März 12th, 2007

JUNO (#89, 08-2001)

Posted in interview by andreas

Als Juno im Frühjahr in Berlin spielten und wir die Musik als „Emocore“ beworben hatten, führte das am Abend zu längeren, wenn auch freundschaftlichen Diskussionen mit Sänger Arlie Carstens. Arlie mag eigentlich überhaupt keine Stilbezeichnungen – aber im gleichen Moment ist ihm klar, dass die notwendig sind, damit überhaupt Leute kommen, um sich eine unbekannte Band anzusehen.

Aber wenn, dann bitte schön kein „Emocore“. Hört man sich die neue CD „A Future Lived In Past Tense“ an, muss man dem Sänger Recht geben. Die Band aus Seattle klingt nach allem anderen – aber nicht nach einfachem Emocore, nicht mal im positiven Sinne: im 80er-DC-Style. Key-boards, epische Songlängen, eine teilweise dichte, intime Atmosphäre, während Arlie erzählt, zugleich aber auch aggressive Ausbrüche gibt es da. Die Platte ist ausgesprochen komplex.

Ich habe damals die Gelegenheit nicht genutzt, um die Band zu interviewen. Stattdessen holte ich das jetzt per e-mail nach. Eigentlich hab ich damit schlechte Erfahrungen gemacht – für gewöhnlich sind die Antworten knapp und fast stichwortartig. Deswegen hatte ich erwartet, dass die sieben Fragen, die ich Arlie unter Zeitdruck eben mal mailte, eher ein Einstieg sein würde. Aber dann – nach Wochen des Wartens – kamen diese unglaublich langen Antworten, die hier nachfolgend ungekürzt stehen.

Man merkt, dass Arlie als Autor arbeitet; man merkt auch, wie (teilweise erschreckend) viele Gedanken sich der Sänger macht. Teilweise wirken die Antworten seltsam. Nein, nicht seltsam – eher „pathetisch“. Aber auch diese Umschreibung passt nicht. Arlie formuliert eben, was vermutlich viele irgendwann mal denken oder womit sie sich be-schäftigen. Grad gestern lernte ich über einen Freund einen Tätowierer aus Ecuador kennen, der im Moment ein Jahr durch Europa reist. Warum mach ich das eigentlich nicht, hab ich mich gefragt.

Weil ich kein Tätowierer bin – natürlich. Aber sonst? Keine Ahnung – eigentlich zwingt mich nichts, hier diesen Job zu machen, den ich mache. Ausser natür-lich finanzielle Gründe. Aber letztlich ist klar, dass auch Arlies fast schon romantische Vorstellung hinkt und eben nicht für jeden funktionieren kann. Denn nicht jeder kann sich mit Snowboarden, Musik und Schreiben Geld verdienen. Aber wie auch immer – ihr habt noch 21.000 Zeichen vor euch. Und deswegen soll es hier keine grossen Vorreden geben.

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Ich erinnere mich gut daran, dass wir uns darüber unterhalten haben, wie man eure Musik bezeichnen könnte und dass du den Begriff Emo nicht magst. Für das neue Album trifft es auch auf keinen Fall zu. Aber welchen Begriff fändest du dann besser?

Arlie: Das ist eine einfache Frage. „Emocore“ ist schlichtweg ein dummer Begriff, weil jede Musik Emotionen transportieren sollte. Der Begriff suggeriert, dass es ein Genre geben würde, dass auf irgendeine Weise emotionaler sei als andere Musik. Das ist absurd. Ich schreibe Lieder über tiefergehende emotionale Themen, weil mich die Leute und die Ereignisse berühren, über die ich schreibe – genauso wie es jeder Jazz-, Country-, Folk- oder Blues-Sänger tun würde.

Die Juno-Songs drehen sich um echte Menschen und die Ereignisse, die ihr Leben geformt haben, genauso wie jedes Lied, das in einer Blues- oder Folk-Tradition geschrieben ist. Für mich ist das genau das, was Punkrock ausmacht. Du hast mich gefragt, wie ich meine Musik beschrei-ben würde. In einer perfekten Welt würde ich es vorziehen, unsere Musik nicht zu definieren.

Es ist einfach zu schwierig, weil es in den einzelnen Liedern unterschiedliche Stimmungen und Dynamik gibt, die wir entdecken wollen. Ich würde lieber daran denken, dass wir gute Einflüsse haben – Bands, die interessante Dinge gemacht haben und einen neuen, eigenen Sound entwickelt haben. Ich hoffe, dass wir etwas machen, das nach „Juno“ klingt. Aber um überhaupt eine Definition zu verwenden: Ich denke „Punkrock“ ist ein guter Start, um unsere Band zu definieren. Aber man darf diesen Begriff nur als Start verstehen. Wir sind alle in der Punkszene aufge-wachsen, und wir sind noch immer ein Teil davon, was unsere Werte und die Musik, die wir hören, angeht.

Genauso denke ich, dass „Hardcore“ eine gute Beschreibung ist, weil unsere Musik teilweise aggressiv ist und wir uns des öfteren mit Politik und Geschichte beschäftigen. Ich glaube auch, dass „Ambient“ eine gute Umschreibung ist, weil wir beim Songwriting etwa durch Brian Eno oder Talk Talk beeinflusst sind. „Slowcore“ und „Postrock“ sind akzeptable Umschreibungen, weil wir alle Musik von Bands wie Low, Slint oder Codeine mögen. Und wir mögen auch straighten „Rock’n’Roll“ – wie MC5, The Who oder The Stooges. Und dann ist da natürlich Devo, die eine Klasse für sich selbst bilden.

Wir lieben Devo. Du kannst also eine der genannten Kategorien für unsere Musik nehmen, und du liegst immer richtig. Unsere Musik hat zu viele verschiedene Elemente, als dass man ihr nur einen Namen geben könnte. Wir wurden schon „Ambient Hardcore“ und „Post-Post-Rock“ genannt. Diese Begriffe klingen komisch, aber sie sind genauso passend wie alles andere, womit jemand angekommen ist. Keiner von ihnen hat wirk-lich eine Bedeutung, aber doch treffen sie gleicher-massen zu.

Und was stört dich am Begriff Emo grundsätzlich?

Arlie: Ich denke, ich habe diese Frage schon beantwortet, oder? Aber ich werde versuchen, etwas genauer zu sein. „Emocore“ war ein Begriff, den Brian Baker (Minor Threat, Dag Nasty) und Ian McKaye (Minor Threat, Fugazi) erfunden haben, als sie Witze darüber machten, wie ihre und die Musik ihrer Freunde klingt. Sie erfanden den Begriff als WITZ. Bands wie The Rites Of Spring, Embrace, Fugazi, Dag Nasty, One Last Wish waren „Emocore“. Das waren Punkbands aus Washington DC, die in den 80ern bis in die späten 90er Jahre anfingen. Diese Bands änderten die Rich-tung, die Punk/Hardcore ging. Sie waren Musiker, die sich mit mehr persönlichen Themen in ihren Texten beschäftigen wollten als über Politik oder Gewalt zu schreiben.

Das geschah, als Hardcore-Shows immer gewalttätiger wurden und Hardcore-Bands anfingen, gleich zu klingen. Diese „Emocore“-Bands brachten also einen Wechsel in den Einstellungen und den Ideen hinter Punk. Aber zugleich waren diese Bands nicht so ernsthaft, dass sie sich nicht über sich selbst lustig machen konnten. Das war verdammt gut – ich halte es für sehr wichtig, dass man sich einen Sinn für Humor bei seinen kreativen Arbeit bewahrt. Aber als „Emo“ plötzlich seinen Weg rund um den Globus machte, wurde es wohl zu einer der schlimmsten Ereignisse, die jemals im Punk passiert sind. Heute wird der Begriff „Emocore“ von den Bands und ihren Fans so unglaublich ernst genommen.

Es ist zu einem eigenen Subgenre und einer Marketing-Ma-schine geworden. Legionen von Kids stellen sich in die Schlange, um die neue „Emocore“-Band zu sehen, ohne dass sie eine Idee davon hätten, wie diese Band klingt, oder dass sie von den Bands wüssten, die dafür den Weg geebnet haben. Bands wie Rites Of Spring, Gang Of Four oder Wire. Tausende von Leuten haben keine Ahnung über die „Prä-Emo“-Geschichte des Punk, was eine Schande ist, denn sie verpassen Bands, die wesentlich faszinierender sind als das, was Emo heute zu bieten hat.

„Emo“ wurde zu einem leicht definierbaren Begriff und zu einer Szene, die fast vollkommen ausserhalb der sonstigen Punkszene exisitiert. Das ist sehr unglücklich. Und es ist fürchter-lich, wenn man bedenkt, in welchem Kontext der Begriff erfunden wurde. Emocore ist genauso schrecklich unoriginell wie die Hardcore-Szene, als „Emocore“ erfunden wurde. Es gibt heutzutage Millionen von Emobands, wo Jungs darüber singen, dass ihre Freundinnen Schluss mit ihnen gemacht haben. Und mittlerweile wurde daraus sogar „Emopop“ – Bands, bei denen die Frisuren oder der Hosenaufschlag wichtiger ist als das gesprochene Wort oder die erzeugte Musik.

Manchmal sind diese Bands einigermassen unterhaltsam, und ich wünsche diesen Musikern das Beste, aber es ist definitiv nicht, was ich als musikalische Erfahrung suche. Ich möchte neue Sachen, die mich begeistern und bewegen, hören. Ich möchte durch mehr unterhalten werden als durch einen Typen, der darüber singt, wie schlecht er sich fühlt, weil seine Freundin auf ihn sauer ist. Langweilig. Das interessiert mich nicht. Mich interessiert es, wenn eine Geschichte erzählt wird. Mich interessieren neue Ideen und Wege, um einen Song zu konstruieren.

Mich interessiert das Universum – was ist der Sinn? Was machen wir alle hier? Mich interessiert Musik, die wichtige Fragen stellt und komplexe Emotionen, Beziehungen und Ereignisse umschreibt. Mich interessiert Musik, die mein Herz bricht und mich zugleich zum Nachdenken oder Lachen bringen kann. Das ist ausgesprochen wichtig für mich. Ich werde musikalisch, spirituell und intellektuell durch die Arbeit von Nina Simone, Talk Talk, Cat Power, Fugazi, Lungfish, Wire, PJ Harvey, Gang of Four, Television und so weiter befriedigt. Das inspiriert mich und nicht diese Leute, die „Emocore“ machen. Das sind Musiker, die durch ihre Songs und Texte weit mehr fordern und dadurch Lieder schrei-ben, die von Dauer sind.

Man kann an diesen Liedern festhalten und mit ihnen wachsen, weil es Lieder sind, die mehr bewirken, mehr ausdrücken und mehr her-ausfordern. Ich denke, ich mag seltsame Musik. Selbst wenn es um Liebe geht, mag ich Künstler, die mehr als ärger oder Leid ausdrücken. Nina Simone hat in einer Strophe mehr über menschliche Gefühle ausgedrückt, als es einem Dutzend Emo-Bands je gelingen wird.

Eure Musik ist auf „A Future Lived In Past Tense“ sehr episch geworden. An einigen Stellen hat sie mich sogar an „An American Prayer“ von Jim Morrison erinnert – im Prinzip Lyrik mit Musik. Wie siehst du das? Ist die Musik für dich eher ein Mittel, um Kurzgeschichten erzählen zu können? Oder ist die Musik wichtiger?

Arlie: Musik und Texte müssen zusammenarbeiten. Ich schreibe alle Texte. Wir schreiben die Musik zu-sammen. Die Stimmung, die die Instrumente erzeugen, müssen die Intentionen der Texte unterstützen – es gibt keine andere Möglichkeit. Weil ich die Texte schreibe, beschäftige ich mich viel damit herauszufinden, wie und wo sie in die Musik gehören. Am besten ist natürlich, wenn alle Bandmitglieder sich bewusst sind, wie Texte und Melodien zusammen mit der Musik arbeiten sollten.

Die Texte haben immer Vorrang gegenüber den Instrumenten in dem Sinne, dass wir Teile der Lieder abkürzen oder ausbauen, um sicher zu gehen, dass die Texte genügend Raum und Melodie haben. Gitarrenparts und Schlagzeug-Arrangements werden eher geopfert als Textzeilen. Aber am Ende gibt es keinen Teil beim Songwriting, der weniger wichtig ist als ein anderer. Wir alle kümmern uns um jeden Aspekt unserer Musik. Wir alle respektieren die Meinungen der anderen und versuchen alles zu ma-chen, damit wir alle zufrieden sind mit unserem individuellen Anteil.

Es dauert deswegen Ewigkeiten, Songs zu schreiben, weil das tatsächlich eine gemein-same Anstrengung ist. Nebenbei: Nein, ich dachte nicht an Jim Morrison, als ich entschied, die Song-Kurzgeschichte „Things gone And Things Still Here“ zu schreiben. Ich dachte nur: „Das muss auf dem Album sein, es passt und es ist wichtig innerhalb der Songs. Es musste sein, damit das komplette Album als Ganzes Sinn für mich macht. Den Text wie eine Kurzgeschichte zu lesen, war für mich die einzige Möglichkeit.“

Als wir es auf das Album nahmen, dachte ich eher an die Spoken Word Sachen von Leuten wie John Zorn, Laurie Anderson, David Byrne, Steven Jesse Bernstein, William Burroughs, The Last Poets, Chuck D. und so weiter. Sie waren Inspiration für mich, um etwas zu schrei-ben, wo Musik und Kurzgeschichte zusammen-kommen. Ich kenne Jim Morrisons Spoken Word Sachen nicht. Ich habe den Doors Film zum ersten Mal vor ein paar Monaten gesehen, was für ein schwachsinniger Film! The Lizard King? Die gleiche Lederhose fünf Jahre lang? Bitte?

Woher bekommst du die Ideen für die Texte? Ich weiss, dass du auch als Autor arbeitest und sehr viel reist. Kommt daher die Inspiration?

Arlie: Kann ich einfach sagen, dass ich es nicht weiss? Kann ich sagen, dass ich eine Seelenverbindung zu einem 15.000 Jahre alten chinesischen Mönch habe? Ich glaube, das wäre weit interessanter, aber zumindest ein wenig verrückter oder lustiger. Nun, also, das hier ist die echte Antwort: Ich glaube, dass die Ideen für die Texte ein Resultat davon sind, dass ich in einer relativ kurzen Zeit sehr viel gelebt habe.

Ich achte darauf, was um mich herum passiert, und ich schreibe darüber. Ich bin gerade mal in meinen Zwanzigern, aber ich bin sehr viel umgezogen und habe viele Menschen kennen gelernt. Obwohl ich noch sehr jung bin, hab ich viel gesehen; einiges davon zu früh und zu schnell. Leider hab ich zu viele Leute verschwinden oder unerwartet sterben sehen.

Zu viele Leute; inklusive Familie, enge Freunde und Menschen, die ich geliebt habe. Ich habe einige Tragödien gesehen und mitge-macht. Und ich hatte sehr viel Spass. Ich habe Schönheit und Freude erlebt, und das auf solche Weise und in Situationen, wo ich es nicht erwartet hätte. Ich denke, dass die Texte dadurch entstehen, weil ich mir erklären will, warum vieles von dem, was als Leben durchgeht, so traurig und schmerzhaft sein muss. Und ich schreibe diese Lieder, um das Gefühl für Hoffnung und Freude zu finden trotz der Gefahren, des Bedauerns und der Schmerzen.

Was genau machst du denn nun eigentlich?

Arlie: Momentan bin ich nur auf Tour, schreibe Musik, spiele Konzerte, beantworte e-mails und versuche, meine Miete und die heftigen Arztrechnungen zu bezahlen. Ich schlafe kaum. Ich trinke sehr viel Wasser. Und Kaffee. Ich versuche, jeden Tag Musik zu machen. Ich skateboarde regelmässig, mache Fotos und gehe im Wald spazieren. Ich war lange Zeit ein professioneller Skateboarder und Reiseautor. Ich bin für meine Sponsoren gefahren; sie bezahlten mich, dass ich ihr Spielzeug benutze.

Ich war an Photo Shootings beteiligt und bin des öfteren Wettbewerbe gefahren. Ich habe sehr viele Reisegeschichten in Popkultur- und Snowboarding-Magazinen geschrieben. Im Prinzip war ich ein professioneller Athlet. Aber dann brach ich mir mein Genick. Das passierte genau dann, als unser erstes Album „This Is The Way It Goes And Goes And Goes“ herauskam. Ich werde immer Titanplatten tragen, Narben haben und ein Stück meiner Hüfte in meinem Nacken, das das Rückgrat verbindet.

Ich war in der Physiotherapie für mehr als ein Jahr auf Grund meiner Verletzung. Ich geh da immer noch hin. Selbst jetzt empfinde ich noch neurologische Schmerzen und Schäden. Aber ich versuche, damit so gut wie möglich umzugehen. Ich schreibe immer noch für Magazine, und ich arbeite noch ein bisschen für meine Sponsoren, aber ich habe kein Interesse mehr, professionell Snowboard zu fahren. Es hat mir eine Menge gebracht; ich bin sehr viel gereist und habe viele wunderbare Dinge erlebt. Das war sehr gut für mich.

Und selbst der Genickbruch brachte auf verschiedene Weise gute und interessante Erfahrungen. Vielleicht werde ich in Zukunft weiterhin reisen und snowboarden, aber das nur als Autor für Magazine und nicht als Sportler, der Kopf über durch irgendwelche Fotos fliegt. Aber momentan ist das wichtigste, mit Juno Musik zu machen, beziehungsweise ein anderes Projekt, das ich hier in Seattle mit Freunden habe. Ich muss auch noch viel zu Ärzten rennen.

Mich würde interessieren, wie das ist, als Profi-sportler zu arbeiten. Wie passierte denn überhaupt der Unfall? Und inwiefern hat sich durch den Unfall deine Sichtweise geändert? Du könntest ja genauso gut tot sein. Treibst du nun überhaupt noch Sport, oder war es das?

Arlie: Es hat Spass gemacht und war interessant, als professioneller Snowboarder zu arbeiten. Nicht viele Leute haben die Chance dazu. Aber ich habe es nie als Sport gesehen. Ich bin aufwachsen damit, Skateboard zu fahren und Punkrock zu hören. Snowboarding war schlicht die Fortsetzung davon. Ich habe es immer als Kunstform gesehen: „a body in motion making art-in-the-moment“, ein Körper, der witzige und schwierige Dinge macht. Ich habe auch mit vielen kreativen Leuten gearbeitet; ich half, die Produkte zu designen und zu testen. Das war eine Menge Arbeit, viele Schmerzen, Verletzungen und eine Menge Arztrech-nungen.

Um sowas richtig gut zu machen, musst du bereit sein, dass du wieder und wieder verletzt wirst. Ich hatte Rückenknochen und das Genick gebrochen, zweimal brach mein Knie, beide Schlüsselbeine, beide Handgelenke, fünf Rippen, und so weiter. Aua! Mit Sponsoren umzugehen und Verträge auszuhandeln, war immer schwierig. Aber das ist grundsätzlich der schlimmste Teil bei jedem Sport. Aber grundsätzlich machte es Spass, Snowboarding als Beruf zu betreiben. Es ermöglichte mir, zu so vielen wunderbaren Plätzen zu reisen und Freunde überall in der Welt zu ge-winnen.

Ich bin unter sehr schlechten Umständen aufgewachsen, also waren solche Dinge wie Snow-boarding oder Reisen aufregend für mich. Ich habe das nie als normal angesehen. Ich habe es immer sehr bewundert, weil ich wusste, dass es etwas besonderes ist. Mein Genickbruch passierte während eines Photo Shootings in Tahoe, Kalifornien. Ich machte gerade einen „inverted aerial“ (Skateboarder wissen sicher-lich, was das ist. Ich leider nicht. D.S.) in einer Half Pipe. Ich landete mit zu viel Geschwindigkeit, rollte herum, während mein Kinn auf meinen Brustkorb schlug.

Dabei brachen vier Wirbel in meinem Nacken. Es war ein sehr schlimmer Unfall. Meine Neuro-chirurgen waren einigermassen geschockt, dass ich nicht tot war. Sie wussten fünf Monate lang nicht, wie sie mich wieder zusammenflicken sollten. Aber ir-gendwie klappte es nach drei Operationen und vielen Monaten in einem Spezialbett. Ich lag nochmal im Bett für fünf Monate. Aber ich kann gehen! Ich kann immer noch singen und Gitarre spielen und auf Tour gehen. Ich kann skateboarden! Ich kann mit einer Gabel essen! Ich kann unter einer Dusche stehen.

Das sind alles aufregende, wunderbare Dinge. Nun also, ja, es änderte meine Einstellung zum Leben; in zu vielen Weisen als ich hier erklären könnte. Seit dem Unfall bin ich ein weit fröhlicherer Mensch als vorher. Ich kenne immer noch die Traurigkeit, das Bedauern, den Verlust und meinen täglichen Kampf gegen De-pressionen, aber ich lebe gerne, und das kannte ich auf diese Weise früher nicht. Ich weiss jetzt, wie ich meine Gefühle ausdrücken soll und mich bei Leuten be-danke.

Ich bin weit geduldiger und ruhiger geworden. Ich war auch schon vor dem Unfall ein Musiker und Autor. Aber ich dachte immer, ich möchte das werden. Ich liess mich nicht daran glauben. Ich vertraue nun darauf, dass dies die Dinge sind, die ich in meinem Leben machen möchte. Und ich denke, dass es sehr gut und wichtig ist, dass sich ein Mensch bewusst wird – dass er an sich selbst glaubt und in den Weg, den er einschlägt.

„A future lived in past tense“. Was bedeutet das für dich? Mich erinnert das an diese Leute, die immer behaupten, früher sei alles besser gewesen, wenn sie über Musik, Filme oder sonstwas reden. Was effektiv bedeutet, dass ihr Leben schlichtweg einfach weiter geht, ohne dass neue Höhepunkte zu erwarten wären. Keine gute Aussicht. Wie siehst Du das?

Arlie: Ich denke, ich kann dir da zustimmen. Der Titel stammt aus dem Song „The French Letter“. Aber tatsächlich bedeutet der Titel einige andere Sachen, und bei einigen fühle ich mich nicht wohl, sie zu erklären. Im Prinzip möchte ich kein Leben führen, bei dem ich nachdenke, wie es hätte sein können. Ich möchte nicht irgendwann in der Zukunft zurück-schauen und das Gefühl haben, ich hätte aufgegeben oder mein Lebenswerk nicht erfüllt.

Trotzdem werde ich wohl so lange ich lebe diese Angst haben. Ich möchte halt niemals an den Punkt kommen, wo ich an die Vergangenheit denke und sage „das waren die besten Jahre meines Lebens“. Ich möchte, dass mein ganzes Leben interessant und lebenswert ist. Ich möchte das Bewusstsein haben, dass die Gegenwart gut ist, dass die Zukunft es Wert ist, für sie hierzu-bleiben, und dass die Vergangenheit im guten wie im schlechten Sinne hinter mir ist. Ich habe so viel Schlechtes in meiner Jugend gehabt:

Ich bin in einem Nirgends aufgewachsen, umgeben von Leuten, die mir sagten, dass ich nichts wert bin und dass das Leben lang, hart und traurig sein wird. Ich wuchs auf und sah zu, wie Menschen, die ich liebte, starben. Ich bin mit Gewalt und Unsicherheiten aufgewachsen. Ich habe gesehen, dass jeder 9-to-5-job den Geist der Menschen umbrachte, die jemals einen annahmen. Deswegen wollte ich Kunst machen und interessante Dinge tun, weil alles, was als „normal“ gilt, für mich nicht funk-tioniert hat oder mich einfach sterben lassen wollte. Ich hoffe, dass ich mit Musik das zurückgeben kann, was Bands wie Hüsker Dü mir gegeben haben – Stärke und Hoffnung.

Auch wenn sich das ehrlich und verzweifelt anhört, es ist mir nicht peinlich, das zu sagen. Fuck it, ich möchte, dass Kunst die wichtigste Kraft im Leben von Menschen ist. Ich sehe heutzutage, wie so viele meiner Freunde und Familienmitglieder sich selbst verlieren, ihre Ambitionen und ihre Kreativität – sie denken über eine Ver-gangenheit nach, die sie nicht zurückholen können und benutzen das, um ihr heutiges und künftiges Leben aufzugeben. Ich möchte nicht zu solch einem Geist in meinem Leben werden. Ich schreibe über kaputte Biografien, weil ich solch eine in meiner Kindheit hatte.

Aber ich möchte nicht kaputt sein. Ich möchte, dass Leute durch die Musik fühlen, dass sie nicht alleine sind mit ihrer Traurigkeit, der Verwirrung oder der Angst. Auch wenn das bedeutet, dass ich ganz einfach irgendeinem Kid geholfen hab, einen Tag leichter durch die Schule zu kommen. Oder einem Erwachsen durch den Arbeitstag. Ich möchte etwas Neues, Interessantes mit Musik und Worten machen. Ich möchte Musik machen, durch die sich Irgend-jemand vielleicht für Musik, Büchern, Schreiben, Filme machen, Fotografie und so weiter interessiert. Das können Werkzeuge sein, die dich aus schwierigen Umständen holen und dich herausfinden lässt, was diese Welt noch zu bieten hat.

Das ist es, was Punkrock und Schreiben mir gebracht hat. Deshalb will ich das weitergeben. Ich möchte es feiern und teilen, es benutzen, um ein schöneres Leben zu führen und ein besserer Mensch zu sein. Und ich möchte mit richtigen Personen lachen. Ich möchte ein echtes Leben führen, das meine Umwelt einschliesst. Auch wenn dabei ein kurzes Leben herauskommt. Ich möchte mehr als das, was 100 Jahre Fernsehen und McDonald’s zu bieten haben.

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Interview: Dietmar Stork

Links (2015):
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