Dezember 31st, 2024

Interview Thomas Paradise Teil 1 (Trust # 220, Juni/Juli 2023)

Posted in interview by Jan

Verdienter Punk-Fanziner der Punkheit: Thomas Paradise!
Teil I

„I don´t want to grow up“
(ältere Interview-Antwort von Thomas auf die Frage „A song quote which sums up your feelings regarding Punk/Oi!”)

Sicherlich denkt jede/r bei dem Begriff „Paradies“ an etwas anderes: Assoziationen der Südsee, generell ein tropisches Setting inmitten von Palmen, Schirmchendrinks – ich hingegen pflegte auch an den guten alten „Paradise“ also known as Thomas zu denken. Ihr kennt ihn sicherlich unter diesem Pseudonym als Schreiber für viele Punk-Fanzines der letzten Jahren, u.a. fürs Moloko Plus Zine aus Dorsten, das Hamburger Mind the Gap Zine und das Crazy United Online Fanzine aus Oberhausen (das leider nicht mehr ist, genauso wie das schöne Polytox Online auch nur noch als Podcast-Reihe weitermacht).

„DDR DDR Ihr seid uns Jahre hinterher“

Thomas ist alter DDR-Homie aus Ostberlin, seit den 80er dabei, weiß viel, schrieb auch ein cooles Buch zu Punkrock aus der BRD von Ende der 70er bis Mitte 80er („Punkwax: German Punk & Hardcore 1977-85; Vinyl Navigator“), davon soll es eine Neuauflage geben und der Tausendsassa aus Berlin sitzt an einem Buch über seine Los Angeles-Punkrock-Interviews. So lernten wir uns „kennen“ und blieben in Kontakt. Ich schätze seine Art, die Geschmäcker sind natürlich manchmal verschieden, aber es macht mir immer Spaß, sich mit Thomas auszutauschen. Ich bin Fan von ihm und hatte einige Fragen zu Punk-Fanzines, DDR, L.A. und natürlich HC in den 80er, 90er und heute…

Ihr denkt jetzt vielleicht „Moment Mal, was hat das Trust prinzipiell mit „Skinhead-lastigen“-Zines wie M+ und Crazy United zu tun?“! Tja, wir Punk-Fanziner sollten alle mehr miteinander kommunizieren anstatt nur übereinander, oft entdeckt man ja, dass uns alle – auch wenn wir vielleicht in verschiedenen Stilen „zu Hause sind“ – doch viel mehr verbindet als uns trennt! Ich will nicht die alte Leier von „Unity“ an dieser Stelle bemühen, gleichwohl fällt mir kein besserer Begriff ein.

Print´s not dead, it just smells funny
In eigener Sache noch: ich kündigte neulich in meiner Kolumne drei Interviews mit Fanziner*innen an: das mit „unserer Trust-Alva“ fand statt, das mit Thomas lest ihr gerade und was leider nicht klappte und tierisch Nerven kostete, war das Gespräch mit jemand vom Maximum RocknRoll Fanzine in ihrer aktuellen online-Version.

Unsere letzten aktuellen Kontakte brachten uns auch nicht weiter: Webadmin Paul Curran (früher und heute) hatte null Zeit, weil seine Frau und er neulich ein Baby in Okaland bekamen (er wohnte einige Zeit in L.A.), Allan McNaughton vom Heft früher und irgendwie heute wollte erst, fühlte sich aber dann zu „disconnected“ zum Heft, nachdem er die Fragen seit Monaten hatte und sie erst sehr interessant fand, tja, und auch die MRR-“Legende“ aus den 80ern und 90ern, Kollege Martin Sprouse, meldete sich trotz Dolfs Nachrichten bzw. Anruf in San Francisco nicht zurück, E-Mails an die aktuelle Headquarter-MRR-Adresse wurden nicht beantwortet, sehr schade, wir schicken übrigens das Trust immer noch ans MRR-Postfach in Oakland und haben immer noch die gute alte MRR-Tauschanzeige im Trust, aber so ist es dann wohl eben, das jedenfalls noch dazu.

Thomas gab vor einiger Zeit ein cooles Interview auf Contra Records (facebook.com/contrapunkrecords/posts/4155745281124747), für noch mehr Details über seine vielfältigen Szene-Aktivitäten, u.a. auch für das Chelsea Choice Zine, sein „Wax & Violence – U.S. Oi! / Streetpunk Discography“ – Buch (facebook.com/waxandviolence), diverse grafische Tätigkeiten, seine Kolumne auf Steeltown Records online, tja, da checkt ihr mal dieses Internet aus!

Unser Interview wurde einige Mal verschoben, weil der Kollege eben parallel an seinem L.A.-Punk-Buch arbeitet (wir reden darüber ausführlich, ich durfte sogar ein Vorwort schreiben) und schöner weise war er auch neulich zu den zwei „FEAR spielen an zwei Gigs ihre „The Record“-LP in Gänze in Alex´s Bar in Long Beach runter“-Konzerten vor Ort, von denen er uns auch ausführlich berichtet – jetzt! Aufgrund epischer Länge lest ihr in den zweiten Teil im nächsten Heft mit den Themen u.a. Third Generation Nation Fanzine, Print vs. Online Zines, Punk in L.A., HC-Szenen Debatten der 80er und 90er aus der Sicht 2023, Plattensammlung, Interview-Listen und Bon Scott.

Lieber Thomas, danke für deine Zeit für das Interview, es ist schön, dass du für uns entgegen sonstiger Prinzipien ein paar Takte erzählen möchtest. Lass uns mit einer lockeren Einstiegsfrage beginnen: du bist schon ganz lange „verdienter Punk-Fanziner des Volkes“, die meisten kennen dich als Schreiber von den Moloko Plus-, Mind the Gap- oder Crazy-United-Print-bzw. Online-Zines als „Paradise“ – tja, wie kam es zu dem Spitznamen?
Der hat sich über die Jahre so festgesetzt, erst von Paradies, dann angliziert. Abgesehen von meiner Familie und ganz engen Freunden ist das in meinem Umfeld Standard geworden, Thomas sagt da kaum jemand. Irgendwie bin ich auch recht froh darüber, denn Thomas ist bekanntlich ein Sammelbegriff. Da kommt als Nachsatz postwendend „welcher?“. Wenn ich da an die üblichen Punk-Spitznamen wie Jauche, Erbse, Kacke, Speiche, F+tze etc. denke, dann habe ich diesbezüglich verdammtes Glück gehabt. Für die coolen Namen wie „Rotten“ und „Sid“ kam ich zu spät, die waren damals schon in jeder Bezirksstadt doppelt und dreifach vergeben.

Das Moloko Plus war ein Skin-Oi-Punk-Fanzine aus Dorsten in der NRW-Pampa, Chef Torsten stellte es leider aufgrund Zeitmangels ein, weil er jetzt ein Eiscafé in Soest betreibt. Glaubst du, es gibt irgendwann noch die fehlende #50, ihr hörtet ja bei der #49 auf, echt schade, ich hab euch immer gerne gelesen und fürs Trust besprochen.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt“. Aber: Letztendlich ist es Torstens Entscheidung, zu seinem Glück zwingen kann man ihn nicht. Mit dem M+ ist ihm etwas Besonderes gelungen, zwischen den professionellen Magazinen wie TRUST, OX, SLAM etc. waren wir der missing link zum klassischen A5 Copy-Fanzine. Sowohl optisch in der Gestaltung als auch thematisch in der Bandbreite. Torsten hatte ein exzellentes Händchen in der Mitarbeiterwahl, die bunte Mischung war ein großer Aktivposten. Zwischenzeitlich hatte das CHELSEA’S CHOICE das Erbe angetreten, aber das M+ wird nach wie vor schmerzlich vermisst. Und bleibt allein auf weiter Flur. Warum also nicht den würdigen Abschluss wagen? Zumal Torsten auch über die nötigen Layout-Skills verfügt, das Heft wurde rein optisch von Nummer zu Nummer attraktiver, aber wie gesagt: sein Zine, seine Entscheidung.

Wie kamst du eigentlich zum Moloko Plus? Dort sah ich, glaube ich, auch zum ersten Mal deinen Namen, ich regte damals bei Dolf an, das wir doch zumindest mit dem M+, mit dem es vorher keine Bezüge gab, Hefte tauschen können, sooo viele Zines gibt’s ja nicht mehr und auch wenn es vielleicht dann wieder „Konflikte“ gibt von wegen „Oh nee! Was wollen die blöden Studenten-Fugazi-Lappen vom Trust von uns?“ vs. „Oh nee! Nicht die blöden Ruhrpott-Proll-Skins vom M+“… Und „schöner weise“ stritten wir beide uns ja dann etwas später von wegen „wer jetzt den besseren Punk aus Los Angeles hört“. (lacht)
Yep, bedauerlicherweise werden gerade in unserer Szene oft Vorurteile obsessiv gepflegt, da hat man sich durch Engstirnigkeit und substanzlosen Dogmatismus öfters einiges verbaut. Immer wieder schade. Mußte ich aber auch erst lernen, Klischees sind manchmal einfach zu verlockend. Mein MOLOKO-Einstieg lief über das PUNKWAX, meine deutsche Punk-Diskographie. Freund Ecke war M+ Mitschreiber, er brachte das Buch ins Heft, Torsten gefiel mein Stil und schon war ich dabei. Ganz easy. Danke Ecke, danke Torsten!

Nun ja, deine Favoriten, die Stitches, die liefen mir damals einfach nicht rein, sehe ich heute anders, zwei zu null für dich (lacht), letztendlich gibt es wohl immer ne Zeit für Cock Sparrer UND Dag Nasty oder?
Auf musikalischer Ebene gab es aus meiner Sicht immer ein gemeinsames Miteinander von COCK SPARRER und DAG NASTY, lief bei mir durchgängig parallel, problematisch wurde es lediglich durch die Spaltung des Publikums: Punks, Skins, die diversen Unterabteilungen im Hardcore undsoweiter. Heute kalter Kaffee, damals vermutlich ein größeres Problem auf Plenum und Kameradschaftsabend. Dabei waren DAG NASTY immer große UK-Fans, ihre Version von „Starring at the rude boys“ ist sehr erfrischend. Interessanterweise habe ich 2016 auch beide Bands auf einer Bühne gesehen, auf dem easy peasy Punk Rock Senioren-Traumschiff aka REBELLION FESTIVAL, zeitlich versetzt zwar, aber immerhin.

Die STITCHES liebe ich aus drei Gründen, erstens: Musikalisch absolut Top, ihre 8×12“ war und ist für mich eine Offenbarung, das hat schon fast religiöse Züge. Ein perfektes Update vom KBD-Sound mit UK’77-Spirit. Zweitens: Die Jungs haben ihre Texte zu 100% gelebt, komplett mit Gewalt, Drogensucht, Obdachlosigkeit etc., die waren in ihrer Hochphase absolut authentisch. The real deal! War mir früher extrem wichtig. Drittens: Sie waren die Speerspitze einer New Breed of Punk Rock in Südkalifornien, allein die Discographie von Lohrmans VINYL DOG Label liest sich wie eine Best of… der damaligen Zeit. Kein Ausfall dabei.

Und das in den blutleeren non-punky 90’s, zwischen Crossover, Techno und Hip Hop. So wild, verrückt und gefährlich ist Punk Rock in dieser geballten Form seitdem nie wieder gewesen. Kein aufgewärmter Kaffee, kein kostümiertes Hobby, kein Cosplay, sondern Lebensgefühl, Passion, Leidenschaft. Mit allen Ecken und Kanten. Leider ein Auslaufmodell. Beim Urteilsvermögen galoppiert natürlich meine Leidenschaft mit mir durch, aber genau das ist auch der Zweck des Ganzen. Das Leben ist schließlich viel zu kurz für halbgare Sachen, oder wie der Berliner sagt: Ente oder Trente. Ein bisschen schwanger geht nicht, das Glas sollte immer voll sein.

Mich würde noch interessieren: du kanntest „uns“ schon was früher oder, weil du ja eigentlich alter „Ossi“-Berliner aus den 80er bist (auf L.A. und „DDR“ kommen wir noch ausführlicher zu sprechen).
Du meinst das TRUST? Im Herbst 1989 war das TRUST mein erstes selbstgekauftes Fanzine (leider ohne die avisierte SPERMBIRDS 7“), davor haben sich leider nur wenige Zines als Schmuggelware über die Mauer zu mir verirrt: Das SKINTONIC mit seiner Debütnummer war dabei, die Schweizer PRAWDA und kleinere lokale Hefte. Lese, staune, gute Laune. Was dem bundesdeutschen Teenager sein HAPPY WEEKEND, war dem ostdeutschen Punker sein West-Fanzine. Mal ganz grob runtergebrochen. Herzrasen, offener Mund, Glücksgefühl. Mein „Lieblingsfanzine“ vor dem Mauerfall aber war der FRONTLINE-Katalog. Was habe ich die Reviews geliebt! Fast wie bei Jules Verne, mit dem Katalog habe ich fremde Welten entdeckt und bereist, komplett abstrakte Traumlandschaften. Die wenig später real wurden.

Eins noch zum M+: gab es da nicht mal irgendwie den „Zensur-Skandal“, dass es ein Interview mit Günter Gruse vom 80er Forces of Hate Zine gab, er am Ende als Lieblingsband Endstufe sagte und das wurde rausgestrichen? Irgendwie „war da was“, aber ich kriege es nicht mehr zusammen, ist auch nur gefährliches Halbwissen, vielleicht weißt du es spontan….
Ich habe das auch nicht mehr so parat, was da wirklich gelaufen ist. Ich glaube aber, das komplette Interview wurde rausgeschmissen? Als gelernter „DDR“-Bürger habe ich mit jedweder Zensur meine Probleme, das bedingt schon meine Biographie. Allerdings gehe ich auch sehr emotional mit dieser Thematik um, bin mir der Schwierigkeiten und Gefahren falschverstandener Toleranz meistens auch bewußt. Ich hatte da auch im PUNKWAX diverse Pros und Cons, habe mich dann aber für Vollständigkeit und gegen Deutungshoheit entschieden. Wer bin ich denn, dass ich eine zeitliche Periode auf meine Lieblingsbands reduziere bzw. die Political Correctness der Zweitausender als Maßstab auf die frühen 80er anwende? Und das noch dazu im Punk-Sektor.

Dann hätte ich das Buch fairerweise „Meine ganz subjektiv erwählten und sowas von korrekten Lieblingsplatten“ und nicht „Diskographie“ nennen müssen. Mal ehrlich, hätte ich die aktuell gültigen, hochsubjektiv-entstandenen Richtlinien auf die deutschen Punk-Releases 1977-85 anwenden müssen, wäre es ein Faltblatt geworden. Du hattest ja mal eine ähnliche Problematik mit Deiner Lieblingsband R.K.L., oder? Leider ticken unsere musikalischen Faves politisch oder menschlich oft etwas anders, aber darf man deshalb nicht mehr die PISTOLS, RAMONES, VORKRIEGSJUGEND, R.K.L., FANG, PUBLIC IMAGE, X, DYS etc. hören? Ein schwieriges Thema, muß letztendlich jeder für sich selbst entscheiden. Zurück zu Gruse: Soweit ich weiß und mich erinnern kann, hatte Torsten das damals ganz souverän gelöst und sogar nachvollziehbar erklärt.

Ich find es übrigens geil, dass ihr online noch alten Stuff nachliefert, vielleicht backt Torsten uns doch nochmal nen M+-Buch zusammen!
Again: Dein Wort in Torstens Ohr, auch das würde ich mir wünschen. Die Website ist ein kleines Trostpflaster, liest sich angenehm in Aufbau, Schriftgröße etc. Das sage ich ganz unparteiisch als überzeugter Webzine-Hater. Auch hier hat Torsten seine magische Präsenz ins Spiel gebracht. Leider ruht auch da irgendwie still der See.

Nach dem M+ schriebst du mal auch mal für das Hamburger Mind the Gap Zine, hattest aber jetzt die permanente Heimat beim Crazy United-Online-Zine von Frank „Plastic Bomb“ Herbst oder? Eh mal Kompliment, hier, du schreibst echt immer geil: voller Wissen, sehr selbstbewusst, aber auch nicht arrogant, ich lese das einfach immer sehr gerne, was du schreibst, ich bin quasi Fan von dir, Junge.
Fan, oha? Danke, danke, das höre ich selbstverständlich gern, wenn auch mit leichter Beschämung. Vor allem von einem Kollegen, dessen Stil ich selbst sehr schätze und mit dem ich mehrere Leidenschaften teile. „Sehr selbstbewußt“..Kommt das so bei Dir an? Ok, ich liebe halt keine halben Sachen, weder emotional, noch fachlich. Vielleicht bin ich da nicht allzu verbindlich, was letztendlich natürlich auch eine Schwäche ist. Aber von Perfektion bin ich weit entfernt, bewußt und unbewußt, deshalb gönne ich mir auch einige Schwächen. Ausnahme: Reviews. Da bemühe ich mich um eine gewisse Fairness, grobe Verrisse vermeide ich nach Möglichkeit. Musikalischer Geschmack ist immer eine persönliche Sache (kann man nicht oft genug sagen/schreiben), da will ich niemandem reinreden oder bevormunden. „Unterhaltsam informieren“, so würde ich meinen Anspruch zusammenfassen. Manchmal gelingt mir das sogar. Hoffentlich, das „Phantom der Oper“ ist Abschreckung genug.Arrogant wäre Scheiße, das versuche ich zu vermeiden, ist für mich ein No-Go.

Tja, wie kamst du zu Frank seinem Blog und bist du noch irgendwo als Schreiber aktiv?
Frank hatte mich irgendwann mal gefragt und ich habe zugesagt. War eine nette Abwechslung. Nein, dass CRAZY UNITED war meine einzige Fanzine-Spielwiese als Reviewer. Hier und da noch ein wenig Schreiberei, für WANDA Records etc., kleinere Herzensangelegenheiten. Das CRAZY UNITED ist nun auch Geschichte, ist in Rente gegangen. War eine sehr schöne Zeit, auch wenn es Frank mit mir nicht leicht hatte, aber er war ein sehr geduldiger Patron. Ich bin und bleibe ein hoffnungsloser Deadline-Bummelant. Davon kannst Du ja auch ein Liedlein singen.

Es ist immer eine beliebte Kritik an Fanzinern seitens Bands Motto „Wat, der hat uns verrissen? Na ja, verhinderter Musiker sicherlich und deshalb „nur“ Schreiber geworden!“. Hast du selber auch mal Musik gemacht?
Nein, nach dem ersten Versuch 1984 habe ich es bleiben lassen. Da fehlt mir einfach das Talent.

Vor vielen Jahren warst du ja auch als Buchautor tätig und hast dein „Punkwax: German Punk & Hardcore 1977-85“-Buch veröffentlicht, du meintest neulich, dass es eine Neuauflage geben wird? Sag mal, da gab’s ungefähr um die Zeit doch auch den Ziegelstein „Scheibenklar“, das auch ne Sammlung aller Punk-HC-Oi-Platten aus Germany der letzten 40 Jahre war, war der Autor nicht auch Berliner, ich kann mich auch täuschen. Na ja, ob die Onkelz vorkommen mussten, kann man sich wohl bis zum geht nicht mehr streiten.
Das SCHEIBENKLAR ist etwas später erschienen, geht optisch und inhaltlich in eine andere Richtung, der große gemeinsame Nenner ist „Deutscher Punk Rock“, beim PUNKWAX habe ich aber bewußt die Zeitspanne 1976-85 gewählt, SCHEIBENKLAR geht bis 2009. Für mich persönlich hat sich das Kapitel „Deutscher Punk“ 1985 geschlossen, anschließend gab es sicherlich noch einige Ausreißer, aber die innovativen Messen waren gelesen. Das hat natürlich auch mit meiner persönlichen Vita zu tun, 1985 war ich längst zum Hardcore gewechselt, je schneller desto besser. SEPTIC DEATH, GANG GREEN, JERRY’S KIDS, TERVEET KÄDET & Co. waren meine neuen Helden.

An deutschem Punk waren nach wie vor die Texte extrem wichtig, aber die besten waren bis 1985 auch schon alle gesungen, die Genre-Klassiker sind fast ausschließlich älteren Datums. Der große Unterschied ist zudem Ansatz und Ausführung: Das SCHEIBENKLAR ist mehr eine Listung bzw. Bestandsaufnahme, Schwerpunkt sind farbige Cover-Abbildungen, Informationen spielen die zweite Geige. Im PUNKWAX liegt der Focus dagegen klar auf Informationen aka Text (oder neudeutsch „Content“), vor allem diskographisch und personell. Für beinharte Collector Nerds und interessierte Punk-Enthusiasten gleichermaßen. Es gibt mehr oder minder lange Kommentare der beteiligten Musiker, ein Review, kurze Bandbiographie etc. Für Jeden etwas dabei, hoffe ich. Beide Bücher ergänzen sich ganz gut, jedenfalls aus meiner Sicht. In naher Ferne ist eine Neuauflage vom PUNKWAX geplant, die früheren Auflagen werden meinem Anspruch einfach nicht mehr gerecht.

Der SCHEIBENKLAR-Macher, Ken, ist deutlich jüngeren Baujahrs, für ihn sind deshalb sicher auch die ganzen 1990er Combos wichtig, bei denen ich ganz höflich gesagt, oftmals das große Gruseln bekomme. Berlin? Meines Wissens kommt er aus Finsterwalde, ich hatte ihn mal auf einem obskuren Konzert von THE KIDS getroffen. Vor einer gefühlten Ewigkeit. Da wohnte er noch in Finsterwalde, glaube ich zumindest. Damals hatte er sich in einer unglaublichen Fleißarbeit mit seinem Scanner durch die Plattensammlungen einiger bekannter Sammler gescannt.

Und das gleich zweimal, doppelt gemoppelt: Zuerst hatte er nur mit 150 dpi gescannt, dann das ganze nochmal in Hi-Res. Da wäre ich viel zu faul dazu, an diesem Punkt hätte ich hingeschmissen. Big Respekt für diesen Sisyphos-Job.

Vielleicht hast du es mitbekommen, dass es das Rock-o-Rama-Buch geben soll (mittlerweile ist es erschienen, Anm. Jan), Björn Fischer aus Hannover sitzt dran, der müsste ja eigentlich auch mit dir gesprochen haben, könnte ich mir zumindest vorstellen, weil du bist ja der Experte für die damalige Zeit mit deinem Buch?
Sorry, aber da bin ich wirklich kein Experte. Weder generell, noch in Sachen ROCK-O-RAMA. Mein Wissen kommt ausschließlich aus zweiter Hand, ist also nicht wirklich relevant. Solche Projekte brauchen m.E. Zeitzeugen, die tatsächlich dabei waren, nicht nur Hörensagen aus der dritten Reihe. Björn ist da wesentlich näher dran, kennt vermutlich die wirklich entscheidenden Leute, hat über die Jahre schon diverse Interviews geführt. Das Buch ist ein amtlicher Wälzer geworden, ich habe ihn aber noch nicht gelesen. Nur durchgeblättert.

Der erste Eindruck fiel sehr positiv aus! Bei ROR werde ich auch nostalgisch, einige meiner Lieblings-Scheiben sind auf ROR erschienen. zB. die „Black god“ Compilation von TERVEET KÄDET mit dem mächtigen „The message“. B-R-U-T-A-L! Gab es vorher nur als Testpressung, PROPGANDA Records anno 1984. „The message“ ist meine Definition von Hardcore, 1:29 Minuten, die ein Lebensgefühl explizit auf den Punkt bringen. Diese Testpressung wurde mir in den 90ern mal für 1300 DM angeboten, heute wäre das ein Schnäppchen. C’est la vie.

Wir brachten in der Trust #145 von 2010 einen Auszug aus Helge Schreibers „Network of Friends“-Buch (trust-zine.de/network-of-friends-hardcore-punk-der-80er-jahre-in-europa-aus-145-2010/), dort wurdest du ja auch interviewt und gibst ne coole Story zu DDR damals zum Besten, ich darf diese Passage mal zitieren – Frage: In welchem Rahmen fanden damals Konzerte statt?
Antwort Thomas PUNKWAX-Discographie (Ost-Berlin): „In der DDR gab es autonome Häuser bzw. besetzte Häuser wie im Westen ja nicht. Ausschließlich in Räumlichkeiten der evangelischen Kirchen. Und dort entweder in Nebengebäuden, auf dem Gelände oder im Altarraum selbst. In der Pankower Hoffnungskirche fand 1985 mal ein ganzes Festival direkt vor dem Altar statt. Ein skurriles Szenario! In Berlin-Wilhelmshagen fand 1984 ein kleines Punk Open Air auf dem Gelände vom ULMENHOF, einer psychiatrischen Einrichtung der Kirche, statt, im Nachhinein auch eine sehr denkwürdige Lokalität. Wahnsinn trifft Wahnsinn!

Das legendäre „Frühlingsfest“ auf dem Gelände der Berliner Erlöserkirche fand in den letzten Jahren der DDR mit immer stärkerer Punk-Beteiligung statt, das wurde dann ein richtiges Open Air. Anfangs war das ein rein kirchliches Event, ein kleines Fest, um den Frühling oder vielleicht auch den Herrgott zu begrüßen. Wobei man auch sagen muss, dass die Kirche da keineswegs nur aus Sympathie zu den Punks die Räume zur Verfügung stellte, das war halt deren Verständnis von Jugendarbeit allgemein und ein Protest gegen den Staat. Ich glaube auch nicht, dass da ein Bischof oder höherer kirchlicher Würdenträger so übermäßig begeistert bzw. involviert war, das regelten hauptsächlich die Pfarrer und Sozialdiakone.

Einer dieser Pfarrer wurde übrigens der letzte Verteidigungsminister der DDR, und zwei Sozialdiakone aus Berliner Gemeinden sind mittlerweile auch dick in der Politik zugange: als Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung und auf lokaler Bezirksebene. Wer hätte das mal gedacht! Ganz wichtig aber war: Auf Kirchengelände hatte man vor den Bullen Ruhe! Zumindest bei Konzerten. Die haben zwar direkt davor und an den umliegenden S- und U-Bahnstationen herumgelungert und Leute kontrolliert und abgefangen, aber reingekommen sind sie nicht. Ich hab das zumindest nie erlebt“.
DDR-Punkrock wird ja massivst aufgearbeitet in den letzten Jahren, Box hier, Buch da, Filme da hinten… ich hab dazu eigentlich immer nur die gleichen zwei Fragen: war das damals echt sooo wichtig für die DDR-Punks, dass die Hosen so früh 1983/1984 in Ost-Berlin spielten und eigentlich – wenn man mal ehrlich ist – die beste DDR-Punkband war doch eigentlich Schleimkeim oder? Was NICHT heißt, dass alle anderen schlecht sind/waren, aber…
Für mich ist das Kapitel „DDR“-Punk eigentlich seit 2002 erledigt. Damals hatten Pankow (PLANLOS-Sänger) und ich für die WEIRD SYSTEM-Werkschau „Wenn kaputt dann wir Spass – Berlin Punk Rock 1977-1989“ den Ostberlin-Teil zugearbeitet. Pankow hat später mit „Too much future” weitergemacht und 2022 auf dem Tempelhofer Feld mit den HOSEN seine verdienten 15 Minuten Ruhm bekommen. Für mich war das Thema wie gesagt erledigt, don’t flogging a dead horse. Schon die Recherche für den WS-Sampler war recht zäh, die Protagonisten von einst nur schwer zu begeistern und aufzufinden, die Bands untereinander heillos zerstritten, einige Leute leider auch verstorben.

Daran hat sich trotz gesteigertem Interesse und diversen Reunions auch 2022 nichts geändert, keine reformierte Band spielt in Originalbesetzung, die Luft ist irgendwie raus. Daran kann auch das Fandom der nachwachsenden Punk-Generationen nichts ändern, over and out. Und immer wieder Stasi, Stasi, Stasi. Die ganz böse Nummer. Spion nicht nur im Cafè…Es war viel Lumpenpack in der Szene, einige davon in vorderster Front. Hat mir die Angelegenheit zusätzlich verleidet, die Atmosphäre war nachhaltig vergiftet. Schwamm drüber. Das „Wenn kaputt…“-Kapitel klang mit einem Radio Interview bei RADIO 1 aus, geführt von Peter Radszuhn (damals Musikchef beim Sender).

Sehr liebenswerter Mensch (und einstiger TEMPO-Gitarrist, leider vor einigen Jahren viel zu früh verstorben), welcher Rotwein zur Auflockerung kredenzte. Großartiger Abschluß, dabei hätte man es belassen sollen. Aber nein… Für Helge habe ich dann doch eine Ausnahme gemacht, das lag aber ausschließlich an seiner Person, nicht am Thema. Weil er einfach ein Spitzen-Buddy ist (Hardcore im Wissen, Softcore im Herzen) und es für mich eine ganz große Ehre war, in seinem Werk vertreten zu sein. Übrigens: Helge würde ich gern zigfach klonen, Menschen mit seinem Wesen braucht die Szene und die übrige Rest-Welt ganz, ganz dringend. So bescheiden, so angenehm, so gut.

Dann würde es weniger Hass und Kriege, dafür mehr Fanzines, Vinyl und Torte geben. Helge for Präsi! Keine Frage: SCHLEIMKEIM waren die wichtigste Punk-Band in der „DDR“. Punkt. In ihrer Bedeutung die SLIME des Ostens. Definitiv die Bekanntesten. Ganz objektiv gesehen. In meinen Augen auch die musikalisch beste Combo, aber das ist Geschmackssache. Songwriting/Texte von Otze waren genial, sein Trinkverhalten weniger. Doktor Dieter vs. Mister Otze, aber vielleicht bedingte das eine auch das andere. WUTANFALL/L’ATTENTAT/PARANOIA/NAMENLOS/REASORS EXSZESS etc. sind deshalb nicht weniger wichtiger; jede einzelne Note, die eine ostdeutsche Punk-Band gespielt hat, war ein mutiger Sargnagel für das System, aber SCHLEIMKEIM waren das Maximum. Mehr ging nicht.

Leider immer wieder an dieser Stelle notwendig, der „Die anderen Bands“-Disclaimer: Nachgeborene werfen gern FEELING B, SKEPTIKER, ICHFUNKTION etc. in die Runde, aber diese Combos haben sich zu „DDR“-Zeiten nicht als Punk-Bands bezeichnet, dabei sollten sie es auch belassen. Einmal „Andere Band“, immer andere Band. Mit dem Staat oder gegen den Staat, dazwischen gab es nichts. Auch wenn man das heute gern so hätte. FDJ Punx, ok Das HOSEN-Konzert war früher, ich glaube 1983.

Bin mir aber nicht sicher. Da nur ein Dutzend Besucher zugegen, war es für den Großteil der Szene sicher nicht wichtig. Höchstens als Mythos, als Interna. Auch wenn das Konzert mittlerweile eine ähnliche Zuschauer-Stärke wie der mythische Manchester-Gig der SEX PISTOLS aufweist: Ging zweistellig los, hat mittlerweile Stadion-Dimensionen erreicht. ALLE waren da. Oder behaupten das zumindest heute. Ich habe die HOSEN später gesehen, 1988 in Pankow. Das war schon ein interessanter Moment, aber SCHLEIMKEIM oder die West-Berliner DISASTER AREA 1985 in der ALÖSA waren mir viel wichtiger.

Interview: Jan

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