Macht Rockmusik taub? (#61, 12-1996)
Macht Rockmusik taub? Macht Fernsehn blöd? Kommt ganz drauf an. In beiden Fällen. Die wir beide schonmal vor vier Jahren diskutiert haben. In der Nummer 36, liebe Leser. Zurück zum Thema: Jeder kennt das Gefühl von Desorientierung und schwindendem Urteilsvermögen nach ausdauerndem TV-Genuß.
Und jeder weiß, daß auch hier die Dosis das Gift macht, also weniger Flimmer gleich weniger Gaga. Und bei der lauten Rockmusik bzw. dem abendlichen Diskodröhn? Wer kennt sich da wirklich aus? Stimmt es am Ende, was die rechts-konservative Stammtischideologie uns glauben machen will? (Habt ihr den völlig bescheuerten Lautstärke-Artikel in einem der letztjährigen Zillo-Ausgaben mitgekriegt? Dieses Elendsblatt und sein selbstmitleidsge-schwächter Chefredakteur fordern gesetzliche Verbote von lauten Konzerten! Easy, you suck!) Nämlich daß wir alle, sozusagen als gerechte Strafe des Herrn, wenn schon nicht mit Immun-schwäche, so doch wenigstens mit qualvoller und alle sozialen Kontakte vernichtender Taubheit geschlagen werden? Oder lügt der Kanzler auch diesmal? Wen würde es wundern? Nun gibt es schon seit 1988 in den USA (ist es dort lauter als hier?) eine Vereinigung namens H.E.A.R., die sich aus lauter Musikern und Musikbegeisterten zusammensetzt. (Das wissen treue Trustleser bereits, wie oben erwähnt.)
Also Leuten die entweder durch exzessiven Konsum, nein, nicht von Drogen, sondern von Lautstärke bereits einen gewissen Hörschaden erlitten haben oder ebendies befürchten. Gegründet wurde der Verein von Kathy Peck, die seit einem besonders brutal lauten Konzert, an dem sie als Sängerin teilnahm, nur noch weniger als die Hälfte von allem hört, und dem Ohrenarzt Dr. Flash Gordon (was für ein Name!). Ziemlich schnell erkannten eine Menge namhafter Musiker, wie Pete Townshend, Huey Lewis, Ted Nugent, Mark Mothersbough und Lars Ulrich die Bedeutung dieser Sache und unterstützten die HEAR-Leute nach Kräften. Von Pete Townshend ist allgemein bekannt, daß er sich seine Ohren durch wirklich exzessiven Verstärkerwand-mißbrauch ruiniert hat – er kann sich inzwischen keiner auch nur mäßigen Lautstärke aussetzen ohne heftige Schmerzen zu erleiden und arbeitet deswegen als Lektor in einem Londoner Verlag – Pssst!
Ted Nugent, der Heavy-Rock-Tarzan, hatte schon bei Beginn seiner Karriere den Genieblitz, sich in das Ohr auf der Seite, auf der er seinen Verstärkerturm aufzustellen pflegte, einen Schutzstöpsel zu stecken. Jetzt ist er auf dem anderen Ohr taub. Kein Witz. Lars Ulrich von Metallica sagt zum Thema: „Drei von vier Metallica-Musikern tragen Ohrstöpsel. Manche Leute denken, so etwas sei nur für ver-weichlichte Typen. Aber wenn du in 5 oder 10 Jahren keine Platten mehr hören willst, ist das deine Entscheidung.“ So sieht das also auf der professionellen Seite aus: Wenn du jeden Tag in der vollen Dröhnung arbeitest, mußt du einen Gehörschutz tragen, sonst wirst du taub. Ganz einfach und ohne Ausnahme. Was bedeutet das aber für Gelegenheitskonsumenten wie dich und mich?
Um das zu erklären, will ich (noch) einmal kurz ausholen und etwas Physik betreiben (keine Angst, es tut nicht weh). Schall ist eine Bewegung von Luftmolekülen (oder von sonstigen Sachen, aber das wollen wir mal nicht so eng sehen). Man kann zum Beispiel einem Lautsprecher dabei zusehen, wie er die Luft-moleküle hin und herschiebt. Diese Hin-und-Her-Wellen erreichen kurz darauf unser Ohr, wir hören den Sound und fangen an zu wippen (nicht immer, aber immer öfter…). Je heftiger er sich bewegt, oder je mehr Lautsprecher aufgestellt sind, desto heftiger bewegt sich also die Luft, desto lauter ist es. Lautstärke mißt man in Dezi-bel. Aha. 10 Dezibel mehr entspricht der subjektiv doppelten Lautstärke. Und: die Belastung addiert sich mit der Zeit, die sie andauert.
Deswegen gibt es zB. eine Arbeitsschutzbestimmung, wonach man an einem Arbeitsplatz mit 90dB unbedingt einen Gehörschutz tragen muß. Das heißt: Wenn 90dB über 8 Stunden täglich hinweg einen sicheren Gehörschaden bewirken, dann tun es auch 100dB über 4 Stunden täglich oder 110dB über 2 Stunden und 120 dB für eine Stunde. 120 dB erzeugt ein ganz normales, „lautes“ Rockkonzert oder eine laute Rave-Veranstaltung. Typi-scherweise behält man nach so einem Ereignis für einige Stunden oder gar Tage ein Rauschen, Zischen oder dünnes, hohes Pfeifen im Ohr. Das nennt man Tinnitus und ist ein Alarmsignal des Körpers. Also aufgepaßt! Man muß dazusagen, daß man Ohrgeräusche auch woandersher bekommen kann, zB von Stoffwechsel- oder Kreislaufproblemen.
Es gibt, nebenbei gesagt, in Deutschland mehrere Millionen Menschen, die an Ohrgeräuschen leiden, eben Tinnitus, und fast alle haben nachweisbar keine megalaute Musik gehört, sondern sich zuviel Hektik, Streß und 15-Stunden-Arbeitstage zugemutet. Ihr wißt Bescheid, ja? Im Fall von Lautstärke ist der Zusammenhang immer eindeutig! Wir sehen also, daß ein gelegentliches Konzert mit einer nicht gerade extremen Lautstärke auf keinen Fall zum Gehörschaden führt, auch nicht der Walkman, der bis zu 110dB erzeugt. Auch gelegentliche, lautstärkebedingte Ohrgeräusche sind nicht wirklich bedrohlich. Trotzdem sollte jeder, der auf ein Konzert o.ä. geht, unbedingt und für alle Fälle Ohrenstöpsel mitnehmen.
Ohrenstöpsel sind für die Ohren sowas wie Sonnenbrillen fürs Auge oder wie Sonnenöl für blasse Haut, nämlich ganz wichtig. Für alle, die sich vom Lautstärkeproblem betroffen fühlen oder mehr wissen wollen, gibt es jetzt eine Möglichkeit: Seit diesem Jahr existiert ein deutscher „Ableger“ des amerikanischen H.E.A.R. unter der Adresse Wolf Simon, Ursulastr. 5, 45131 Essen, Tel 0201/473247. Die Leute dort freuen sich über jedes Interesse. Es gibt jetzt außerdem auch „fast“ überall bessere Ohren-schützer zu kaufen als die dicken gelben aus der Apotheke, Info´s dazu bekommt ihr zB bei HEAR-SAFE, Fliederweg 101, 51143 Köln, 02203/982588. Soweit in Kürze. Viel Spaß auf dem nächsten Konzert! Mit Ohrenstöpseln dabei, für alle Fälle, auch und gerade wenn´s mal ein wenig feuchter werden soll (Prost!) und man deswegen die tatsächliche Lautstär-kebelastung nicht mehr so ganz einschätzen kann, OK?
Text: Fritz Effenberger