Interview Punk-Fanziner Thomas Paradise Teil 2
Verdienter Punk-Fanziner der Punkheit:
Thomas Paradise! Teil 2
Im letzten Heft sprach ich mit dem Fanzine-Kollegen Thomas Paradise schon über Fanzines (ach!), seine Vergangenheit in Ostberlin, DDR-Punk, das Moloko Plus Fanzine, das Crazy United Fanzine und sein „Punkwax: German Punk & Hardcore 1977-85“-Buch – ihr findet im ersten Teil eine ausführlichere Einleitung, ohne viel Gelaber geht es jetzt mit dem Teil dos weiter.
Hattest du immer auch nen mehr oder weniger interessierten Blick auf die Schreiber/innen der „Popkultur“-Magazine, also Martin Büsser, Clara Drechsler, Spex, Jungle World, Roger Behrens etc. oder doch immer klarer Fokus „Punk/HC/Oi“?
Da muß ich passen, bis auf Martin Büsser kenne ich davon bewußt niemand. Alte SPEX Nummern habe ich auch immer mal wieder gelesen, ohne das einzelne Autoren haftenblieben, sorry. JUNGLE WORLD ist „Popkultur“? Mir liegt noch der Vorgänger schwer im Magen… Mit theoretischen Abhandlungen oder semi-wissenschaftlichen Analysen zum Thema „Punk“ kann ich überhaupt nichts anfangen, finde ich im Gegenteil stark irritierend. „Punk“ in seiner ganzen Vielfalt und unglaublichen Bandbreite, findet bei mir außerhalb von Schubladen statt, läßt sich maximal auf musikalischer Ebene katalogisieren, ist für mich generell ein nicht wirklich greifbares Phänomen.
Hat vor allem ganz viel mit Leidenschaft, Herzblut und Kreativität zu tun. Weniger mit Analyse. Da sehe ich mich eher in der Tradition von Bruce Roehrs, Garry Bushell (seine SOUNDS-Reviews sind gleichzeitig präzise als auch unterhaltend, ganz großes Kino!) oder auch Ralf Real Shock. Überhaupt hatte das 3rd GENERATION NATION eine ganze Garde von erstklassigen Autoren mit wirklich coolem Schreibstil. Gekonnt, nicht gewollt. Ich liebe diese Mischung aus Erpresserbrief, Nerd-Fakten und Megaphon. Mein persönliches Credo: Jeder sollte für sich selbst entscheiden können, was „Punk“ für ihn bedeutet, da sollte es keine fremde Deutungshoheit geben, keinen Oberlehrer mit erhobenem Zeigefinger.
No room for Erklärbären oder Konsens-Schrebergärtner, keine Versuche den Dingen akademisch auf den Grund zu gehen. „Was will der Künstler uns damit sagen?“ Tö-rö-tö-rö. Bauchgefühl rules! Sonst geht die angestrebte Vielfalt und Toleranz ganz schnell flöten. Und gerade die sind mir extrem wichtig.
Mich wundert es rein persönlich, dass es bislang – und das ist keine Kritik am Crazy United, das ich echt gerne gelesen habe – kein Online-Zine/Blog/Plattform gibt, die Print so richtig ebenbürtig ist. Na ja, ich bin 44, du noch älter, vielleicht sind wir einfach raus aus dem ganzen oder gibt es ein Heft digital, das extrem geil ist für dich? Auch das MRR ist jetzt mit „nur noch digital“ irgendwie langweiliger, ich hab´s irgendwie gerne noch „haptisch“, auch wenn ich natürlich die vielen vielen Vorteile von Online-Zines sehe!
Bin ich ganz bei Dir, haptisch ist mir unheimlich wichtig. Für aktuelle Infos, Termine, Kurztexte etc., ist das Netz wichtig und auch unschlagbar, da macht das Sinn. So funktioniert digital für mich gut als Ergänzung. Aber nicht für längere, zeitlose Texte. Zines sind und waren immer Ego-Projekte. Im Kleinen und im Großen, offiziell und inoffiziell. Digital wird das Ego, zumindest in unserer Sphäre, nicht genug gefüttert. Ist ein undankbarer Job. Keine Knete, kein gestreicheltes Ego, stattdessen nervige Shit-Stürme in der Kommentarspalte.
Die älteren Ego-Hipster haben in der Pandemie verstärkt den Podcast für sich entdeckt, das scheint seit einigen Jahren Trend zu sein. TikTok für Media-Nerds mit Anspruch und angedrohtem Tiefgang, früher sagte man „Schlaumeier-Punks“. Mitunter eine interessante Sache, man sollte allerdings über viel Tagesfreizeit verfügen und nicht wirklich soziale Kontakte (real life, in echt) pflegen. Die Youngster (U-40), der digitale Wisch-Mob, wischt nur noch, sind als Zielgruppe für Printmedien komplett verloren. Scheint mir wirklich eine Altersfrage zu sein. Aber da ja Vieles wiederkommt, gebe ich die Hoffnung nicht auf. Vielleicht gibt es irgendwann auch ein qualitativ stark besetztes Zine-Comeback auf breiterer Front.
Wir beiden teilen ja eine große Liebe zu Los Angeles, der Stadt und auch der dortigen Punk-Szene und du hast viele deiner Lieblinge schon für verschiedene Hefte interviewt, sehr gerne erinnere ich mich zum Beispiel an dein fettes Orange County Special, hammergenial! Woher kommt die Leidenschaft für gerade diese Stadt, die meisten mögen ja – wenn überhaupt USA/Musiktown – eher San Francisco („Gilman“), Seattle („Sub Pop“) oder natürlich New York („HC“), alles drei (für mich) auch total spannende Städte, aber L.A. ist irgendwie doch einzigartig oder?
Ganz ehrlich: L.A. ist nicht mal mein Über-Favorit in CA, ich fühle mich in San Diego, den Beach Cities oder Santa Cruz definitiv wohler. Allerdings ist „Los Angeles“ als Gesamt-Phänomen mein emotionaler Taschenwärmer, da bin ich ganz bei Dir. Auch im direkten Vergleich: San Francisco und NYC haben großartige Ecken, möchte ich nicht missen, aber L.A. sticht mit 4 Trümpfen: Strand, ewige Sonne, Palmen und die besten Vinyl-Shops der Welt. Es gibt nichts Besseres, als von einem Plattenladen in eine Beach Bar zu stolpern.
Außerdem: L.A. punktet durch diese All-over-Madness, die ganze Stadt ist irgendwie verrückt, jedes Viertel hat stets und ständig eigene Überraschungen parat, wechselt ständig die Fassade. Knallbunt, trist, schmutzig, picobello, schäbig, unglaublich, verstörend, wundervoll, spannend. Alle krassen Gegensätze sind vertreten, stoßen sich aber nicht ab, sondern fügen sich zum großen Ganzen. L.A. atmet an jeder Ecke Geschichte: Musikgeschichte, Filmgeschichte, Kriminalgeschichte. Immer in Superlative.
CIRCLE JERKS, BAD RELIGION, X, WEIRDOS, ANGRY SAMOANS, FEAR, Chandler, Ellroy, Ry Cooder, Winslow, Bukowski, Film Noir, Bugsy Siegel, Hillside Strangler, Manson. Überall Hochkaräter. San Francisco ist über die Jahre von den Techies zerstört worden, die Stadt ähnelt dem angefressenen Apfel mehr als nur im übertragenen Sinn, die Cyber-Ameisen haben übernommen. L.A. dagegen war schon immer kaputt, nie die strahlende Metropole, kann vielleicht deshalb mit Zeitgeist-Phänomenen und Tragödien auch gelassener umgehen und geht nicht gleich in die Knie. Der Angelino nimmt es insgesamt lässiger.
Du erwähntest, dass du auch an einem L.A.-Buch sitzt, wat hasse geplant?
L.A. besetzt nur ein Kapitel, die Spanne reicht grob gesagt von Tijuana bis Malibu/Oxnard. Den Grundstock bilden meine gesammelten California-Artikel aus MOLOKO PLUS, CHELSEA’S CHOICE, MIND THE GAP etc., komplett überarbeitet und mit einer Tonne Bildmaterial aufgehübscht. Dazu kommt noch ein Stapel unveröffentlichter Interviews, ich war einfach zu schnell für die Erscheinungsweise, da blieb eine Menge liegen. Das wurde nun etwas in Form gebracht, geographisch durchsortiert und mit Reise-Anekdoten, Stories über Land und Leute, kuriosen Fakten etc. gespickt. Der Standard Q&A-Charakter der Interviews wurde durch überwiegend O-Ton im Stil einer Oral History getauscht, liest sich meiner Meinung nach dadurch flüssiger und vor allem knackiger. Wie schon oben erwähnt, stilistisch ist es ein Konvolut aus Erpresserbrief, Nerd-Fakten, vorgetragen mit Sprayflasche und Megaphon, alles schön bunt und laut. Fanzine Style im Buchformat. Nicht seriös, aber hoffentlich unterhaltsam.
Welche Interviews machen dich immer total glücklich bezüglich L.A., was war deine coolsten Story vor Ort, schön mit Dr. Strange nach Vegas fahren und mit Shawn Stern in Malibu ne Kiste Bier beim Big wave-Surfen killen oder wie dürfen wir uns das vorstellen?
Glücklich? MIDDLE CLASS und M.I.A. haben mich inhaltlich sehr gefreut, oder THE SKULLS, THE STAINS. BONECRUSHER war sehr intensiv, Robbie Fields sehr informativ. Eigentlich war ich über jedes realisierte Interview glücklich, waren ja alles Wunschkinder. Vor Ort? Irgendwie ist immer etwas Vinyl mit von der Partie, ansonsten eher Entspannung als Eskalation. TKO Records und UNDERDOG Records waren immer feste Anlaufstellen, mit Mark und Mike konnte man gut abhängen, auch Drak im VINYL SOLUTION hat immer Punkte gebracht. TKO und UNDERDOG haben leider geschlossen, VINYL SOLUTION ist ein Schatten früherer Großtaten.
Geblieben ist DR. STRANGE, mit Bill verbindet mich auch eine lockere Freundschaft, die ersten Kontakte waren noch zu Mailorder-Zeiten, dann kamen die vor Ort-Dates dazu. Grandioser Knabe mit einem speziellen Humor und randvoll mit coolen Stories von gestern bis heute, ein Stand-up Comedian mit integriertem Punk-WIKIPEDIA. Curtis von TAANG! war anfänglich etwas knurriger, taute aber schnell auf und war dann nicht mehr zu stoppen. Im Nachhinein schon irgendwie skurril: Punk Rock History zum Anfassen. Ging mir vor ein paar Jahren so, als ich bei einem FU’S-Konzert direkt neben Rockin‘ Bob Cenci stand. ROCKIN‘ BOB CENCI!
Seine Gitarre hat meine damaligen Tempo-Standards diktiert, „Is this my world?“ ist nachwievor eines meiner Top 5 U.S.-Alben. Ein Highlight war definitiv die diesjährige Show zum 40-jährigen Betriebsjubiläum von FEAR „The record“ in ALEX‘ BAR, Long Beach. Angenehme Location im unberührten Hinterland von Long Beach, Flachbau mit dezenter Club-Atmosphäre, nicht zu steril, nicht zu schäbig. Ausverkaufter Abend (von zweien), eine lange Schlange war der Preis. Immer wieder ein Phänomen: Der Amerikaner steht ordentlich und ohne zu Murren an, erinnert irgendwie ein Ostberlin pre-1989.
Im Vorprogramm: THE INFAMOUS STIFFS, relativ neue lokale Combo um Scotty (ex-VERBAL ABUSE, HOLLYWOOD HATE, ELECTRIC FRANKENSTEIN, TAANG!-Clerk in Hollywood). Knackiger Old School Punk Rock mit lokalem Flair, ein perfekter Opener. Scotty gibt noch immer den Tiger, ist unter Volldampf unterwegs. THE INFAMOUS STIFFS: Live deutlich stärker als auf Platte. Und die ist schon nicht schlecht. Das Publikum nahm langsam Fahrt auf: Eine junge Dame, Typ „Annette Humpe meets Popeye“, setzte zum Slam Dance in korrekter 80’s Ausführung an. Nette Performance, ähnelte in dieser Solo-Darbietung einem indischen Schlangentanz, in Trance vorgetragen. Andere folgten.
Ein lupenreiner Circle Pit entstand, lief wie am Schnürchen in exzellenter Choreographie. Mittendrin der „Clownfucker“ (laut T-Shirt Aufschrift), welcher immer mal wieder zum Stark (!)-Rempeln ansetzte, prinzipiell aber ein sehr angenehmer Zeitgenosse war. Er stellte sich uns sehr höflich vor, verwies auf seine deutschen Roots. Grüße an Herrn Stark, cheerio to Clownfucker! Vorhang auf für die erste Legende des Abends: CHANNEL 3 als zweite Band feierten ebenfalls ein Jubiläums-Album, 40-Jahre „Fear of life“. Was dann auch komplett gespielt wurde. CH 3 sind seit längerer Zeit wieder aktiv, das merkt man deutlich an ihrer Live-Präsenz auf der Bühne. Sehr professionell, sehr druckvoll. „Manzanar“, “Fear of life” und mein All time CH 3 Favorit „Catholic boy“.
Da leuchteten glückliche Kinderaugen, POSH BOY Punk Rock für die Ewigkeit! Und dann noch vor heimischer Kulisse, zu Hause ist wirklich immer am Besten. Und: Die Playlist machte den Unterschied, CH 3 haben über die Jahre eine recht beachtliche Diskographie angehäuft, „Fear of life“ bleibt aber unangetastet. Anschließend FEAR: Lee Ving gibt optisch mittlerweile den Nußknacker, wirkt leicht geschnitzt in zarter Statur, nix mehr mit bully Aggro-Biker. Aber die Stimme ist noch da. Das Set funktioniert. Selbst die schwächeren Songs wurden aufgefangen, „I Love Livin‘ In The City“, “I Don’t care about you” oder „Beef Bologna“ reißen alles mit.
Zum Abschluß noch „More beer“ als Zugabe. Mission erfüllt. Das Publikum war gut durchmischt, hübsch bekleidet, der Altersdurchschnitt überraschend niedrig, die Stimmung wie bereits angemerkt durchweg entspannt und angenehm. Eine kleine Schubserei fand zwar statt, zwei Damen bekamen sich in die Wolle, die begleitenden Herren nutzten die Chance auf Körperkontakt. Das alte Spiel…Alles halb so wild, eher eine unterhaltende Einlage ohne größeren Blutverlust. FEAR Bier gab es auch, dafür keine VIP Tickets: Vor einigen Jahren hatten FEAR an der Ostküste VIP Tickets zum horrenden Tarif angeboten, enthalten war die „Möglichkeit, die Band zu treffen“. Man muß nicht alles mitmachen.
Und was waren wirklich (im Nachhinein) peinliche/ärgerliche Interview-Erlebnisse, die man eigentlich nicht erzählen darf, aber: „wir von der Presse“, uns interessiert so was natürlich!!!
Ganz ehrlich? Fällt mir nichts ein. Einige haben nicht geantwortet, das war schade. Aber peinlich? Nö.
Mal gezählt, wie oft du in der City warst in all den Jahren, du warst ja seit den 90er alle 2 Jahre da oder?
Der Zweijahres-Rhythmus wird schon seit 10 Jahren nicht mehr gehalten, aber das ist auch gut so. Zwischenzeitlich war ich jedes Jahr drüben, teilweise bis zu 4 Wochen am Stück. Auf kleinstem Radius, von San Diego bis L.A. Da gab es dann auch schon eine Reizüberflutung gepaart mit etwas Langeweile, wie ein Kind das sich mit Eis überfressen hat.
Auch Leckereien sollten wohldosiert gereicht werden. Die Pandemie hat auch noch ein unschönes Wörtchen mitgeredet, der 2020er Abstecher verschob sich ungewollt auf 2022. Die Kosten spielen auch eine Rolle, früher war ein California-Trip günstiger als jeder andere Pauschalurlaub. Mietwagen, Flug, Sprit, Vinyl und Unterkünfte gab es spottbillig, mit Mexican Fast Food konnte man sich extrem preiswert ernähren. Die Kombi aus aktuellem Dollarkurs und anhaltender Inflation ist ein amtlicher Nackenbrecher, da überlegt man dreimal.
Ok, man kommt ja auch vor Ort und trotz guter Kontakte nicht an alle ran, die man interviewen will, was bei mir leider bislang nie klappte, war zum Beispiel Radical Cheerleading Los Angeles, Lee Ving, SST und ich fürchte, mit Brett Easton Ellis würde es auch schwer werden, an den überhaupt ranzukommen. Wie sieht deine „Dream-Wish-Liste“ aus?
Das Thema habe ich für mich abgehakt, leider. 80 % der heutzutage geführten Interviews in Musikmagazinen sind erschreckend banal und oberflächlich. Es geht hauptsächlich darum, ein Produkt (Tonträger/Buch) zu bewerben, im Gegenzug schalten die Labels/Verlage Anzeigen im Heft. Das gute, alte Payola-Konzept. Pay to Play. Sowas reizt mich nicht mehr, das habe ich knapp 20 Jahre gemacht. Ich würde gern die Fragen stellen, die alle interessieren, aber keiner beantwortet. Jeder will stattdessen ein Image verkaufen, das ist schnell durchschaubar. Je populärer, desto langweiliger. Das hat vor Jahren schon Tom Kummer realisiert und auf seine ganz eigene Weise reagiert. Ethisch verwerflich, menschlich verständlich.
Wie blickst du heute als „alter Mann“ so auf die Punk-vs-HC-Konfliktlinien der 80er und 90er zurück? Ich war als Jahrgang 1978 zu jung für die 80er, d.h. die damaligen Konflikte zwischen der „traditionellen“ Punk-Szene und der Mitte 80er aufkommenden „neuen“ HC-Szene, die ja z.B. sehr gerne in Leserbriefseiten vom Trust ausgetragen wurden, die kenne ich nur „after the fact“. Es wirkt teilweise etwas sehr … na ja… mir fehlt das richtige Wort, es waren ja durchaus junge Männer (auf beiden Seiten), die dort vehement über den „richtigen Punk/Core“ leidenschaftlich bis aufs Messer stritten und sicherlich in der damaligen Zeit wichtig, dass da ne neuere Generation die „Alten“ mal ordentlich anpisst, natürlich auch inhaltlich wichtig, der destruktiven Punkszene nen konstruktiven HC-Schub zu geben.
Nur: ich kam erst zu HC-Punk-Fanzines so ab 1992/1993 als 14/15jähriger, da war die Lage völlig anders, als ich anfing, Punk und HC zu entdecken: da war HC der etablierte oder sich doch sehr schnell etablierende Musikstil im Mainstream, der eben zu der Zeit durch die Decke ging, HC wurde unfassbar populär und so erstmal „das attraktive Identifikationsangebot“ für Teenager auf dem Gymi in komischen westdeutschen Peripherie-Städten von Ballungszentren, d.h. bei mir auf der Schule in Leverkusen waren Bands wie Slapshot Boston, Sick Of It All oder auch Bad Religion und NOFX die Bands, die „man“ damals als Teenager hörte. Wir kannten zwar Ramones und Slayer, ja, aber NY/Boston-HC und kalifornischer Melodic-Core, das war gerade „in“ und man fängt ja nicht als 14jähriger mit Operation Ivy an, sondern mit der gerade großen Punkband wie z.B. Rancid – und für deren ersten frühen Touren in den 80er und auch Anfang der 90er waren wir alle zu jung.
Insofern: vieles, was die damaligen HC-Leute in den 80er an Punk damals kritisierten, konnten „wir“ dann nach 1-2 Jahren HC-Infizierung auch an „HC“ kritisieren: Kommerz, sellout, Machotum usw. Und dann kam Punk Mitte der 90er ganz groß wieder auf die Bühne zurück, das war dann für uns wie „neu“ und plötzlich viel vitaler als HC, ein beinahe noch sinnstiftenderes Angebot für „uns“, HC war dann auf einmal prollig/peinlich, kommerziell, überall auf MTV zu sehen, nur noch Kohle… da kamen die Sex Pistols genau richtig wieder und wirkten „jung“/neu und vor allen mit Fun.
Das man sowohl Fugazi/Dischord Records liebt, aber auch Toten Hosen, das war dann für uns nicht „der“ Widerspruch, der es Mitte der 80er sicherlich war. 2023 wirken für mich teilweise die damaligen Debatten aus den 90ern, die dann eher im Plot waren, auch wieder so schön aus der Zeit gefallen. Punk und HC sind bis vor der Pandemie so riesig geworden, da ist man am Ende froh, dass es noch viele Leute gibt, die den DIY-Punk-HC-Spirit kreativ umsetzen, scheiss egal, ob die jetzt eher 7 Seconds oder eher UK Subs lieben.
Manche Dinge erklären sich ganz leicht. Wenn Du aus neuzeitlicher Distanz auf diese Konflikte einen Blick wirfst, wurden da sehr oft persönliche Streitereien ausgetragen, profaner Zank zu Kulturkämpfen hochstilisiert. Dabei haben sich Flitz und Piepe nur die Plattensammlungen geneidet, um die Ex-Freundin gezankt oder lokalpatriotischen Schwachsinn bedient: Boston vs. NYC, Köln vs. Düsseldorf, Nietenpunker gegen Holzfäller-Lookalike, Skins vs. Punks, Hardcore vs. Punk Rock. Diese „Better than you!“-Grabenkriege wirken heute lediglich amüsant, waren damals aber essentiell. Da wurde das Vorrecht der Jugend auf Intoleranz und Dummheit ordentlich ausgereizt; was war man früher doch hübsch engstirnig. Alles selbst erlebt und praktiziert. Shame on me, but Ende gut, alles gut. Im Abspann reitet man einträchtig in den Sonnenuntergang: Die Szene ist altersmilde und großzügig geworden, Hardcore-Combos haben den Stumpf Oi! für sich entdeckt, die Modeindustrie hat sich großzügig bedient, der böse Mainstream hat den wirtschaftlichen Faktor von Underground & Co erkannt etc. The Show must go on!
Am Ende wieder ein heiterer Ausklang und noch einige kurze Fragen: jeder von uns, der gerne und viel schreibt, hat doch seine „versteckte Liste“ mit all den Interviews, die aus verschiedenen Gründen NICHT klappten in all den Jahren, bei mir wäre das u.a. Lemmy, Malinheads… gibt es bei dir auch so eine Liste?
Hm, eigentlich nicht. Ich konnte meine Liste immer gut abarbeiten, hatte da aber auch keine Big Boys drauf. Die meisten Fragen sind mittlerweile gestellt, oder werden nicht beantwortet. Da würde ich mir eine Zeitmaschine in die 80er wünschen, als die Bands noch richtig die Hosen runtergelassen haben und selbst die inquisitorischsten und peinlichsten Fragen brav beantwortet haben: „Warum bist Du kein Vegetarier? Warum seid ihr beim Majorlabel? Warum nehmt ihr soviel Gage? Was haltet ihr von Nazis?“ Heutzutage ist das fast ausschließlich ein langweiliges Promo Q&A, die interessantesten Stories bleiben oft unerzählt. MALINHEADS auf der Wunschliste? Alle Jubeljahre gehe ich mit Jens von SM-70 Bier trinken, ab und an sind da auch andere ex-Musikanten aus seinem Dunstkreis dabei. Curiosum am Rande: Als ich MALINHEADS-Matze Anfang 1990 auf einem NOISE ANNOYS-Konzert in einem Lichtenberger Neubau-Club nach seiner aktuellen Lieblingsplatte fragte, legte er mir „No control“ von BAD RELIGION wärmstens ans Herz. Guter Tipp, aber hätte ich damals von ihm nicht erwartet. Unverhofft kommt oft.
Wie dürfen wir uns deine Plattensammlung vorstellen, wie viele Expedit-Regale, Junge?
Gar nicht mal so viele, ein großes und zwei kleine. Dazu diverse Boxen. Das meiste Vinyl steht mittlerweile auf dem Fußboden, muß erst noch in Regale einsortiert werden. Aschenputtel-Style. Eine neverending Aufräum-und Sortier-Story, erinnert an das Märchen vom Brei, vielleicht schaffe ich es bis zur Rente. Letztendlich wird meine Sammlung auch mehr als Archiv genutzt, Musik höre ich zu 90% digital. Leider.
Mighty Mighty Bosstones oder Murphys Law?
Schwierige Frage, mit beiden kann ich nur partiell etwas anfangen. MURPHY’S LAW sind vielleicht witziger, MMB haben insgesamt die besseren Songs? Ein knappes Kopf-an-Kopf-Duell.
AC/DC oder KISS?
Wie aus der Pistole geschossen: AC/DC. Die Bon Scott-Ära hat für mich keinen einzigen Ausfall, da stimmt jedes Riff, jeder Song. Das Sympathie-Pendel schlägt nur in eine Richtung: Ich würde lieber mit Bon Scott durch die Kneipen ziehen, als neben Gene Simmons an seiner Registrierkasse zu sitzen. Für KISS war ich damals wahrscheinlich auch einfach zu alt: Erwachsene Männer, die sich als Katzen schminken? Irgendwie war mir da insgesamt zu viel Lametta und zu wenig „Bumms“ oder musikalische Originalität, KISS empfand ich in ihren besten Momenten als ein Disco-Update von DEEP PURPLE/LED ZEPPELIN versetzt mit etwas SLADE. Harter Rock mit ordentlich Glitter bestäubt.
Und ordentlich Operette, man sollte schon die Gläser im Schrank festhalten, Gene war recht häufig in den ganz hohen Tönen unterwegs. AC/DC dagegen hatten Tornado-Qualitäten, waren die fetten Abräumer. Bei KISS finde ich lediglich einige Riffs ganz nett. MAX FACTOR-Theorie: Die groteske Schminke könnte sich bei Gene vielleicht ganz simpel erklären, abgeschminkt erinnert er doch stark an eine wohlfrisierte Elisabeth Taylor, vermutlich hatte er einfach nur Angst, versehentlich von Richard Burton geheiratet zu werden, deshalb die Maskerade? Oder war es Abi Ofarim? Frappierende Ähnlichkeiten in beiden Fällen. Davon ab, ich würde in jedem Fall im Team Ace spielen, der hat sich und die alberne Kostümierung recht locker genommen.
Als er in einem Interview gefragt wurde, was er denn mit seinem Kostüm darstelle, antwortete er „Klempner“, und hat sich vor Lachen nicht mehr eingekriegt. Gene saß daneben und hat sich wütend auf die Lippe gebissen, vermutlich hat er generell seinen Geburtsnamen zu ernst genommen. Kurioserweise ist die einzige KISS-Scheibe in meinem Besitz eine Interview Split 7“ mit DEVO. Veröffentlicht von der Presbyterian Church „For Public Service (Religious) Broadcast” im Jahr 1981. Vielleicht der Grund, warum diese Kirche 1983 aufgelöst wurde.
Welche 10 Songs müssen auf dein L.A.-Punk/HC-Tape drauf?
Nur L.A. City? Also geographisch streng korrekt? 10 ist recht wenig, da muß ich mich auf die ultimativen Klassiker beschränken, ohne Experimente oder Nerdery: X „Los Angeles“, KAOS „Alcoholidays“, FEAR „I Don’t care about you”, ANGRY SAMOANS „Inside my brain“, WEIRDOS “Solitary confinement”, THE CONTROLLERS “(The original) Neutron bomb”, BAD RELIGION “Los Angeles is burning”, CIRCLE JERKS “Beverly Hills”, THE DICKIES “Manny, Moe And Jack”, GERMS “What we do is secret”. Alle Angaben ohne Gewähr, Stand heute, L.A. City only. L.A. County würde schon ganz anders aussehen, SoCal sowieso. Die Qual der Wahl.
Thomas, danke für deine Zeit, ich sag schon mal „bis bald Berlin Kiste Bier Cock Sparrer und Dag Nasty“, tschüss mein Lieber!
Interview: Jan