Dezember 11th, 2017

HALLOGALLO 2010 (#146, 02-2011)

Posted in interview by Jan

In den späten 60ern und frühen 70ern formte sich in einer von politischen Aufbruch geprägten Stimmung im Nachkriegsdeutschland eine völlig visionäre Szene um Amon Düül, Faust, Kraftwerk sowie Neu!, bestehend aus Michael Rother und Klaus Dinger. Unter dem weitgefassten Label „Krautrock“ grenzten diese sich mit psychedelischer Rockmusik und frühen elektronischen Klängen von ihrer Elterngeneration ab. In einer Umgebung, die ausschließlich aus deutschen Schlagern und angloamerikanischer Rockmusik bestand, erschufen diese Musiker einen völlig neuartigen Sound. Die kleine, von den Kritikern gelobte, Szene konnte damals keine großen Erfolge verzeichnen, musste in der späteren Musikgeschichte jedoch immer wieder als maßgeblicher Einfluss herhalten.

Eher zufällig waren Klaus Dinger und Michael Rother Mitglieder in der gitarrenlastigen Frühphase von Kraftwerk, bevor sich sich abspalteten und ihr Projekt mit dem ebenso schlicht wie genial gewählten Namen Neu! ins Leben riefen. Von ’74-’76 war Michael Rother dann mit den beiden Cluster-Musikern Dieter Möbius und Hans-Joachim Roedelius unter dem Namen Harmonia aktiv, bevor er sich von 1977 an hauptsächlich seinen Soloplatten widmete. Nachdem die Neu! Platten lange Zeit nur als Bootlegs erhältlich waren, wurden sie in den letzten Jahren endlich offiziell wiederveröffentlicht. Nach dem plötzlichen Tod von Klaus Dinger im Jahre 2008 erschienen eine überaus schicke, wie auch teure Neu!-Vinylbox, sowie eine erste offizielle Veröffentlichung der lange in Versenkung ruhenden Neu! ’86 Aufnahmen auf Grönland Records.

In den letzten Jahren gewinnt Krautrock wieder vermehrt an Bedeutung. Neben der New Yorker Postpunk und No Wave Szene um Sonic Youth, beziehen sich aktuelle und völlig unterschiedliche Popkünstler immer wieder auf Krautrock wie zum Beispiel John Frusciante, LCD Soundsystem, Radiohead, Tortoise, Trans AM, Oasis oder das Techno-Urgestein Jeff Mills – um eine extrem verkürzte Liste zu liefern.

2010 hat sich Michael Rother mit ein paar Freunden als Hallogallo 2010 zusammengetan um die Musik von Neu!, Harmonia und seine Solostücke noch einmal auf die Bühne zu bringen. Bei diesen Freunden handelt es sich um Steve Shelley, dem langjährigen Schlagzeuger von Sonic Youth, Aaron Mullan von Tall Firs und Benjamin Curtis von School Of Seven Bells. Die einmalige Gelegenheit der Kombination Rother / Shelley, als jeweils eine der Schlüsselfiguren des Krautrocks bzw des Postpunks, erschien uns perfekt für in Gespräch über die Auswirkungen von Krautrock auf Punkrock von zwei gänzlich unterschiedlichen Betrachtungspunkten.

Michael Rother

Mit nur 15 Minuten Verspätung beginnen wir das Interview, nachdem wir vier Stunden wegen eines brennenden LKWs stehend auf der Autobahn verbracht haben und die letzten zwei Kilometer aufs Festivalgelände gerannt sind. Wir sitzen an einem Tisch vorm Artist Check-In. Trotz Zeitdrucks vorm anstehenden Neutronics DJ-Set und vielen vorbeigehenden Personen beantwortet Michael Rother mit seiner ruhigen, freundlichen Art unsere Fragen ausführlich. Während des Gesprächs schaut er stets suchend umher und entschuldigt sich, so viele bekannte Gesichter zu entdecken.

Wann hast Du das erste Mal von Steve Shelleys Musikprojekten gehört, also von Sonic Youth oder etwas anderem?

(überlegt) Puh, ich glaube das erste Mal sind sie mir aufgefallen, als mir jemand Anfang der 90er erzählte, dass Sonic Youth ein Stück von Neu! für ein eigenes Stück verwendet haben. Das war das Ciccone Youth Album mit dem Song „Two cool rock chicks listening to Neu!“. Vorher kannte ich die Band nicht und fand es natürlich erstmal seltsam oder auch interessant (lacht). Irgendwann habe ich Sonic Youth auch mal in Hamburg zusammen mit Stereolab live gesehen. Wir hatten keinen persönlichen Kontakt und es vergingen erstmal viele Jahre. Aaron Mullan, der auch für Sonic Youth den Sound macht, hat für Harmonia auf dem ATP Festival vor zwei Jahren den Sound gemacht, auffallend gut! Da haben wir uns kennengelernt, zusammengesessen und uns angefreundet. Drei Monate später haben Harmonia auf dem ATP in New York gespielt, dort hat sich Aaron wieder ans Mischpult gesetzt, ganz aus freien Stücken, da er dieses Mal gar nicht von ATP engagiert war. Aaron hatte mit Steve über mich gesprochen und der wollte mich auch gerne kennenlernen. Dann haben wir gemeinsam eine Session im Sonic Youth Studio aufgenommen und seitdem stehen wir in Kontakt.

Wie war es zu bemerken, dass Deine eigene Musik, also Neu! und Harmonia, ganze Generationen von jüngeren Musikern beeinflusst haben. Vor allem, wann ist es Dir aufgefallen?

Das hat auch erst Mitte der 90er angefangen. Vorher in den 70ern habe ich das nur im direkten Kontakt mit Brian Eno gehört, dass er und David Bowie sich über unsere Musik austauschten und es klasse fanden. Brian hat dann auch ’76 bei einem Besuch in Forst Aufnahmen mit uns [Harmonia] gemacht, die als Tracks and Traces erschienen sind. Dann gab ein großes Loch, das war alles noch in der Zeit vorm Internet. Neulich haben Steve, Aaron und ich gemeinsam in New York bei einem Radiosender ein Interview gegeben. Wenn ich dann zuhöre, was Steve so erzählt, wie er Neu! Schon Mitte der 80er Jahre kennengelernt hat… zu der Zeit wusste ich nicht, dass unsere Musik draußen international von Musikern verfolgt und auch geschätzt wurde. Ich habe höchstens Mal auf einem U2 Album bei einem Stück das Gefühl gehabt, dass das was mit meiner Musik zu tun haben könnte, ohne das jetzt beweisen zu könnten. Erst über das Buch von Julian Cope „Krautrocksampler“ [1996] wurde es mir und auch vielen anderen Musikern aus den späten 60ern / frühen 70ern hautnah vermittelt, dass unsere Musik irgendeine Wirkung entfachte. Dann hat es sich immer weiter verdichtet.

DJ Tobec [läuft gerade an uns vorbei] hat mich auf ein Stereolab Konzert in Hamburg mitgenommen, der kannte die Musik schon, ich noch nicht. Es hat mich doch sehr überrascht solche Ähnlichkeiten im Konzert zu entdecken, um es milde auszudrücken. Von da an hat es sich bis in die jüngste Zeit immer weiter gesteigert bis hin zu Bands, bei denen man es gar nicht vermutet hätte. Oasis haben sich im letzten Jahr plötzlich auch auf Neu! berufen, ebenso wie viele andere Bands, die ich gar nicht kenne. Man kann fast schon sagen, dass es inflationär auftritt. Aber keine Ahnung, ob es einfach eine Modeerscheinung ist oder ob die Musik jetzt so angekommen ist, also auch von der Gesamtästhetik, dass junge Künstler es jetzt wie selbstverständlich als heutige Musikanregung verstehen und verarbeiten. Das hat sich in den letzten 15 Jahren immer weiter gesteigert. In den 80ern war ich aber völlig abgeschnitten von der Information, ich denke, das ging vielen anderen auch so, dass es in Übersee oder auch in England im Untergrund schon brodelte.

Ist es also eher ein gutes Gefühl oder macht es vielleicht sogar Angst, dass sich so viele Leute, die man gar nicht kennt, auf einen beziehen?

Angst ist nicht der richtige Ausdruck, aber manchmal kann ich es nicht nachvollziehen. Ausgerechnet bei Oasis bei der Single „Shock of the Lightning“, habe ich es verstanden. Die Kombination Neu! und Beatles, das hat mir eingeleuchtet. Wenn manche denken, es reicht einen geradeauslaufenden Beat zu benutzen und denkt, dass man dem tieferen Verständnis dieser Musik, die wir damals kreiert haben, schon nahe ist, dann ist mir das zu kurz gegriffen. Da gehört schon mehr dazu. Aber gut, es wird halt zitiert, was verstanden wird. Eine harmonisch-melodische Welt, wie ich sie damals entwickelt habe, die ist nicht so leicht zu transplantieren, wie einfach einen geraden Beat herunterlaufen zu lassen. Letztendlich muss jeder selber verantworten, was er macht. Ich kann dafür keine Verantwortung übernehmen. Manche klauen gut oder lassen sich gut inspirieren und machen daraus etwas Intelligentes. Zum Beispiel haben The Engineers aus England Watussi von Harmonia gecovert, haben die Originalsamples genommen und darüber einen wunderschönen Chor gelegt. Das hat mich wirklich umgehauen als ich es das erste Mal gehört habe [„Clean colored wire“]. Oder auch Bands wie Fujiya & Miyagi, die mich auch überzeugen, weil das Konzept intelligent ist und die visuelle Umsetzung beeindruckt. Fujiya & Miyagi habe ich auch kennengelernt und live gesehen. Das war komisch, bei ihrem Konzert brach irgendwas in der Anlage zusammen und ihr Gitarrist hat sich dann spaßeshalber noch bei mir entschuldigt „bad carma for stealing all your stuff“ (lacht). Das ist dann auch in Ordnung, wenn die Leute auch dazu stehen. Wenn die Leute es einfach nur heimlich übernehmen, ist es natürlich komisch.

Liegt dieses Andersverstehen der Musik vielleicht auch daran, dass Neu!, Harmonia, Kraftwerk und alles was unter Krautrock gelabelt wurde, eine sehr deutsche Angelegenheit war, die sich auf die deutsche Geschichte bezog und unter Abgrenzung von der Elterngeneration entstanden ist? Menschen in anderen Ländern waren einer ganz anderen politischen Situation unterzogen.

Der historische Hintergrund ist eindeutig zu orten. Es war eine Reaktion auf den Wunsch eine eigenständige Musik zu entwickeln. Wir wollten uns abgrenzen von angloamerikanischen Mustern, von der deutschen Geschichte mal ganz zu schweigen, sowohl von der unmittelbaren Nazivergangenheit als auch der konservativen Adenauer-Ära, da bin ich aufgewachsen. Die Zeit hatte etwas revolutionäres. Wenn man an die Studentenunruhen in Paris 1968 denkt, den Vietnamkrieg und alles was da so eingeflossen ist. Es war eine sehr turbulente Zeit, die von einem Geist der Erneuerung geprägt war, auch in anderen Kunstsparten, wie im Film, der bildenden Kunst und so weiter. Und das gab es in anderen Ländern in der Form mit dem Bruch mit der eigenen Geschichte tatsächlich nicht. In Amerika gab es zwar auch kritische Auseinandersetzungen mit der Situation, die Bürgerrechtsbewegung, Schwarze, das war auch ein dramatisches Geschehen. In anderen Ländern und auch in späteren Jahrzehnten gab es aber diese Kultur des starken Wechsels nicht. Diese dramatischen Veränderungen in der politischen Landschaft habe ich danach in so starker Form nirgendwo wiedergesehen. Es gab nicht die 68er, wie es dann bei uns heißt, auch wenn ich mich mit der politischen Gruppierung der 68er nicht identifiziert habe, denn ich habe schon immer ein sehr individuelles Weltbild verfolgt.

Mit meiner Musik selber möchte ich aber gar nicht behaupten deutsche Wurzeln aufzugreifen, obwohl mein musikalisch, melodisch-harmonisches Grundverständnis tatsächlich mitteleuropäisch ist. Die Wurzeln aus der Volksmusik, in der klassischen Musik bis hin zu Bach, das sind alles melodische Klangwelten, die in mir widerhallen, auch wenn in ganz veränderter oder verarbeiteter Form.

Es hat sich seitdem viel verändert, inwiefern spiegelt sich die Veränderung in Deinem künstlerischen Schaffen wider?

Das ist schwer zu beantworten. Ich glaube, ich habe mir damals Anfang der 70er Jahre einen Weg eröffnet, den ich immer weiter beschritten habe. Man kann bei allen Veränderungen und Modifikationen, auch technischer Art, einen roten Faden in der Entwicklung der Musik erkennen. Was außerhalb der Musik in meinem Kosmos passiert, nehme ich natürlich wahr. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die immer mit einem Ohr am Puls der Zeit hängen, sondern ich halte mich absichtlich etwas zurück mit der Verarbeitung von Informationen, man wird tendenziell eher überfordert. Es gibt für meinen Geschmack viel zu viel Musik, ich würde eher mal Stille bevorzugen. Von Zeit zu Zeit gibt es aber auch musikalische Ereignisse, wie zum Beispiel Fuck Buttons, die mich erfreut haben. Die waren mit uns zusammen auf dem ATP Festival in Australien und dort haben wir uns kennen- und schätzengelernt. Als die beim Soundcheck mal so eine richtige Noise-Soundwand losgelassen haben, war ich ziemlich beeindruckt. Im letzten Jahr haben wir sogar einmal zusammen auf der Bühne gestanden, als sie mich nach Berlin zu ihrem Konzert eingeladen haben dort einzusteigen. Vielleicht gibt es da auch noch eine Chance für eine weitere Zusammenarbeit. Momentan bin ich allerdings mit Hallogallo 2010 ganz schön ausgelastet.

Letzte Frage: was war Deine letzte große musikalische Entdeckung, die letzte Platte, die Dich so richtig umgehauen hat?

Ja, da muss ich Farbe bekennen, ich höre nicht so viel andere Musik. Ich bin wirklich schon lange immer mit meiner eigenen Musik beschäftigt und wenn ich dann mal was höre… also das letzte, was mich richtig beeindruckt hat, das war Bach! (lacht) Das wollt Ihr vielleicht nicht hören, aber Johann Sebastian Bach. So funktioniert meine Wahrnehmung von Musik, mach den Horizont weit! Es gibt so viel schöne Musik aus der ganzen Welt, aus allen Epochen zu hören und zu entdecken. Ich springe immer mal, hauptsache die Musik ist stark, haut mich um und fasst mich an. Also Fuck Buttons habe ich schon erwähnt, Fujiya & Miyagi haben mich angesprochen, Engineers haben mich schwer beeindruckt, ansonsten bin ich sehr darauf fokussiert mich nicht zu sehr zu verzetteln. Das Neu!-Projekt und die weltweiten Hallogallo-Konzerte, da bleibt nicht mehr so viel Platz. Ansonsten finde ich The Sound Of Silence klasse, auch das Originalstück von Simon & Garfunkel übrigens.

Aber das passt doch, es gibt schließlich mehrere Musiktheoretiker, die Bach als den Ursprung der elektronischen Musik sehen mit seinen stark repetitiven Momenten.

Das wusste ich nicht, aber glaube es Dir gerne. Ich meine allerdings mehr die Bach Stücke, die ruhig sind, weniger die pompösen Orchesterwerke, die sind nicht immer ganz meine Sache. Die Klarheit der harmonische Abfolgen, man hat fast das Gefühl, wie kann das anders sein? Es hat so etwas Logisches, gleichzeitig aber etwas absolut berührendes Ästhetisches. Wenn ich mir vorstelle, man lebt in der Zeit, man ist der erste, natürlich gab es auch schon vor ihm Barockmusik, davor ziehe ich den Hut, das ist eine unvorstellbare Leistung so etwas zu schaffen. Also alles schön in Relation lassen und ganz tief den Hut ziehen.

Fünf ausgewählte Alben von Michael Rother

Neu! – Neu! (Brain Records, 1972)

Auf dem Debutalbum treffen einerseits Gitarren auf gradlinige Trancebeats und bilden harmonisch, sich wiederholende Soundcollagen von bis zu zehn Minuten, andererseits gibt es auch ambient- /noiseartige Songs. Das Ganze auf dem Cover markant geziert von dem wohl am häufigsten verwendeten Wort aus der Werbung.

Neu! – Neu! 2 (Brain Records, 1973)

Da das vorgeschobene Geld der Plattenfirma nur für die Neuanschaffung vielfältigerer Musikinstrumente und eine Seite der LP reichte, musste die Band eine frühe Form des Remixens betreiben, die B-Seite füllte man deshalb mit modifizierten Auskopplungen einzelner Songs der A-Seite.

Neu! – Neu! 75

Auf dem letzten Studioalbum werden die gegenläufigen Ansätze von Rother und Dinger auf den Höhepunkt getrieben. Das Ergebnis ist so experimentell vielfältig und radikal, dass es von Kritikern und Fans sehr unterschiedlich aufgenommen wurde, jedoch großen Einfluss auf die bereits in den Startlöchern stehende Punkbewegung hatte.

Harmonia – Musik von Harmonia (Lilith, 1974)

Da die beiden Cluster Musiker Möbius und Roedelius als Duo wegen Unterbesetzung ihre Musik nicht live spielen konnten, wurden sie live von Rother an der Gitarre unterstützt. Wenig später wurden Neu! und Cluster aufs Eis gelegt um als Harmonia aufzunehmen.

Harmonia 76 – Tracks and Traces (Sony, 1998)

Nachdem Brian Eno Harmonia als „die bedeutendste Rockmusik, die gegenwärtig gemacht wird… die Musik der Zukunft“ lobte, nahm er mit ihnen 1976 gemeinsam in Forst ein Album auf, welches erst 20 Jahre später erschien.

Steve Shelley

Wir sitzen ein paar Minuten am Rande des Cateringbereiches Backstage auf einem größeren Festival mit Steve Shelley zusammen. Unter Zeitdruck vorm Neutronics DJ-Set beantwortet er unsere Fragen freundlich, aber knapp. Während des Gesprächs hält er seinen gefüllten Teller in der Hand und isst.

Erinnerst Du Dich daran, wann Du das erste Mal von Michaels Musik gehört hast? Neu!, Harmonia…

Neu! habe ich zuerst gehört und ich habe es sofort geliebt. Es war Mitte der 80er als ich bei Sonic Youth eingestiegen bin. Wir waren auf Tour in Deutschland und sind immer in Plattenläden gegangen um uns neue Bands anzuhören. Dabei haben wir auch Neu! entdeckt und haben es dann oft in unserem Van gehört, während wir um die Welt gefahren sind.

Denkst Du, dass Neu! ein Haupteinfluss für die New Yorker Post-Punk und Noise Szene waren?

Das weiß ich nicht. Es gab ein paar ausgewählte Leute, die Neu! mochten. Ich weiß nicht, ob es ein großer Einfluss war, aber zumindest wir und einige unserer Freunde haben Neu! abgefeiert.

Glaubst Du eigentlich, dass Deine Wahrnehmung von Krautrock eine andere war, da Du in einem völlig anderen Kontext aufgewachsen bist als in dem deutschen Nachkriegskontext, in dem die Musik entstanden ist?

Na klar, jeder macht andere Erfahrungen. Ich habe nicht im Nachkriegsdeutschland gelebt, ich bin hier nur mal als Besucher hingekommen. Für uns ist die Neu! Musik allerdings eher in einem Vakuum entstanden. Wir wussten nichts über die Szene, wir wussten nicht von der Verbindung zu Kraftwerk, wir wussten nichtmal von Harmonia, alles was wir kannten waren die drei Neu! Platten, die man besitzen musste.

Wie hast Du den ganzen anderen Kram in der pre-Internet-Ära kennengelernt?

Was man halt vor dem Internet gemacht hat. Man hat mit Leuten geredet, hat sich viel angehört, hat Tapes getauscht und Zeit in Plattenläden verbracht.

2010 sind Sonic Youth in einer ähnlichen Situation wie Neu!. Einerseits werdet Ihr als Haupteinfluss von vielen namhaften Künstlern genannt, andererseits sind diese heute viel bekannter und erfolgreicher als Ihr. Wie fühlt es sich an, die Person zu sein, die andere beeinflusst?

Da denke ich nicht wirklich drüber nach. Wer ist erfolgreicher als wir und wurde von uns beeinflusst?

Nirvana!

Ja, aber die sind keine Band mehr!

Das stimmt natürlich, trotzdem gibt es viele erfolgreiche Bands, die Sonic Youth als wichtigen Einfluss nennen.

Aber auch bei Nirvana ist unser Einfluss nicht nachweisbar, die mochten auch viel unterschiedliche Musik. Natürlich weiß ich, dass sowas passiert, aber das ist nichts, worüber ich jeden Tag nachdenke. Du machst keine Musik um darüber nachzudenken, wie einflussreich Du warst, Du versuchst nur etwas zu kreieren, was Du magst.

Wie ist es jetzt mit jemandem in einer Band zusammenzuspielen, den man bewundert und der aus einer Generation vor Dir stammt? Wie war es am Anfang und wie ist es jetzt?

Bisher haben wir nur fünf Shows gemeinsam gespielt, es ist immer noch neu für uns und dieses Wochenende spielen wir unser erstes Konzert in Deutschland. Es fühlt sich großartig an und offensichtlich war Michael ein Einfluss für mich. Es ist inspirierend seine Musik zu hören und mit ihm zu spielen.

Noch eine Frage abseits vom eigentlichen Thema. Einer unserer Trust Redakteure möchte wissen, wie es um Crucifucks steht, die Punkband, in der Du in den 80ern gespielt hast? Wird es eine Reunion geben?

Das denke ich nicht.

Ist es wirklich vorbei?

(lacht) Jetzt habe ich mich für eine Sekunde wie ein Beatle gefühlt. Ist es wirklich vorbei? Ja, ich habe in den letzten 27 Jahren nichts mehr mit ihnen gemacht. Es ist wirklich vorbei. Crucifucks, ist es wirklich vorbei? (lacht)

Ich frage, weil ich auf einer Crucifucks Seite im Netz, ich weiß nicht, ob die Seite von einem Fan oder von Euch selbst stammt, gelesen habe, dass sich die Band niemals wirklich aufgelöst hat.

Das habe ich jedenfalls nicht geschrieben, ich habe die Band definitiv verlassen. Das Lustige an der Frage ist aber auch, dass all diese Bands, die es damals mit Crucifucks gab, sich heute wieder zusammengetan haben und wieder spielen. Jetzt gibt es zwei neue Bücher über die Mid-West-Hardcore-Szene: „Why be something you’re not“ und die Zusammenstellung der „Touch & Go“ Fanzines. Wir waren keine Hardcoreband, aber all diese Bands wie Negative Approach oder Violent Apathy, ich kenne all diese Leute, spielen heute wieder. Es gab diese Band L7 aus Detroit, nicht die Frauen aus Kalifornien und ich werde nächstes Jahr von ihnen eine Anthologie herausbringen. Sie haben nur eine Single veröffentlicht und an einer Zusammenstellung arbeite ich derzeit. Crucifucks haben damals mit L7 zusammengespielt.

Letzte Frage: was war Deine letzte große musikalische Entdeckung, die letzte Platte, die Dich so richtig umgehauen hat?

Ich mag diese Band aus Chicago namens Disappears. Ich war in Chicago um mit einem Freund für ein Projekt [The High Confessions] Musik aufzunehmen und er hat mich auf ein Konzert der Band in einem kleinen Club mitgenommen. Die Band gibt es immer noch, ich habe mich mit ihnen angefreundet und sie haben ein Album auf Kranky Records. Es ist eine vierköpfige Band, die Rock’n’Roll spielt.

Fünf ausgewählte Alben von Steve Shelley

Crucifucks – The Crucifucks (Alternative Tentacles, 1985)

Frühe 80er Jahre Punkband, die nicht ganz unähnlich Dead Kennedys klangen. Passenderweise hat Jello Biafra ihre erste LP auf seinem Label Alternative Tentacles veröffentlicht.

Sonic Youth – Evol (SST Records, 1986)

Das dritte Sonic Youth Album und das erste für SST Records. Steve Shelley sitzt erstmals am Schlagzeug. Der Noise-Anteil der früheren Sachen ist zugunsten von mehr Rock gewichen.

Sonic Youth – Daydream Nation (Enigma / Blast First Records, 1988)

Das letzte Sonic Youth Album vor dem Majordeal mit Geffen gilt als eine der wichtigsten Alternativeplatten aus den 80ern und enthält erstmals mehrere lange Jamphasen. Ein must-have für jeden Leser dieses Magazins.

Cat Power – What Would the Community Think (Matador, 1996)

Das dritte und beste Album der Singer/Songwriterin Cat Power war das Debut auf Matador. Steve Shelley war sowohl als Drummer und als Produzent involviert, nachdem das Vorgängeralbum bereits auf seinem eigenen Label Smells Like Records erschienen war.

The High Confessions – Turning Lead Into Gold with The High Confessions (Relapse, 2010)

Aktuelles Projekt auf dem Metallabel Relapse Records. Steve Shelley mit Musikern von Ministry und Minsk, die ein düsteres, aber vielfältiges Postrock-Album aufgenommen haben.

Einleitung: Benni
Interview: Benni / Jan Tölva

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