejenigen eine Bedrohung dar, deren Firmenpolitik sich ausschließlich mit den „Gefahren“ auseinandersetzen, anstatt die Möglichkeiten zu nutzen. Das war auch in den 70er nicht anders. Letzten Endes aber hat das Tape genauso wenig Konzerne gekillt, wie es die mp3s tun. Die derzeitige Flaute im Musikbiz ist ein Zusammentreffen vieler Faktoren, an denen die Majors selbst nicht unschuldig sind. Wer Eintagsfliegen en masse fabriziert und aufhört, Bands langfristig aufzubauen, darf sich nicht wundern, wenn die geschmacksfrei gewordene Klientel dazu übergeht, nur noch die billigen Häppchen zu genießen, anstatt für teure Menüs zu bezahlen.Für alle anderen ist das Internet lediglich ein neuer Markt, eine Chance, seine Vertriebsmöglichkeiten zu erweitern und sich neuen Herausforderungen zu stellen.

Sabine von Rough Trade: Kaufst du denn noch CDs oder Schallplatten im Handel oder im Internet? Vollkommen überflüssig wird unsere Arbeit nicht werden. Natürlich kommt dem Internet immer mehr Bedeutung zu und es bedroht den physischen Vertrieb. Den Trend hat man, wenn auch etwas spät, erkannt. So haben wir unsere eigene Digitalabteilung, die Internetplattformen wie Itunes oder Musicload mit unserer Musik beliefert. Das Internet bietet also auch Chancen.

Nikel von Indigo: Nein, natürlich fällt ein Vertrieb klassischen Stils, also mit körperlichen Tonträgern, nicht völlig vom Markt herunter. Erstens gibt es ja immer noch genügend Leute, die sich so etwas angucken und anhören wollen. Zum zweiten, das Internet ist natürlich auch ein Vertriebskanal, der nicht zu unterschätzen ist und vor allem ein illegaler Vertriebskanal, der insgesamt allen, die mit der Wertschöpfung von Musik zu tun haben, das Wasser bis zur Gurgel steigen lässt, weil wir in Deutschland da einfach keine Abwehrchancen haben, das zu verhindern, also das eben heruntergeladen oder raubkopiert wird. Und das ist definitiv existenzbedrohend und auch eine andere Nummer als früher, so Käse, das die Kassette halt das normale Vinyl killen würde, die Zeiten sind ja nun geradezu romantisch gewesen, als es noch diesen Slogan gab. Wir wissen, dass das der Fall ist und wir haben damit gelernt, umzugehen. Unsere Branche befindet sich seit 2001 im Rückwärtsgang und der Schrumpfungsprozess geht permanent weiter. Es ist sicherlich nicht einfach, eine Firma in einem Umfeld zu führen, bei dem der Markt nicht wächst, sondern eher schrumpft. Dadurch ist man auf andere Sachen angewiesen und eben auch andere Wege, deshalb haben wir ja eben auch angefangen, DVDs zu vertreiben, weil die Verluste, die wir im CD-Geschäft haben, einfach schon von den Mengen, die wir da vertreiben müssten, um die Firma am Leben halten zu können, nicht anders kompensieren können, außer durch DVD-Verkäufe. Und das ist auch ein äußerst spannender Markt. Ob das auch noch in zehn Jahren so fröhlich weitergehen wird, weiß keiner, aber das hat man auch vor zehn Jahren nicht gewusst, da dachte man eigentlich auch schon, 2005 würde eigentlich das Internet den normalen Tonträgerhandel und Vertrieb gekillt haben.
Olaf: Es ist schon so, dass wir auch versuchen, online-Rechte, für die Sachen, die wir vertreiben, zu bekommen, teilweise bei deutschen Labels, mit denen wir arbeiten, teilweise bei Ausländern. Das ist für Indigo aber ein prozentual sehr kleiner Anteil, ich glaube, das ist noch nicht mal fünf Prozent, die wir mit online-Verkäufen machen. Das ist in anderen Ländern anders, also in Amerika und England ist der Markt da schon ganz massiv in diese Richtung vorgegangen, das geht so in Richtung 30-40 Prozent, die online generiert werden. Indigo ist in der Ausrichtung her aber weiterhin ein Vertrieb physischer Ton- und Bildträgern, muss man ganz klar sagen.

Ist es richtig, dass eine große Konzentration im Bereich der Vertriebe stattgefunden hat, wenn man mal vergleicht, wie viele es vor 15 Jahren gab und wie viele heute? Ist die Entwicklung in den USA mit dem Supervertrieb Koch Distribution die Zukunft, die für hier ansteht? Und mal ganz doof für den Laien gefragt, wie kann es passieren, dass so große Vertriebe wie die EFA oder vor kurzem SPV in Deutschland und The Lumberjack Mordam Music Group in USA trotz einem riesigen Portfolio an tollen und bekannten Labels Konkurs gehen? 

Michael von NMD: Warum andere Vertriebe pleite gehen, können wir nicht beurteilen, da jedes Unternehmen anders geführt wird. Grundsätzlich haben Entwicklungen in den USA dann in Deutschland meistens keine Nachmacher gefunden, insofern bin ich auch hier ganz beruhigt. Klar, es gibt weniger Vertriebe als vor 15 Jahren und es werden auch weniger Tonträger verkauft. Und es gibt auch Vertriebe, die sich zusammenschließen und damit gemeinsame Ressourcen besser nutzen. Aber genauso wird es auch immer kleinere Vertriebe geben, die nämlich die Produkte vertreiben, die bei den „großen“ Vertrieben ggf. durchs Raster fallen…

Andrew von Alive: Eine Konzentration findet in allen denkbaren wirtschaftlichen Bereichen statt, das ist soweit nichts Neues. Solche Konzentration schafft aber auch immer wieder einen Nährboden für neue, unabhängige Firmen , die sich bestimmten Nischen widmen. Ein riesiges Portfolio hat auch einen riesigen Kostenapparat im Nacken. Da reichen schon kleine Fehlkalkulationen aus, um Konkurs anmelden zu können. Gerade dieser Wirtschaftszweig ist von Trends abhängig, die man nicht vorhersehen kann, wie es z.B. in der Pharmaindustrie der Fall ist.

Jan von Broken Silence: Wir sehen ständig (übrigens mit Sorge), dass Mitbewerber aufgeben müssen. Die jeweils Überlebenden profitieren zwar von der Verengung der Vertriebsszene, aber trotzdem schaden solche Insolvenzen den betroffenen Labels, dem Handel und allen daran hängenden Beteiligten bis hin zum Trust, dass auf einer unbeglichenen Anzeigenrechnung sitzen bleibt. Im Moment finde ich die Vielfalt hierzulande noch ganz erträglich. Dass große und namhafte Firmen trotz toller Produkte den Hut nehmen müssen, liegt, ganz lapidar gesagt, daran, dass sie nicht gut und aufmerksam genug gewirtschaftet haben.

Ralph von Cargo Records: Natürlich ist es richtig, denn das Musikbiz kann sich den Gesetzen der Marktwirtschaft nicht entziehen. Diese strebt grundsätzlich nach Monopolisierung und Vormachtstellung, das ist im Musikbiz nicht anders als in der Autoindustrie. Es gab vor 40 Jahren auch deutlich mehr Autobauer als heute und wie kann es sein, dass Opel pleite geht, obwohl jeder zweite so ein abgesägtes Ei fährt? Wie kann Griechenland pleite gehen, obwohl elf Millionen Einwohner Steuern zahlen? Kurz gesagt: Wer mit seinem Kapital nicht wirtschaften kann, geht pleite, die Größe des Portfolios spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Und die Großen schlucken die Kleinen, das ist die Evolution im Kapitalismus. Der Schlamassel begann, als sich artfremde Firmen in das Musikbiz einmischten, als Getränkehersteller Majorplattenfirmen kauften und glaubten, Popmusik folgt den Gesetzen des Handels. Ein Irrtum, den sie niemals imstande waren, zu reparieren. Bis heute nicht.

Sabine von Rough Trade: Nun ja, das ist halt nun mal die freie Marktwirtschaft. Zu viele Anbieter, zu wenig Abnehmer. Irgendwann beginnt der Markt, sich selbst zu regulieren.

Seht ihr die andere Vertriebe in der BRD als Konkurrenten oder ist es eher so, dass alle gleich von der Musikindustrie abhängen und deren Vorgaben kommen halt eher aus England und vor allen USA? 

Michael von NMD: Naja, Konkurrenten sind wir in gewissem Sinne schon alle, aber wir nennen uns ja untereinander eher „Mit-Wettbewerber“, ha. Die meisten kennen sich untereinander von Messen oder anderen Veranstaltungen, viele Vertriebe kooperieren bei bestimmten Themen auch miteinander und es kommt zum Glück auch oft vor, dass man Bewerbungen von neuen Labels ablehnt weil vielleicht das Genre nicht passt, man dann aber mit gutem Gewissen einen der anderen Vertriebe empfiehlt, bei denen es ggf. besser passen könnte.

Andrew von Alive: Andere Vertriebe sind Mitbewerber auf demselben Markt. Das Portfolio entscheidet letztendlich über die Attraktivität des einzelnen Vertriebes. Egal wo die Vorgaben herkommen, entscheidend ist am Ende das Kaufverhalten des Konsumenten.

Jan von Broken Silence: Ich grüße meine hier interviewten „Konkurrenten“ ganz herzlich und wünsche ihnen alles Gute für die Zukunft! Natürlich sind wir alle von übergreifenden Entwicklungen im Geschäft betroffen, bei uns speziell spielen die „Vorgaben aus England und den USA“ aber eine eher kleinere Rolle.

Ralph von Cargo Records: Natürlich sind die anderen Vertriebe Konkurrenten, aber es herrscht ein gesundes Klima am Futtertrog vor, die Grabenkämpfe werden, sofern sie stattfinden, in der dritten Halbzeit auf einer Wiese am Dorfrand geführt. Dazu gibt es ja auch noch den Impala (kurz für: Independent Music Publishers and Labels Association) Verband, in dem über 4.000 europäische Independent-Labels und -Vertriebsorganisationen Mitglied sind. Die Vorgaben kommen vom Kunden und die ticken in Deutschland anders als die Amis oder die Engländer.

Sabine von Rough Trade: Natürlich sind andere Vertriebe Konkurrenten. Was nicht heißt, dass man einige Menschen, die dort arbeiten und die man kennen gelernt hat, nicht auch gut leiden kann und somit auch ein gewisses Gefühl der Verbundenheit vorhanden ist.

Nikel von Indigo: Also, es sieht so aus, dass wir natürlich mit den ganzen Independent-Vertrieben in irgendeiner Art und Weise informell verbandelt sind, mit den Majors haben wir herzlich wenig zu tun, das ist eine Welt für sich, die ist für sich abgeschottet, vielleicht dealen die unter sich auch irgendwas hin und her. Tatsache ist, dass unter den Independent-Vertrieben immer um die Lieferantenschar hart gebuhlt wird, da geht’s natürlich darum, interessante Lieferanten zu bekommen, und die will man dann auch natürlich bei sich behalten. Auf der Kundenseite, da informiert man sich eben dann doch mal ab und an, wie gut oder wie schlecht man mit welchen Kunden oder welchen Läden zurecht kommt und da gibt man sich auch gegenseitig Tipps, das ist also auf der Seite etwas entspannter. Aber grundsätzlich ist man natürlich Mitbewerber und hat natürlich seine eigenen Interessen im allgemeinem Wettbewerb wahrzunehmen. Bezüglich den Vorgaben der Musikindustrie aus England und USA; wir sind da der Meinung, dass wir eigentlich relativ autonom arbeiten, was die Künstlerauswahl und die ganze künstlerische Entwicklung betrifft und das jeder Vertrieb erstmal sieht, dass er eine starke Basis im Inland hat. Künstlerische Vorgaben, die aus den USA kommen oder stilistische Sachen, die aus England kommen, das merken wir jetzt nicht so sehr, das merken eher die Künstler, wenn die der Meinung sind, sie müssen jetzt irgendwie wie die und die Band aus Amerika klingen oder wie die oder der Rapper oder weiß der Teufel wen, das ist natürlich umgekehrt auch ein Befruchtungsprozess, das bald in Zukunft ganz Europa so klingen wird wie Lena, das ist allen klar, die jetzt überall die neuen Hits für 2012 kreieren wollen.

Stichwort Zukunft des Business, was wünscht ihr euch, was geändert werden müsste, dass es den Vertrieben/Labels wieder besser geht?

Michael von NMD: Oha… bei der Frage müsste man lange ausholen. Und es wäre falsch, die eigenen Versäumnisse der Musikbranche auf die Leute abzuschieben, die illegal downloaden. Das ist nix neues und für uns zu einfach. Grundsätzlich wird es immer Musik geben und Musik muss auch immer verbreitet und vertrieben werden. Und da die Gesellschaft und die Möglichkeiten sich in all den Jahren nun mal sehr geändert haben und auch weiterhin ändern werden (Internet und Co.), muss man das Bewusstsein schaffen, dass Musik genauso eine Arbeit ist wie ein Haus bauen oder Autos reparieren oder Brötchen zu backen. Und dafür geben die Leute ja auch Geld aus… Man muss das Produkt Musik vielleicht etwas anders gestalten, für den Nutzer interessanter und wertvoller erscheinen lassen und zudem sollten alle Bereiche der Musikbranche meiner Meinung nach dichter zusammenrücken und gemeinsam arbeiten: Konzertveranstalter, Labels, Studios, Vertriebe, Künstler, usw. Vielleicht kann man so auch abwenden, dass es immer heißt „die Plattenfirmen sind die bösen und nehmen uns Musiker nur aus, wir machen lieber alles selber“. Damit ist am Ende keinem geholfen.

Andrew von Alive: Das setzt voraus, dass es den Labels und den Vertrieben „schlecht“ geht. Dies steht aber u.a. im Widerspruch zu der immer höheren Anzahl an Veröffentlichungen. Das Thema jedoch näher zu beleuchten, ist einen eigenen Artikel wert.

Jan von Broken Silence: Es wäre einfach schön, wenn Menschen mehr als bisher erkennen, dass man unglaublich viel Leidenschaft, Mühe, Zeit und Geld aufwenden muss, um Musik entstehen zu lassen und sie in die Welt hinaus zu schicken. Dass Werte geschaffen werden, die man gelegentlich auch mal belohnen kann, indem man sich was kauft. Das branchenübliche Dampfgeplauder zu diesem Thema überlasse ich sehr gerne Herrn Gorny.

Ralph von Cargo Records: Wünsche werden zur Weihnachtszeit geäußert, wir sind alle realistisch genug, um zu wissen, dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann. Wer sich indie auf die Fahnen schreibt, ist vom Nerdtum der Fans abhängig. Den gab es schon immer, nur fand er früher andere Wege, miteinander zu kommunizieren. An die Stelle der Fanzines sind die Internetforen getreten und ich wünsche mir, dass die User dort wieder ein Bewusstsein für den Wert von Musik entwickeln. Diese „ich-will-alles-für-umsonst“ Mentalität ist nicht nur zum kotzen, sondern auch der Sache an sich nicht förderlich. Wenn es sich nicht mehr lohnt, Musik zu machen, die fern von den Mainstream-Robotern, wie ihn TV-Blödfrettchen wie Dieter Bohlen züchten, funktioniert, werden wir in naher Zukunft nur noch den Mark Medlocks dieser Erde lauschen dürfen. Es ist ganz simpel: wer das Kapital hat, bestimmt die Richtung. Und wer nichts bezahlen will, muss nehmen, was er vorgeworfen bekommt.

Sabine von Rough Trade: Ein wenig mehr Wagemut auf allen Seiten, neue Wege zu gehen. Menschen, die ein Verständnis dafür haben, dass andere Menschen eine Menge Arbeit in ein „Produkt“ gesteckt haben. Eine Erholung der generellen Wirtschaft, so dass der Einzelne wieder in der Lage ist, Geld auszugeben, um sich Musik zu kaufen, die er für gut befindet.

Nikel von Indigo: Das wäre natürlich wunderbar, wenn wir jetzt hier den Weihnachtsmann spielen könnten. Tatsache ist natürlich, dass uns am meisten bedrückt, dass so viel illegal runtergeladen und raubkopiert wird. Wenn es ein gewisses Umdenken in Richtung einer legalen Alternative geben würde, dann würde es uns allen besser gehen, aber das ist auch schon fast ein illusorischer Wunsch, aber so ungefähr die Richtung. Künstlerisch, okay, denke ich mir natürlich auch immer, wäre klasse, wenn es mal wieder bessere Platten geben würde, wenn die Musiker mehr üben würden, aber wem sagste das.

Über die Musikindustrie zirkulieren ja einige Mythen, zuletzt drastisch in dem „Kill your friends“ Buch von der Romanfigur eines geldsüchtigen und im wahrsten Sinne des Wortes „über Leichen gehenden“ Protagonisten als A&R eines Labels. Sicherlich „leicht“ übertrieben, aber wie sagten es ja schon die Sex Pistols „The only notes that really count are the ones that come in wads“, ha.  Am Ende vielleicht noch mal von euch eine besonders abstruse oder lustige Anekdote über wichtige Geschäftabschlüsse bei Messen, legendäre Kontraktunterschriften, Hotelzimmerdeals etc.?

Michael von NMD: Wir haben „Kill your friends“ auch gelesen und uns teilweise amüsiert, aber ebenso ist es teilweise gar nicht so weit weg. Vielleicht nicht in der Intensität und sicherlich läuft es je nach Genre auch immer etwas anders in punkto Verhandlungen und Vertragsabschlüsse. Eines steht aber fest: Langweilig ist es in der Branche nie, man hat immer mit Freaks und lustigen Leuten zu tun und im Grunde hält jedes Meeting, jedes Gespräch und jeder Moment seine eigene Anekdote bereit… Am schönsten ist es immer dann, wenn die Künstler selber bei uns im Büro sitzen und man bei einigen merkt, dass sie vom Business wenig bis gar nichts verstehen, aber in ihrer Musik wiederum absolute Profis sind. Und uns geht’s i.d.R. ja genau andersrum und lustig wird’s dann, wenn man schön aneinander vorbeiredet, ha.

Andrew von Alive: Ich glaube, solche Anekdoten sind auch eher dort anzusiedeln, wie sie in der Antwort zum „coolen Job“ angedeutet waren.

Jan von Broken Silence: Jan, Du weißt doch ganz genau, was ich auf Messen treibe. Ich hole Bier im Ilses Erika für die Trust-Mannschaft, sonst nichts. Großartige Hotelzimmer-Krimis habe ich selbst noch nicht erlebt, ich erfreue mich vielmehr an der Summe der vielen einmaligen und skurrilen kleinen Erlebnisse, die mir im Berufsalltag und drum herum passieren. Und natürlich sind die besten Geschichten doch die, die ich aus guten Gründen hier nicht ausplaudern kann. Frag mich das noch mal in live, ich nehme übrigens Rotwein, kein Bier. Beste Grüße!

Ralph von Cargo: Da bin ich raus. Die Abschlüsse machen der CEO oder die A&R’s, nicht ich…

Michael von Cargo Records: Meine liebste Signing-Geschichte stammt aus dem Jahre 1992. Ich habe Bored! auf einem Festival gesehen und war unglaublich beeindruckt. Habe mich in den Backstage durchgearbeitet und etwas schüchtern mit den Herren gesprochen. Wohl wissend, dass sie bei Glitterhouse / Sub Pop Europe unter Vertrag stehen, dass ich gerne irgendwann auf Subway eine Platte veröffentlichen würde. Danach jedoch mindestens drei Monate nichts mehr gehört. Klar, wie kann man auch einer Band backstage einen Deal anbieten (ohne Scheckheft!) und wissend, dass sie doch gut aufgehoben sind. Irgendwann flatterte ein Umschlag mit einem Tape ins Haus, ohne Brief oder irgendeiner Zeile, Absender Dave Thomas.

Tape angehört, cooles Zeug, aber irgendwie ohne ein Wort, seltsam. War wohl das „Fan Paket“ und habe es auch nicht bis zu Ende gehört. Ein paar Tage später noch mal gehört und am Ende des Tapes war die Auflösung. Dave hat sich bei einem Konzert im Tote in Melbourne mitsamt Gitarre von der Bühne ins Publikum gestürzt. Für Australier nichts besonderes, nur war das Gitarrenkabel um die Beine gewickelt und er ist direkt vor der Bühne eingeknickt und hat sich dabei beide Arme gebrochen. Die genaue Erklärung war auf dem Ende des Tapes, ebenfalls das ob, das kommende Album auf Subway zu veröffentlichen, nur müsste ich mich etwas gedulden, denn die Knochen müssten erst noch zusammen wachsen. „Scuzz“ wurde dann 1993 veröffentlicht.

Sabine von Rough Trade: Vielleicht bin ich noch nicht lange genug dabei und auch in der falschen beruflichen Stellung, um solche Anekdoten erzählen zu können. Meiner bescheidenen Erfahrung nach sind solche extremen Zeiten vorbei und falls nicht, bin ich froh, so was („über Leichen gehen“) noch nicht erlebt zu haben. Wie oben angedeutet, so funky-cool und abgefahren ist das tägliche Geschäft nicht. Meist eher normal. Und über die verrückten und lustigen Momente, denen ich beigewohnt habe, werde ich kein Wort verlieren. „Kill Your Friends“ ist nichtsdestotrotz ein sehr unterhaltsames Buch.

Olaf von Indigo: Ja, Nikel und ich sind uns relativ einig, das wir da nicht so viele exzessive Sachen erlebt haben, ha ha. Aber die Stories sind natürlich gut, die in dem Buch da drin stehen. Aber eine tolle Geschichte hat Nikel noch von früher zu erzählen…
Nikel: Genau, ja also damals, als noch die richtigen Deals gemacht wurden und die Ukraine die deutsche Schallplatten-Industrie entdeckte, oder überhaupt die internationalen Vertriebe, da kamen die dann irgendwie zu Indigo an den Stand und sagten „Ey Leute, wie wäre das denn, wir würden gerne von euch 10 000 CDs kaufen, für die Ukraine…“
Olaf: Von welcher Band?
Nikel: Ja… den Dead Kennedys natürlich, ha ha, ist klar, habe ich natürlich sofort vermittelt, die verkaufen wir doch gerne mal auf einen Schlag an die Ukraine. Auf jeden Fall war dann halt die Frage, „Wie wollt ihr das bezahlen?“ und die „Ja, wir haben da so ganz tolle Ideen, wir können die entweder gar nicht bezahlen“, das war natürlich die ganz interessante Sache, „Wir können die auch nicht tauschen, aber wir haben eine tolle Möglichkeit, euch zu bezahlen, nämlich mit 15 winterfähigen Pferdeschlitten“, haha…
Olaf: Ja das ist doch mal eine Geschichte, so geht das da ab, das kann ich nur bestätigen, haha.

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Eine Frage habe ich noch… An Ralph von Cargo Records!…

Hey Ralph, ihr habt ja auch SST Records im Vertrieb, ein Label, dessen 30 jährigen Geburtstag wir vor zwei Jahren durch ein fettes Special feierten und vor kurzem durch eine DJ- Auflegereihe… Wie kamt ihr zu dem Vertrieb von SST und schafft ihr „Das Unmögliche“, d.h. mit SST zu sprechen?
Carsten Kleine, Cargo-Labelmanager: Zu 1): SST ist ein Label im Vertrieb des US Distributors Plastichead und somit Teil unseres Portfolios, da wir viele Plastichead Label in Deutschland vertreiben. Zu 2): Nein.

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Eine Frage habe ich noch… An Andrew von ALIVE AG!…

Hi Andrew, eine Nachfrage noch mal.  Könnte man auch sagen, dass Vertriebe weiterhin wichtig bleiben, da die Anzahl an Veröffentlichungen nach oben geht ? Klar, ich spinne mal weiter: Das quantitative Wachstum ist natürlich zu begrüßen im Sinne von dem alten indepenendt-Gedanken, nachdem jeder Musik machen, sie veröffentlichen sollte etc. Auf der anderen Seite ist es doch schier unmöglich, alles zu hören, dann noch alles zu verkaufen und sowieso: wo bleibt die Qualitätskontrolle? Es ist ja nicht so, dass jetzt jeden Monat eine Band wie Hüsker Dü entsteht, trotz verbesserter Technik im Studio, Internet, einer ganz anderen Form von indi-Vertrieben… Könnte dieser für euch natürlich positive Effekt – Wachstum – nicht irgendwann zum Nachteil werden?
Hi Jan, primär spreche ich davon, dass Vertriebe weiterhin wichtig bleiben, jedoch nicht, weil die Anzahl an Veröffentlichungen nach oben geht, sondern weil sie in der Lage sind, die Anzahl der Veröffentlichungen als zentrale und logistische Schnittstelle für Handel zu bündeln, auszuliefern und zu verwalten. Die immer größer werdende Zahl der Veröffentlichungen stellt jedoch ein Problem dar, wie du schon erkannt hast. Wobei wir da bei der Frage wären, die einen eigenen Artikel wert ist. Ich lasse jetzt mal die wichtigste Frage aus, nämlich die, wer das alles kaufen soll, nein eher kann. Und na klar, das Wachstum hinsichtlich der Veröffentlichungen wird zum Nachteil. Aber interessanter finde ich, sich mal dem Teil der „Qualitätskontrolle“ zu widmen.

Wer stellt diese dar, wer sollte sie (in einer idealen Welt) darstellen? Wir können ja durchaus beobachten, dass jeder Blogger, jedes Forum, jedes Magazin seine eigenen Werte vertritt und gleichzeitig die Qualitätskontrolle zu sein scheint. Ein großes Durcheinander im Dschungel an neuen, heißen Themen, die da gefeatured werden – aber alles mit einer Überlebenszeit von gefühlten 5 MInuten mit der Kraft des Marketings dahinter. Hinzu kommt das sich veränderte Konsumverhalten jugendlicher Subkulturen, die ja primär das Zielpublikum darstellt. Also eine Käuferschicht zwischen 12-24 Jahren, die sich derzeit eher für das Medium (wie iPod, iPhone) an sich interessiert und sich den „Content“ über andere Kanäle besorgt. Das führt dazu, immer mehr Musik zu veröffentlichen und zu schauen, was sich letztendlich durchsetzt. Wobei: ist unsere Wirtschaft nicht eh auf Wachstum programmiert, ha?

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Eine Frage habe ich noch… An Michael von NMD…

Mich hat deine Aussage sehr gefreut in Bezug auf die Rasta-Frage! Um so mehr komme ich ins Grübeln, ihr vertreibt ja auch KB Records und Bandworm Records. KB Records, also Krawallbrüder Records, mit Bands wie Gerbenok, Krawallbrüder selber, stehen erheblich in der Kritik, eine derjenigen Bands zu sein, die sich in einer Grauzone bewegen. Gemeint ist eine fehlende Positionierung gegen rechts, vielmehr würde das unpolitisch für rechtsoffen stehen. Das heißt nicht, dass ich  hier die Nazi-Keule aushole, doch finde ich diese Bands politisch unterkomplex , mit teilweise extrem konservativen Messages , gerade Krawallbrüder und der Force Attack Vorfall, wo es hieß, dass Krawallbrüder „Ein Strick, ein Antifa-Genick“ skandiert haben. Dann wiederum habt ihr Bitzcore und just4 Fun Records dabei… Wie denkst du über die Vorwürfe gegen Krawallbrüder (KB) und Bandworm Records? (siehe Fussnote 1. )
Hi Jan, danke für die erneute Frage. Hier unsere Antwort dazu: Die Thematik insgesamt ist schwierig, dessen sind wir uns bewusst. Schwierig deshalb, weil die Skin- bzw. Oi-Szene schwierig ist, es in diesem Bereich leider rechte Bands gibt und leider aber auch schwierig weil oft Meinungsmache betrieben wird, die manche Bands zu unrecht in Schubladen steckt, aus der sie kaum noch eine Chance haben herauszukommen, wenn „der Ruf erstmal ruiniert ist“ obwohl nicht mal im Ansatz irgendwas politisches hinter der Band steht. Unserer Meinung nach kann man sehr wohl und sehr gut unpolitisch und antifaschistisch sein (wenn man antifaschistisch nicht als politische Einstellung sieht, sondern als die schlichte Ablehnung einer unmenschlichen Ideologie), ohne dabei aber gleich links sein zu müssen! Ganz klar unpolitisch eben.

Nimm Dir als Beispiel mal Hooligan-Gruppierungen, die meist pauschal in die rechte Ecke geschoben werden, obwohl viele dieser Gruppierungen vieler Orts regelmäßig Jagd auf Nazis machen, dabei aber weder Antifa-Mitglieder noch Linke sind, weil eben auch das schlichtweg politisch ist. Auch diese Gewalt heißen wir natürlich nicht gut, ist aber ein Beispiel für unpolitsche Gruppierungen, denen es schlicht um was anderes als um Politik geht. Insofern sind viele der von Dir genannten Bands aus unserem Katalog auch keine politischen Bands, denn für mich stellt sich die Frage wo die Politik sein soll bei Texten in denen es ums Saufen und Feiern geht, wie bei 90% aller Punk- und Oi!-Bands? Nur weil sich eine Band nicht klar gegen rechts bekennt, heißt es doch nicht dass diese Band damit automatisch rechts ist? Ein Antifaschist ist ja auch nicht immer gleich ein Linker.

Viele dieser Bands sind bei Labels wie KB oder Bandworm und somit auch bei uns im Programm, das ist richtig. Aber eben genau deshalb, weil sie unserer Auffassung nach nicht politisch sind, ihre Texte sauber und nicht diskriminierend sind und diese Labels auch einen Haufen Bands wie z.B. Rotz&Wasser oder eben die Krawallbrüder haben, die sich klar und deutlich gegen rechts bekennen! Ohne dabei links sein zu wollen… „Love Music – Hate Facism“ ist daher ein ganz eindeutiges Zeichen. Es gibt linke Bands, es gibt rechte Bands und es gibt eben unpolitische Bands, die Spaß haben wollen, Musik machen wollen – nicht mehr und nicht weniger. Und eben diese unpolitischen Bands, und natürlich auch linke Bands,  finden bei uns eine Heimat! Wir sprechen mit unseren Bands und Labels sowie mit neuen Bewerbern sehr intensiv im Vorfeld und auch während der Zusammenarbeit und wissen daher definitiv, dass keine unserer Band auch nur im Ansatz rechtosoffenes Gedankengut trägt. Sonst würden wir sie natürlich auch nicht vertrieben.

Uns ist aber auch bewusst, dass gerade in der Punk- und Oi!-Szene immer wieder eine Menge Gerüchte entstehen können…Was speziell die Band Krawallbrüder anbelangt, legen wir Dir ein aktuelles Statement der Band ans Herz. Auch das finden wir eindeutig und bestätigt uns darin, diese Band weiterhin bei uns im Vertrieb zu halten: kbrecords.de/krawallbrueder/news.html (Eintrag vom 15.3.10). Danke für den Hinweis in Bezug auf die Band Gerbenok. Wir prüfen grundsätzlich jede CD/LP/DVD die bei uns in den Vertrieb kommt vorab auf textliche Inhalte, so auch die 3 CDs die wir von der Band Gerbenok führen. Der Song „reich und schwul“ ist auf keiner der CDs vorhanden und war uns bisher nicht bekannt. In der Tat klingt das schon recht derbe und wird von uns mal genauer unter die Lupe genommen!

Interviews: Jan Röhlk
Kontakte: new-music-distribution.de, brokensilence.biz, alive-ag.de, roughtrade.de, cargo-records.de, indigo.de

Fussnote

1. Anmerkung Jan: Ich sage nicht, das sind Nazi-Labels, sind sie auf keinen Fall, ihr dürftet ja sonst auch gar nicht die so verkaufen, aber ich denke schon, nach allen Berichten, die ich aus verschiedenen Quellen über die Bands auf den zwei Labels gelesen habe, handelt es sich tatsächlich um politische Bands, und da dann doch eher die konservative, anti- kommunistische Ecke, die keinerlei Berührungsängste mit rechten patriotischen Bands haben…

Wenn man folgende Links zur Kenntnis nimmt in Bezug auf KB: KB spielen mit schottischen Rechtsrocker von „Bakers Dozen“ (oireszene.blogsport.de/2010/02/03/) und den KB Force Attack Bericht (oireszene.blogsport.de/2009/10/19/), findest du nicht, dass hier ein Widerspruch ist von deiner Aussage, dass ihr keine Bands vertreibt, die Diskriminierung betreiben und den konkreten Beispielen hier?

Ich zitiere mal aus dem letzten Link: „Die Diskussionen rund um die Band „Krawallbrüder“ dürfte ja sicherlich noch vielen Leuten vom Force Attack 2007 in Erinnerung sein (…) – leider hat sich seit dieser Diskussion nicht viel im Verhalten der „Krawallbrüder“ und ihres Labels/Onlineshops verändert. Anstatt zu erkennen, wie gefährlich das Spiel mit der Grauzone und den entsprechenden rechten bzw. rechtsoffenen Bands ist, welche zunehmend als Türöffner in die rechte Szene bzw. der Etablierung dieser Bands in der angeblich „unpolitischen“ Szene dienen, wurde beratungsresistent mit dem bisherigen Vertrieb von den entsprechenden Bands fort gefahren. Wir gehen mittlerweile davon aus, dass es sich eben nicht nur um Geschäftemacherei um jeden Preis handelt, sondern dass es ganz bewusst um eine unterschwellige Strategie zur Etablierung und Verankerung von rechten Einflüssen in der Oi-?Szene geht. Die „Krawallbrüder“ und Ihr Versan

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