Oktober 16th, 2017

GIRLS AGAINST BOYS (#95, 08-2002 )

Posted in interview by Jan

New York Trilogie

Eigentlich ist das ja alles Zufall. Ursprünglich war es ja gar nicht geplant, die drei Interviews mit Girls Against Boys, Radio 4 und den Liars zu dem zusammenzufassen, was ich nun etwas hochtrabend die „New York Trilogie“ (frei nach Paul Auster) genannt habe. Erst als alle Mosaikstücke zusammen waren, stellte sich heraus, dass das tatsächlich ein Bild ergibt, Sinn macht.
Dabei hätten Radio 4 schon irgendwann vergangenen Sommer in diesem Heft auftauchen sollen: Im Mai mailte ich die Band erstmals an, damals noch ganz unter dem Eindruck des tollen ersten Albums „The New Song And Dance“. Aber erst ein halbes Jahr später, bei meinem zweiten Kontaktversuch, bekam ich tatsächlich eine Antwort, musste aber den Text über drei Ausgaben hinweg schieben. Als ich Anthony Roman das erste Mal sprach, war gerade das neue Album „Gotham!“ fertig. „Das solltest du besser vorher hören, weil es ganz anders klingt“, so Anthonys Kommentar.

Leider brauchte die Platte sechs Wochen von New York bis nach Deutschland, und so wurde es April, bis wir endlich einen neuen Termin hatten. An eine neue Platte von Girls Against Boys war im vorigen Sommer noch gar nicht zu denken, auch wenn Sänger Scott McCloud damals bei der Show von New Wet Kojak optimistisch meinte, dass die Probleme mit ihrem alten Label in Kürze gelöst sein könnten. Was nicht ganz falsch war – ein Dreivierteljahr später wurde die neue Platte „You Cant Fight What You Cant See“ auf Jade Tree angekündigt. Dass das Interview nun zeitgleich mit dem Radio 4 Interview erscheinen konnte, lag an einem sehr spontanen Scott, der kurzfristig Zeit zu einem Gespräch hatte. Die offizielle Promo von ihrem deutschen Vertrieb Cargo war da noch gar nicht angelaufen, und vermutlich wird es noch ein bisschen dauern, bis ein Großteil der Presse Notiz davon nimmt, dass GVSB mit einem unglaublich guten neuen Album zurück sind.

Zwei Interviews machen aber noch kein Stimmungsbild von New York aus. Aber es war bald klar, dass die Liars mit ihrem famosen, auf Dauer immer besser wirkenden Album „They Threw Us All In A Trench And Stuck A Monument On Top Of It“ dazu gehören müssten. Dass das Interview stattfand, war dann aber doch Fügung – die Band schien abgetaucht zu sein, nachdem bekannt geworden war, dass sie von Gern Blandsten zu Mute wechseln würde. Ein gemeinsamer Bekannter vermittelte die E-mail-Adresse, doch statt der Band antwortete eine sichtlich desinteressierte, amerikanische Promoterin von Mute. „Wie groß ist denn das Heft? Vielleicht kann ich ja was für dich tun“, war der Kommentar.

Aber nur zwei Tage später stellte sich heraus, dass die Band im Rahmen ihrer Promotour einen kleinen Gig in Berlin spielen würde. Das soll es schon fast der Vorrede sein – zumal ja bei jedem einzelnen Interview noch eine weitere Einleitung zu lesen ist. Aber die Frage, warum die drei Texte hier zusammengefasst sind, wurde noch nicht beantwortet. Aber das ist relativ leicht zu erklären: Ich kann mich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal innerhalb so kurzer Zeit drei Alben aus New York erschienen sind, die mir so wichtig waren. Das muss vermutlich irgendwann Anfang der Neunziger gewesen sein, als Rorschach (die ja eigentlich nicht aus NY kommen) und ähnliche Bands Platten herausbrachten.

So gesehen ist es ja ein amüsanter Zufall, dass wiederum Gern Blandsten für einen Teil dieser Alben verantwortlich ist. Darüber hinaus kann es gut sein, dass hier mal wieder eine neue, ziemlich interessante Szene entsteht. So sehr Radio 4 und Liars persönlich miteinander verbunden sind, so nahe sind sich Radio 4 und Girls Against Boys musikalisch. Das bedeutet nicht, dass die Bands unbedingt gleich klingen müssten – aber der Zugang zur Musik, die Lust, irgendso etwas wie Punk mit anderen Elementen zu mischen, ist sehr ähnlich. Und vermutlich dürfte derjenige, der eine von den drei Platten kennt, genauso auch die anderen mögen.

Aber natürlich gibt es auch Unterschiede: GVSB sind die Band, deren beste Zeit schon lange zurückzuliegen schien. Radio 4 sind noch relativ unentdeckt, was sich aber bald ändern könnte. Bei den Liars braucht es keinen Propheten, um vorauszusagen, wie schnell die Band every indie rockers darling werden wird. Dafür dürfte schon die Tour im Juli mit Sonic Youth sorgen. Wir werden es sehen.

Teil 1. Girls Against Boys

Mal ehrlich: Wer hätte vor ein, zwei Jahren noch einen Pfifferling auf Girls Against Boys gegeben? Die Band schien verbraucht, nachdem das verhältnismäßig schwache, weil zu dance-lastige Album „Freakonica“ erschienen war und anschließend die Probleme mit ihrem Label Geffen begannen. Dementsprechend war es lange Zeit still um Scott McCloud und die anderen geworden. Das Seitenprojekt New Wet Kojak ließ im kleineren Rahmen aufhorchen; Johnny Temple machte außerdem seinen Buchverlag Akashic – das war es wohl.

Aber man sollte sich nicht täuschen lassen – jetzt, wo das neue Album „You Cant Fight What You Cant See“ erschienen ist, zeigt sich, dass GVSB womöglich besser denn je sind. „You Cant Fight…“ ist weit mehr Rock, hat viel mehr scharfe Bässe und den prägnanten Gesang Scotts. Oder einfach: Es ist ein unglaublich gutes Album geworden. Und so könnte die Band durchaus als role model für das durchgehen, was hier als moderner Sound New Yorks zusammengefasst ist. Aber fragen wir Scott…

Lass uns doch erst einmal darüber reden, was damals mit Geffen passiert ist. Ihr habt ja „Freakonica“ gemacht, dann passierte jahrelang nichts, und nun seid ihr auf Jade Tree.

Scott: Die Geschichte ist eigentlich nichts besonderes, das Gleiche ist vielen Bands passiert. Geffen brachten die Platte heraus, dann kamen Universal, schlossen Geffen und machten das Label sechs Monate später wieder auf. Sie hatten ihr Interesse an uns verloren, wollten uns aber auch nicht gehen lassen. Sie wollten, dass wir immer wieder neue Demos machen sollten. Insgesamt machten wir drei Demos, aber wir wussten nicht mal, ob sie die überhaupt bekommen haben. Unser Manager konnte das nicht herausfinden, weil sie nicht mehr auf unsere Anrufe reagierten. Wir erfuhren auch nicht, ob sie die Demos vielleicht einfach nicht gut genug fanden. Wir hätten fast rechtliche Schritte eingelegt, was wir vielleicht schon viel früher hätten tun sollen. Wenn man gerade einen Vertrag unterschrieben hat, denkt man, dass man so intelligent war, einen guten Vertrag zu unterschrieben. Aber wenn man keinen Erfolg hat, ist der Vertrag schlichtweg nichts wert. Also dauerte es drei Jahre, bis wir da raus kamen.

Ich erinnere mich, dass Joe Strummer erzählte, er hätte jahrelang einfach nichts gemacht, bis Epic ihn gehen ließen, weil sie dachten, er sei jetzt uninteresant. Und diese Band Spider Virus, die ich kürzlich interviewt habe, erzählten mir, dass sie aus ihrem Vertrag nur deswegen kamen, weil ihr Label unerlaubt einen Song für einen Soundtrack verwendete.

Scott: In unserem Vertrag stand nicht einmal, dass wir erst Demos abliefern müssen. Wir brauchten ohnehin ein Jahr, bis wir bereit waren, neue Lieder aufzunehmen. Sie forderten also ein Demo, wir machten es. Aber nichts passierte. Also entschieden wir uns, ihnen einen Brief zu schicken, in dem wir sie aufforderten, uns entweder innerhalb von 30 Tagen aus unserem Vertrag zu lassen oder uns das Geld für eine Platte zu geben. Das fanden sie nicht sehr witzig, aber sie entschieden sich, nichts gegen uns zu unternehmen. Es hätte auch sehr unangenehm werden können, wenn sie einen Prozess gegen uns angestrengt hätten. Aber wir machten uns nicht so große Sorgen, weil unser Vertrag eigentlich aussagte, dass wir komplette kreative Kontrolle haben würden. Und den Passus hatten sie bereits verletzt. Wir hätten einen Prozess vermutlich gewonnen, allerdings hätten wir uns wohl nicht leisten können, ihn zu führen.

Das hätte das Ende der Band bedeutet, weil eure Sachen weitere Jahre auf Eis gelegen hätten, vermute ich.

Scott: Das mag schon sein. Sie wollen, dass du einen Hit schreibst oder dich auflöst. Wenn sich die Band aufgelöst hätte, hätten sie keine Rechte mehr gehabt. Darauf warten sie ja: Wenn du einen Hit hast, verdienen sie daran, wenn du keinen hast, wollen sie, dass sich die Band auflöst, weil sie kein Geld mehr investieren können.

Du hast mir damals „Die Gesellschaft des Spektakels“ von Guy Debord empfohlen. Das Buch passt ja wunderbar zu eurer Situation, hast du es entdeckt, als die Sache problematisch wurde?

Scott: Ich glaube, dass ich das Buch gelesen habe, als wir einige der Lieder schrieben, die wir für Geffen aufnahmen, die dann aber dort nicht mehr erschienen sind. Aber ich hatte es ursprünglich angefangen, als wir mal auf eine längere Tour gingen.

Ich fand diesen Satz „Was erscheint, ist gut, und was gut ist, erscheint“ bemerkenswert. An solche Sachen glauben Plattenfirmen ja offensichtlich. Weil ihr keinen Hit hattet, konntet ihr folglich nicht gut genug sein. Die Logik schimmert durch.

Scott: Natürlich, aber letztlich ist das ja überall in der Konsumwelt so.

War das nun ein Fehler, Teil des großen Business zu werden zu wollen?

Scott: Keine Ahnung. Die Frage ist schwer zu beantworten, weil ich natürlich nicht sagen kann, was passiert wäre, wenn wir das nicht gemacht hätte. Vielleicht wäre die Band heute nicht mehr zusammen, wenn wir das nicht gemacht hätten.

Ihr habt das Album „You Cant Fight, What You Cant See“ genannt. Und das ist doch bestimmt ein Kommentar zu euren Erlebnissen.

Scott: Das ist ein Ausdruck, der sehr viele Interpretationen hat. Der Satz ist natürlich sehr Guy Debord. Er schrieb ja nicht nur über Medien, sondern über Ökonomie als ganzes. Dass die Wirtschaft die Gesellschaft bestimmt.

Ein Punkt seines Buchs ist ja, dass Unternehmen ein Bedürfnis wecken wollen, damit bestimmte Produkte konsumiert werden. Habt ihr geglaubt, dass Girls Against Boys solch ein Bedürfnis wecken würde? Scott: Man kreiiert einen Wunsch, etwas zu konsumieren, genau. Was Girls Against Boys angeht: Wir dachten natürlich, wir wären intelligenter, aber letztlich waren wir so naiv wie alle anderen auch. Wir haben natürlich gehofft, dass wir 200.000 Platten verkaufen würden und immer weiter machen könnten. Wie die Flaming Lips oder Sonic Youth, bei denen ich ganz ehrlich nicht weiß, warum ihre Label sie behalten, weil sie nichts an ihnen verdienen können.

War das hilfreich, dass du mit Johnny neben New Wet Kojak machst und dass er noch Akashic Books hat? Konntet ihr Girls Against Boys für eine Weile ruhen lassen, weil ihr genügend andere Dinge hattet, mit denen ihr euch beschäftigen konntet?

Scott: Vermutlich hätten wir es sowieso getan. Das gilt auf jeden Fall für New Wet Kojak, weil ich damit begonnen hatte, noch bevor wir überhaupt den Vertrag unterschrieben habe. Nach „Freakonica“ waren wir neun Monate auf Tour, insofern war es befreiend, dass wir das erste Jahr danach einfach eine Pause machen konnten. Von 1995 bis 1997 oder 1998 waren wir kaum noch Zuhause, insofern war es erst einmal angenehm.

Also sind diese anderen Projekte insofern hilfreich, weil ihr Abstand nehmen könnt und euch nicht auf etwas konzentriert und euch dann zerstreitet?

Scott: Auf alle Fälle. Es ist einfach gesund, zumal ich wahnsinnig geworden wäre, wenn ich vier Jahre lang nichts mit meiner Band hätte machen können. Girls Against Boys ist eindeutig das Wichtigste für uns, insofern wurden wir natürlich wütend und haben die ganze Zeit über gekämpft. Und wir waren kurz davor, uns aufzulösen, auch wenn wir nie darüber geredet haben.

Kann ich verstehen, weil es viel einfacher gewesen wäre. Aber es wäre auch sowas wie Aufgeben gewesen.

Scott: Eben. Es gibt eine Menge Klischees, was man dann machen kann. Für uns war eben die Option, diese Platte zu machen und zu sehen, was passiert.

War Jade Tree das einzige Label, das in Frage kam?

Scott: Es standen mehrere zur Auswahl. Aber Tim Owen von Jade Tree meldete sich bei uns ungefähr zu dem Zeitpunkt, als wir aus unserem Vertrag waren. Sein Enthusiasmus war einfach klasse.

Die Lieder sind neu, oder sind das ältere Titel?

Scott: Im Prinzip sind einige älter, sie waren auf den Demos. Wir haben aber alle Songs jetzt erst aufgenommen, und ich verändere Lieder ohnehin sehr gerne, schreibe die Texte neu und so.

Ich fand es interessant, dass ihr auf „Freakonica“ sehr komplexe Sachen mit viel Elektronik und Keyboards benutzt, während „You Cant Fight“ vor allem rockt. Außerdem hat Ted Niceley diesmal wieder produziert. Es ist ungefähr so, als hättet ihr was anderes probiert und kehrt nun zu einem bestimmten Punkt zurück, auf den ihr euch konzentriert.

Scott: Nachdem wir mit „Freakonica“ auf Tour gewesen waren, wollten wir alle vor allem ein Rockalbum machen, über das wir nicht so viel nachdenken mussten. „Freakonica“ hat uns Kopfschmerzen bereitet als wir das Album aufnahmen, weil wir ehrlich gesagt versuchten, ein paar Kanten abzuschleifen. Wir wollten etwas poppiger werden, um zu sehen, was passiert. Aber uns war sofort klar, dass die nächste Platte mehr Rock sein sollte. Wie gesagt, einige der Lieder waren schon auf den Demos.

Einige der Songs sind aber richtige Hits. „Kicking The Lights“ zum Beispiel, was sehr melodiös ist.

Scott: Ja, aber ich nehme an, dass sie darüber nicht nachgedacht haben. Sie gehen halt von einer hippen Sache zur nächsten. Und wenn du keinen A&R-Manager hast, der hinter dir steht, bist du verloren, wenn du nicht gleich einen Hit hast.

„Freakonica“ wirkt auf alle Fälle sehr Kopf lastig, während die neue Platte eher aus dem Bauch heraus kommt. Seid ihr mit genau diesem Plan ins Studio gegangen?

Scott: Ja, genau. Das war auch eine Herausforderung. Ob du nun Musik poppiger machen willst oder rockiger, ob du eine eigene Ästhetik entwickeln willst, das braucht alles seine Zeit und ist echte Arbeit. Und diesmal wollten wir uns keine Gedanken machen über die Platte, sondern einfach nur rocken. Man muss einfach seinen Instinkten vertrauen und die Musik werden lassen.

Hattet ihr je Angst, dass Girls Against Boys vergessen gehen könnten?

Scott: Natürlich. Wir dachten schon, dass sich niemad an uns erinnern würde. Aber was sollten wir auch tun? Mehr als vier Jahre lang keine Platte zu machen, ist eine verdammt lange Zeit. Und ich nehme an, dass es in Europa noch länger her ist, dass man uns bemerkte, weil sie dort vermutlich extrem wenig für uns taten. Wir waren vor fünf Jahren zum letzten Mal in Europa-Tour.

Themenwechsel: Ich hab dir ja gesagt, dass ich dieses Interview in einen Kontext mit Interviews mit Radio 4 und Liars, zwei weiteren New Yorker Bands, bringen will. Gibt es also eine Szene in New York mit Bands wie euch?

Scott: Natürlich ist die Stadt so groß, dass es selbst in einem bestimmten Musikgenre viele verschiedene Szenen gibt. Aber ganz offensichtlich gibt es hier in New York wieder dieses Rockding zurzeit. Die Liars sind natürlich viel jünger als wir, aber ihr Zugang ist ähnlich. Diese Rockszene gibt es eindeutig wegen der Strokes. Das ist ein Phänomen zurzeit, aber es ist auch hilfreich, weil junge Leute sich wieder für Rockmusik interessieren. Es gibt viele neue Bands und so. Ich will jetzt aber nicht sagen, dass die Strokes das verursacht haben. Solche Sachen kommen ja immer wieder. Zurzeit gibt es viele neue Bands in Williamsburg, auf der anderen Seite des Flusses. Das war immer eine billigere Nachbarschaft, auch wenn es zurzeit mehr Yuppie-haft wird. Aber man müsste vermutlich ein Soziologe sein, um herauszufinden, warum sich junge Leute heute mehr für Rock interessieren als noch vor fünf Jahren.

Ist eure Musik beeinflusst durch New York? Oder ist das einfach eure Musik, unabhängig davon, ob ihr in New York oder sonstwo wohnen würdet?

Scott: Wir sind definitiv durch die Stadt beeinflusst. Immer schon. Unsere Musik hat so einen „night time vibe“, den man als Tribut an die Stadt bezeichnen können.

So eine Antwort hatte ich erwartet, wobei die mehr noch für New Wet Kojak gelten dürfte.

Scott: Ja, auf alle Fälle.

Dann erzähl mir zum Abschluss doch noch, was deine Pläne jetzt sind. Du hattest was von einer neuen New Wet Kojak Platte erzählt.

Scott: Ja, irgendwann zwischendurch, wobei ich noch nicht weiß, wann die erscheinen soll. Irgendwann im Herbst, nehme ich an. Wir haben jetzt angefangen, auf Tour zu gehen, werden im Juni in Australien unterwegs sein. Und wir wollen im Herbst nach Europa kommen. Aber jetzt bin ich erstmal gespannt, wie unsere Platte ankommt.

Interview: Dietmar Stork

Teil 2: Radio 4

Man sollte niemals eine Einleitung schreiben, bevor man das zugehörige Interview gemacht hat. Gut und gerne 7000 Zeichen war der Text lang, den ich im vergangenen November geschrieben hatte, nachdem ich zumindest begründete Hoffnungen hatte, dass nun endlich das Interview mit Radio 4 zustande kommen würde. 7000 Zeichen, das ist schon ein ziemlich langer Text, der sich vor allem darum drehte, wie ich vor gut und gerne 15 Jahren Joe Jackson mochte, seine Musik vergaß, sie wieder hervorkramte und Parallelen in „The New Song And Dance“ von Radio 4 entdeckte.

Doch als ich Anthony Roman, einen der Sänger, dann am Telefon hatte, wies er darauf hin, dass ich doch besser erst einmal das neue, gerade abgemischte Album hören sollte, bevor wir vor allem über Achtzigerjahre-Powerpop reden könnten. Er hatte Recht – und die ganze Arbeit war hin. Denn so sehr das Debüt der Band eine Hommage an die Zeiten von Gang Of Four oder Joe Jackson war, so zeitgemäß und eigenständig ist „Gotham!“, die gerade erschienene neue Platte. Genauso rockig wie tanzbar, voller Noise und melodiöser Keyboard-Klänge. Trotzdem: Mehr als jede andere Band stellen Radio 4 eine Möglichkeit dar, wie man sich aus dem starren Korsett dessen, was sich Hardcore nennt, befreien kann. Immerhin waren Teile von Radio 4 vorher bei Garden Variety tätig. Noch ist es etwas schwieriger, Radio 4 zu entdecken, aber es lohnt sich.

Ich hab dir damals, bevor ich das zweite Album gehört habe, eine ganze Liste an Fragen gemailt, aber die sind zum größten Teil veraltet. Trotzdem will ich dir ein paar davon noch stellen. Was ich nämlich sehr bemerkenswert fand, war, dass ich fast die ganzen Neunziger hindurch sehr viel Hardcore gehört habe. Irgendwann 99 oder so verlor ich ein gewisses Interesse, weil sich alles nur noch wiederholte. Und plötzlich interessierte mich Joe Jackson wieder, den ich irgendwann in den Achtzigern sehr mochte, aber den ich aus den Augen verloren hatte. Und plötzlich war da euer erstes Album „The New Song And Dance“, das da genau reinpasste. Ihr müsst doch eine ähnliche Entwicklung gemacht haben…

Anthony: Stimmt. Ich meine, ich mochte nie wirklich New York Hardcore, diese gewalttätige Striaght-Edge- und Revelation-Szene damals. Mir waren Bands wie Merel, Rorschach und Born Against wichtig, die Szene rund um das ABC No Rio. Auch meine alte Band Garden Variety spielte dort. Bands wie Rorschach und Born Against waren einfach großartig, eine wichtige Inspiration, selbst wenn sie musikalisch zumindest für uns kein Einfluss war. Es ging einfach um ihre Einstellung. Dann kamen Bands wie Jawbreaker, was eindeutig eine gute Zeit für Hardcore war.

Ich kann das nachvollziehen. Ich besitze nicht eine Platte von Sick Of It All oder Youth Of Today, aber denke, dass Rorschach definitiv eine der großartigsten Hardcore-Bands waren. Jedenfalls: Ich hatte das Gefühl, dass Melodien plötzlich wieder wichtiger werden, gute Songs. Wie war das denn für euch, als ihr angefangen habt?

Anthony: Als wir Radio 4 starteten, waren Emo und Indierock schon längst selbst in einer Ecke angelangt. Gang Of Four, Post-Punk aus den späten Siebzigern – solche Sachen waren wichtiger für uns. Wir wollten was machen, was sehr rhythmisch war und ganz anders als die Sachen, die damals in New York liefen. Mittlerweile gibt es ne Menge Bands, die etwas ähnliches versuchen. Aber damals waren die Reaktionen nicht besonders, es dauerte eine ganze Weile, bis wir Leute für unsere Musik interessieren konnten. Es gab durchaus Leute, die es gut fanden. Andere waren sicherlich enttäuscht, weil sie hofften, dass wir wie Garden Variety klingen würden.

Euer erstes Album ist ja eher so etwas wie eine Hommage an die frühen Siebziger oder frühen Achtziger. Dementsprechend war ich etwas skeptisch, als du mir damals sagtest, die neue Platte würde mehr „zeitgenössisch“ klingen. Aber jetzt, wo ich Gotham! kenne, macht das Sinn. Vermutlich wärt ihr ebenfalls in einer Nische ohne Ausweg gelandet, hättet ihr das gleiche Album nochmal abgeliefert.

Anthony: Das hätte keinen Sinn gemacht. Aber die Band bestand damals auch erst sieben Monate. „The New Song And Dance“ war insofern eher eine Sammlung von Liedern, die wir geschrieben hatten, als wir uns noch aneinander gewöhnen mussten. „Gotham!“ ist weit mehr eine Platte, die diese Post-Punk-Einflüsse nimmt und wo wir auch noch neuere Dinge eingebaut haben.

War die neue Platte auch eine Reaktion darauf, dass Postpunk ja mittlerweile fast genauso groß ist wie Emo?

Anthony: Nein, so würde ich das nicht sagen. Es war nicht wirklich eine Reaktion. Die Platte entspricht schon dem, wohin wir uns damals entwickelten. Wir haben das Album ja mit Tim Goldsworthy und James Murphy aufgenommen. Tim war in U.N.K.L.E., hatte also einen elektronischen Hintergrund. Und das wollten wir auch in unserer Musik haben. Das Album sollte tanzbarer und moderner sein.

Ohne mich einschleimen zu wollen: Ich finde bei „The New Song And Dance“ seid ihr 20 Jahre zurückgegangen, um nun wieder in die Jetztzeit zu kommen und ein sehr originelles Album zu machen.

Anthony: Ich hoffe, dass das so ist. Ein paar Leute haben das auch schon gesagt. Ich denke, die Platte klingt nach uns. „Gotham!“ klingt nach Radio 4, was für „The New Song And Dance“ noch nicht galt. Aber das war auch logisch, wir hatten damals ja noch gar nicht die Zeit, eine eigene Identität zu entwickelten. Die Platte klingt eben so, wie drei Leute, die gerade angefangen haben, zusammen Musik zu machen. Wir sind danach dreimal durch die USA getourt, wir verstanden uns viel besser.

Ich will jetzt das aber auch nicht so verstanden wissen, dass ich „The New Song And Dance“ schlecht fände. Ich habe das Album sehr häufig gehört. Immerhin bin ich deswegen auf euch zugekommen und wollte ein Interview machen.

Anthony: Ich weiß schon, was du meinst. Aber es gibt auch viel mehr Gründe, über das neue Album zu sprechen als über das erste. Die Reaktionen sind positiver, wir fühlen uns besser und sind zufriedener. Beim Debüt wollten wir vor allem dokumentieren, wie die Lieder klingen.

Du hast gesagt, ihr wollt mehr Dancefloor-Einflüsse in die Musik holen. Ich fand es ja sehr amüsant, dass ausgerechnet das Lied „New Disco“ der Noiserocker auf der Platte ist. Während „Pipe Bomb“ nicht krachig ist, sondern Dub. Interessante Titel sind das…

Anthony: Ne Menge Leute haben gedacht, dass „New Disco“ ein House-Song ist. „New Disco“ ist insofern interessant, weil ich vorher im „Time Out“ einen Artikel über Chicks On Speed gelesen hatte. Ich kannte die nicht, aber schrieb dann einfach einen Song, der so klingen sollte, wie ich mir den Sound von Chicks On Speed anhand des Artikels vorstellte. Als ich sie dann hörte, stellte ich natürlich fest, dass sie ganz anders waren. Aber ich mag sie. Ich hab irgendwo gelesen, dass Thom Yorke von Radiohead gesagt hat, eine Song zu schreiben sei wie „zielen und nicht zu treffen“. Das stimmt zu nem gewissen Grad.

Werden denn eure Songs in der Disco gespielt?

Anthony: Ja, tatsächlich. „Dance To The Underground“, der Song von der EP zwischen den beiden Alben, wird oft gespielt.

Bei dem Song kann ich es mir auch gut vorstellen. Beim neuen Album dürfte es wohl „Save Your City“ sein.

Anthony: Das denke ich auch. Das scheint tanzbarer zu sein. Aber es gibt noch ein paar mehr Lieder, die in einer Disco funktionieren könnten. Wir sehen ja, wenn die Leute zu den Songs tanzen. Wie macht ihr das denn nun live? Ihr braucht doch mindestens einen Keyboarder. Anthony: Wir haben jetzt einen Keyboarder und einen Percussionisten in die Band geholt. Lieder wie „Struggle“, „Calling All Enthusiasts“ und so haben live jetzt Conga-Parts. Wir haben versucht, live so nah wie möglich an die Platte heranzukommen. Es gibt auf dem Album allerdings auch sehr viele Loops, die live nicht vorkommen.

Wie habt ihr denn überhaupt eure Produzenten kennen gelernt?

Anthony: Wir haben eine Menge rumgefragt, wer denn wohl ein Dance-Album aus einer Rockperspektive machen könnte. Jeder sagte uns, wir sollten Tim und James fragen. Also trafen wir uns mit ihnen, sie spielten uns ein paar ihrer Sachen vor, und wir stellten fest, dass wir alle ähnliche Vorstellungen hatten.

Ich hab gelesen, dass ihr die Vorproduktion gemacht habt. Wie klangen denn die Lieder, bevor sie dazugekommen sind?

Anthony: Sie waren schon recht ähnlich. Wir hatten damals schon den Percussionisten in der Band, und ich habe Keyboards gespielt. James und Tim haben dann all die Loops und all diese seltsamen Dinge in die Musik gebracht. Wir haben allerdings vorher schon in dem Bewusstsein aufgenommen, dass genau das mit den Liedern passieren sollte. Wir hatten schon das Konzept für die Platte im Kopf.

Ich fand das ziemlich spannend, wie ihr in „Our Town“ nette Keyboards-Parts genommen habt und immer Gitarren-Noise als Störgeräusche dazwischen packt. Ich fand diese Idee, die Gegensätze zusammen zu packen, sehr spannend.

Anthony: Tim ist wohl eher derjenige, der elektronische Elemente mag, während James eher als Punkrocker durchgeht. Daher der Kontrast, den wir auch unbedingt in der Musik haben wollten. Wir wollten krachige Gitarren und tanzbare Teile verbinden.

„Gotham!“ ist eine sehr politische Platte, wenn ich das richtig verstanden habe.

Anthony: Nicht übertrieben politisch, aber ja, das Album ist schon politisch. Viel bezieht sich auf New York, aber es gibt auch nationale Themen. „Start A Fire“ zum Beispiel, das sich um das Desinteresse unserer momentanen Regierung am Aidsproblem dreht. Es ist vollkommen verschwunden aus den Nachrichten, niemand kümmert sich darum, aber es ist immer noch ein großes Problem, zumal hier in New York. Früher war das solch ein wichtiges Thema und heute interessiert sich keiner mehr dafür. Die Leute denken vermutlich, dass es Aids gar nicht mehr gibt.

Ihr habt New York gleich dreimal in Titeln erwähnt: Das Album heißt „Gotham!“, dann gibt es „Save Your City“ und schließlich „Our Town“. Denkst du, dass ihr eine sehr durch New York beeinflusste Platte gemacht habt?

Anthony: Auf alle Fälle. Natürlich ist New York immer noch dieser Schmleztiegel der verschiedenen Kulturen. Es gibt eine Menge Rock, Punk und Dancefloor, und das ist alles nicht so weit von einander entfernt. Dann hast du jede Menge Reggae-Bands, Latin und so – gerade hier in Brooklyn. Das gibt es in vielen größeren Städten, in London selbstverständlich auch. Durch so etwas entstehen Bands wie The Clash. Ich glaube nicht, dass wir so klingen würden, wenn wir aus dem mittleren Westen stammen würden. Außerdem hört man hier sehr schnell, was es Neues gibt. Das soll nicht heißen, dass solche Musik nicht auch aus dem Mittleren Westen kommen könnte. Aber für uns persönlich sind all diese Einflüsse sehr wichtig.

Das Gegenkonzept ist ja, dass man irgendwo in der Einöde lebt und etwas Originelles schafft, gerade weil man nicht durch so viel anderes beeinflusst ist.

Anthony: Klar. Aber das trifft auf alle Fälle nicht auf uns zu.

Ich hab dir ja erzählt, dass ich dieses Interview zusammen mit welchen mit Girls Against Boys und den Liars veröffentlichen will. Insofern interessiert es mich natürlich, ob es so etwas wie eine richtige Punkszene in New York gibt, in denen ihr euch bewegt.

Anthony: Das ist die große Frage zurzeit. Es gab ja schon Artikel in Spin und im Rolling Stone über die „Szene in New York“. Offensichtlich gibt es eine Szene, aber keiner Band war das bewusst, bis Journalisten darüber schrieben. Es gibt eben Bands, die regelmäßig zusammen auftreten, wie die Liars, Rapture und so. Es gibt auf alle Fälle mehr Bands, mit denen man auftreten kann. Und offenbar gibt es auch ne Menge neuer Läden. Also gibt es eine Szene, aber man realisiert das nicht, weil man mittendrin ist. Vor zwei Jahren hat mich niemand nach einer neuen Szene gefragt.

Ich bin kein Strokes-Fan, muss ich sagen. Ich finde sie nicht gerade originell.

Anthony: Das stimmt, aber man muss zugeben, dass sie es geschafft haben, Aufmerksamkeit auf New York zu lenken. Sie sind eindeutig kein Teil der Szene, weil sie einfach zu groß sind. Sie existieren außerhalb davon.

Für mich war es einfach nur so, dass die interessantesten Platten, die ich bekommen habe, zufällig alle aus New York stammen. Und das sind eben euer Album, das von Girls Against Boys und das von den Liars. Deswegen wollte ich auch diese drei Interviews zusammenpacken. Aber ich sehe auch eine Verbindung zwischen diesen Bands.

Anthony: Wobei ich bezweifle, dass Girls Against Boys wissen, wer wir sind…

Scott hat mir erzählt, dass er euren Namen kannte, aber nicht eure Musik… Ich denke auch, dass ihr in musikalischer Hinsicht besser zu Girls Against Boys als zu Liars passt.

Anthony: Ja, aber wir sind natürlich mit den Liars befreundet. Sie leben im selben Block wie wir. GVSB waren so viel größer damals, sie waren auch kein Teil der Szene. Sie spielten in den richtig großen Clubs. Aber es sieht so aus, als ob jetzt alles zusammenwächst.

Ihr seid auf Gern Blandsten. Ich nehme an, dass Charles, der das Label macht, eine ähnliche Entwicklung hinter sich hat wie ihr. Er machte Hardcore und jetzt sind Bands wie ihr, HipHop-Sachen und so auf seinem Label.

Anthony: Ich glaube, dass man einfach weiter nach vorne gehen und neue Dinge integrieren muss in das, was man tut. Sei es dein Label oder deine Band. Ich würde schon noch sagen, dass Charles und wir all unsere Sachen unter dem großen Schirm „Punkrock“ vereinen können – aber natürlich in einem Sinne, wo man Punk nicht richtig definieren kann. Gern Blandsten ist ein Punkrock-Label, auch wenn er nicht unbedingt Punk veröffentlicht. Die Idee ist eben ähnlich.

Ich verstehe voll und ganz, was du meinst. Ich hab die Diskussion, dass ich zu hören bekomme, ich sei ja nicht mehr Hardcore. Aber ich hab noch die gleichen Ideen, ich mag nur nicht immer die gleiche Musik zu hören. Ist das bei euch ähnlich?

Anthony: Dann verstehst du, was ich meine. Es macht keinen Sinn für Charles, zehn Jahre lang Bands zu veröffentlichen, die nach Born Against oder Rorschach klingen. Und es würde für uns keinen Sinn machen, zehn Jahre lang Platten aufzunehmen, die nach Garden Variety klingen. Aber die Ästhetik dahinter ist noch sehr ähnlich.

Habt ihr das Gefühl, dass ihr nun auch wachsen solltet? So wie die Liars?

Anthony: Wohin? Zu einem anderen Label? Das ist auch so eine Frage, die zurzeit viel gestellt wird. „Gotham!“ ist erst eine Woche raus, insofern kann ich dazu noch nichts sagen. Es ist doch viel angenehmer, 20.000 Platten auf Gern Blandsten zu veröffentlichen als 820 auf einem Major. Ich will zwar nicht sagen, dass ich darüber nicht nachdenken mag, aber ich will es wirklich nicht. Charles unterstützt uns so viel, dass es für uns beide gut sein muss. Wir müssen auf alle Fälle zusehen, dass wir die Platte in Europa lizensiert bekommen. Da stimmt uns Charles auch voll zu. Es ist also ein bisschen mehr Arbeit, aber dafür können wir tun und lassen, was wir wollen.

Direkt nachdem „Gotham!“ aufgenommen war, trafen wir uns mit einem Majorlabel. Es dauerte zehn Minuten, bis sie uns fragten, ob wir nicht „Save Your City“ neu abmischen wollten. Wir hatten die Platte gerade fertig, und sie wollten schon wieder alles verändern. Mit Charles würde uns das nicht passieren. Wir haben ihnen erklärt, dass wir dazu eigentlich keine Lust haben, zumal der Typ, den sie uns vorschlugen, normalerweise so Sachen wie Stone Temple Pilots und so macht. Also Bands, die uns nicht interessieren. Sie wussten absolut nicht, woher wir kommen. Wie sollte das dann laufen?

Ich finde es etwas verwirrend, dass Mute nun die Liars-Platte nochmal veröffentlichen und behaupten, die Platte sei vorher nur als limitierte Version erschienen…

Anthony: …frag mich lieber nicht nach den Liars. Ich bin da mittendrin, weil ich mit Charles und mit den Liars befreundet bin.

Text: Dietmar Stork

Teil 3: LIARS

LIARS Am Anfang war da diese kleine Band. „Haben eine Platte auf Gern Blandsten rausgebracht und gehen so in Richtung P.I.L.“, hieß es relativ lapidar in einer Mail, als mir angekündigt wurde, dass die Liars zusammen mit Sunshine in diesem Frühjahr auf Tour gehen würden. Aber gerade, als die ersten beeindruckenden Texte über die Band ins Haus kamen, hatte die Band auch schon wieder die Tour gecancelt. Sie seien nun bei Mute geland und würden demnächst mit Jon Spencer auf Tour kommen. Oder mit Nick Cave. Was passierte? Nichts. Funkstille – selbst Bekannte der Band hörten nichts mehr von ihnen. Jedenfalls bis zu der Woche, als ich dann per Mail versuchte, Kontakt aufzunehmen.

Und zufällig zwei Tage später hörte, dass die Band ohnehin in Deutschland auf Promotour sein und dabei einen Gig in Berlin spielen würde; zufällig genau zwei Tage nach dem geplanten Auftritt mit Sunshine. Dass an diesem Abend nicht nur die üblichen desinteressierten Journalisten da waren, zeugt davon, dass sich schon herumgesprochen hat, was für eine Band da auf uns zukommt (die, um jede Verwechslung auszuschließen, nichts mit den schlechten Metalcorelern von Liar zu tun haben). Und jetzt hat die Band auch ihre große Tour – mit Sonic Youth im Juli. Aber im April war Gitarrist Aaron überhaupt erstmal überwältigt, welches Interesse an der Band herrscht.

Daran wird er sich gewöhnen dürfen, denn Mute werden einiges in die Liars stecken. Und vermutlich macht es für die Band deshalb auch Sinn, dass sie „They Threw Us All In A Trench And Stuck A Monument On Top“ jetzt nochmal wiederveröffentlichen, obwohl die Platte erst im Herbst auf Gern Blandsten erschienen ist. Zwischen Charles von Gern Blandsten und der Band ist deswegen mitterweile wohl so manches böses Wort gesprochen worden; aber das ist eine Sache, die sich von außen schwer beurteilen lässt.

Wie ist es denn nun in Europa?

Oh, es ist schon wie ein Traum, der wahr wird. Ich hab früher in einer Hardcore-Band gespielt, und auch die anderen hatten ihre eigenen Projekte – da war es für jeden das ultimative Ziel, nach Europa zu kommen. Ich hatte nie geglaubt, dass ich das schaffen würde, und nun guck ich auf mein Instrument und denkte „wow, das hat mich aus Amerika gebracht“. Und nun kommen wir nach Paris, Berlin und London, wobei die Stadt nicht so besonders aufregend ist. Diese Interviews sind natürlich bizarr – wir kommen sogar ins Fernsehen und so. Aber natürlich ist das für Mute sehr wichtig. Die Leute haben unseren Namen schon mal gehört, wenn sie im Laden die Platte stehen sehen. Und wir können dadurch die Musik machen, die wir wollen. Dieses Viva plus Interview war natürlich ziemlich schlecht, die haben uns hingestellt und uns geagt, wir sollten reden, worüber wir wollen. Wir sind nicht unbedingt sehr extrovertiert…

Denkst du, dass ihr jetzt – mit Mute im Hintergrund – Interviewer bekommt, die eigentlich keine Ahnung haben?

Klar, die vom Fernsehen haben definitiv keine Ahnung und bekommen entsprechend dumme Antworten. Aber es gibt Leute, die sich schon mit unserer Musik auskennen.

Okay, Themenwechsel. Mich hat überrascht, dass ihr eine relativ junge Band seid. Als die Platte das erste Mal erschien, gab es euch erst ein paar Monate, oder?

Unser Sänger Angus und ich, wir trafen uns in Los Angeles – er ist Australier. Wir zogen gemeinsam nach New York. Wir hatten ein Vier-Spur-Aufnahme-Gerät, auf dem wir alle Instrumente spielten. Das klang alles sehr seltsam, die Lieder waren voller Fehler, die irgendwann zu Teilen der Songs wurden. Am Ende hatten wir 20 Songs, aber niemanden, mit dem wir sie hätten live spielen können. Wir fanden niemanden, also haben wir einen Zettel aufgehängt – was ziemlich schrecklich ist. Wer antwortet auf sowas? Glücklicherweise antworteten die beiden anderen – sie sind ursprünglich aus Nebraska – zusammen. Sie bekamen ein Tape, und es funktionierte.

Dass wir so schnell ein Album aufnehmen konnten, lag daran, dass wir schon so viele Lieder hatten, so dass wir das problemlos auf unsere besten Lieder reduzieren konnten. Anthony Roman von Radio 4 arbeitete im „Brownies“ in New York City, wo er uns spielen sah. Er erzählte Charles von Gern Blandsten von uns, dem wir daraufhin ein Live-Tape, das wir mit einem einfachen Rekorder aufgenommen hatten, schickten. Er hatte uns nie live gesehen, aber er mochte das Tape, also gab er uns die Hälfte der Aufnahmekosten. Und wir nahmen die Platte in anderthalb Tagen auf. Das kostete uns 2000 Dollar.

Was für andere Typen haben sich auf euren Zettel gemeldet?

Wir hatten ja zwei aufgehangen – jeweils einen für den Bass und das Schlagzeug. Ich glaub, wir hatten nur zwei weitere Antworten. Wir hatten einen Typen, der verheiratet war und Kinder hatte. Er war Handwerker. Er erzählte immer, dass ihn die Musik an die Zeit erinnerte, als er in den Achtzigern Skateboard fuhr. Der war ziemlich seltsam, wir haben ihn auch nie getroffen. Wir wussten aber auch sehr genau, was wir wollten, welche Einflüsse aus meinetwegen Hardcore oder HipHop wir aufnehmen wollte. Ron, unser Schlagzeuger, hört aber auch sehr viel Motown und so. Aber ich denke schon, dass das funktioniert.

Dann lass uns doch nochmal kurz über Gern Blandsten reden, was passiert ist.

Wir wollen nichts sagen, was Charles‘ Reputation treffen könnte. Wir respektieren, was er tut. Aber es gab zwischen ihm und uns Dinge, die nicht funktionierten. Die Platte war zum Beispiel kaum zu bekommen. Wir hatten auch nicht das Gefühl, dass er genügend Vertrauen in uns hatte. Wir gingen auf eine dreimonatige Tour kurz nach Veröffentlichung des Albums – nicht nur um das Album zu promoten, sondern ganz einfach auch, weil wir live spielen wollten. Charles stellte uns damals aber vor die Wahl, dass wir entweder ein farbiges Album-Cover machen können oder ein schwarz-weißes, aber dafür Poster bekommen können. Wir trafen uns also mit dem Typen von Blast First, der so Sachen wie Sonic Youth oder Sun Ra veröffentlicht hat. Er liebte Musik, genauso wie Mute. Wir hatten das Gefühl, dass Blast First Dinge machen könnte, die Charles einfach nicht konnte. Letztlich haben wir Charles alles Geld zurückgezahlt, dass er in die Band investiert hat.

Bekommt ihr denn nun Sell-Out-Vorwürfe?

Ich finde, dass wir schon okay gehandelt haben. Also mal angenommen, wir wären mit dieser einen Platte auf Gern Blandsten auf Europa-Tour gekommen, wäre das gegenüber dem Tourbooker letztlich unfair. Aber letztlich ist das eine persönliche Sache zwischen Charles und uns, wobei wir wirklich versucht haben, okay zu handeln, auch wenn da jetzt bestimmt einige negative Gefühle da sind. Charles hat bekommen, was er hinein gesteckt hat. Es ist ja jetzt auch nicht so, dass Blast First unglaublich reich wären – er bringt Platten heraus, an die er glaubt. Und wir können jetzt auch eine 12″ über Hand Held Heart und Sound Virus herausbringen. Das ist überhaupt kein Problem. Noch sowas: Charles hat uns zum ersten Mal live gesehen, als er uns schon unter Vertrag genommen hatte. Paul von Blast First kam, als wir mit den Panthers in einer ziemlich schlechten Ecke von Brooklyn auftraten. Das war ungefähr der letzte Ort, wo man jemanden von einer Plattenfirma erwartet. Aber Paul war da, er stand in der ersten Reihe. Trotzdem: Ich will nochmal betonen, dass das eine persönliche Sache ist. Dass Charles seit zehn Jahren Gern Blandsten macht, ist großartig.

Blast First wollten nie, dass ihr irgendwas an der Platte ändert?

Nie. Es ist haargenau die gleiche Platte wie die Version auf Gern Blandsten. Hätte er das von uns erwartet, wären wir nicht interessiert. Auch das Artwork wird das gleiche bleiben. Wir hätten einen Bonus-Track drauf packen können, aber das wäre unfair gegenüber denjenigen gewesen, die die Platte schon gekauft haben. Wir wollen die Leute nicht dazu zwingen, das Album noch einmal zu kaufen. Ich fand das selbst immer schrecklich bei anderen Bands. Die Platte soll so bleiben, wie sie ist. Wer das Album schon hat, muss es nicht nochmal haben.

Ist die Gern Blandsten Version schon auf ebay aufgetaucht?

Keine Ahnung, wir touren so viel, da krieg ich sowas nicht mit. Aber auch das wollen wir vermeiden, indem wir die gleiche Platte nochmal herausbringen. Es gibt nur einen Grund für die Wiederveröffentlichung: Wir wollen es den Leuten leichter machen, sie zu bekommen. Gerade in Europa ist es schwierig.

Es ist nicht so einfach, eure Musik zu beschreiben. Vermutlich ist Punk der beste Begriff, auch wenn ihr sehr viele seltsame elektronische Elemente habt.

Darüber haben wir auch schon diskutiert. Ich denke, dass auch Public Enemy oder Jazzmusiker Punk gewesen sind. Unsere Musik wird sich mit Sicherheit noch verändern, aber ich hoffe, dass der Zugang ähnlich bleibt.

Was war dieses Teil, das euer Bassist Pat auf der Bühne genutzt hat?

Das war ein Teil, was man in Schulen für Behinderte benutzt. Pat arbeitet als Helfer in einem Krankenhaus. Es funktioniert wie ein kleiner, billiger Sampler. Wir haben einen bestimmten Sound auf einem Keyboard gemacht, das wir nicht für dieses eine Lied mitbringen wollten. Also spielt Pat es darüber.

Ich habe Anthony von Radio 4 eine ähnliche Frage gestellt – in den vergangenen Jahren haben mich diese Hardcore-Bands, die sich überhaupt nicht entwickeln, ausgesprochen gelangweilt. Insofern ist es interessant, Bands zu hören, die sich da raus entwickeln haben. Siehst Du Liars als Reaktion auf das, was in New York sonst los war?

Natürlich war diese Hardcore-Szene eine wichtige Grundlage für unsere Entwicklung. Das gilt ja auch für Bands wie die Panthers, mit denen wir viel zusammen gespielt haben. Wir sind ja nun auch alt genug, um ein paar andere Sachen zu machen. Ich kann mir schon vorstellen, dass jüngere Kids begeistert sind, wenn sie Born Against kennen lernen. Das waren wir damals auch. Aber heute möchte ich nicht mehr in einer Band spielen, die wie Born Against klingt. Ich glaube aber schon, dass es noch Entwicklungen im Hardcore gibt. Antioch Arrow heißen jetzt Get Hostile und klingen völlig anderes. Wir hatten bewusst einen völlig naiven Zugriff zur Musik, und das hat offensichtlich funktioniert. Wir wurden mittlerweile mit der Pop Group verglichen, die wir gerade zum ersten Mal gehört haben. Und natürlich kann ich ncht leugnen, dass wir von PIL beeinflusst sind.

Wie kamt ihr eigentlich dazu, dieses lange Stück am Ende zu machen? DiesenAmbient-Track, wenn ich das so nennen darf.

Ich saß mit Pat im Proberaum und wir machten das, wie wir angefangen haben – also Sachen auf einem Vier-Spur-Gerät aufzunehmen. Ich hatte einen Beat, Pat probierte Sachen auf dem Schlagzeug, bis wir den passenden Beat hatten. Ich wollte mal was probieren, was irgendwie Ambient war, aber einen Beat hatte. Ich wollte auch was probieren, was sich völlig von der restlichen Platte unterschied. Deswegen haben wir das ganze geloopt. Vielleicht bemerken die Leute erst gar nicht, was da läuft, bis sie es irgendwann ausstellen müssen. Vielleicht gibt es auch Leute, die das komplett durchhören. Es gibt Leute, die das Ganze hassen. Andere werden es lieben.

Ich habe jetzt Girls Against Boys und Radio 4 nach einer neuen New Yorker Szene gefragt. Gibt es die deiner Meinung nach?

Auf alle Fälle. Black Dice sind jetzt sehr populär – das war früher auch mal eine Hardcore-Band. Jetzt machen sie Ambient und Noise und sind auf Gravity. Ich finde es ziemlich spannend, dass sie früher mal völlig anders geklungen haben. Ich muss zugeben, dass ich nie Girls Against Boys gehört habe. Bei Radio 4 sehe ich die Vergleiche, wobei sie natürlich sehr aus einem Dancefloor-Hintergrund kommen.

Anfangs war mir auch nicht klar, dass ich diese drei Interviews zusammenfassen würde. Aber irgendwann wurde mir bewusst, dass es da Verbindungen gibt – auch wenn ihr alle anders klingt. Und ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal mehrere so spannende Platten aus New York gehört habe.

Ich würde auch nicht sagen, dass es einen New York Sound gibt. Es gibt sehr viele Bands, die alle anders klingen. Das Konzept, sich weiterentwickeln und beim nächsten Mal ganz anders klingen zu wollen, das ist gleich. Genau das passiert jetzt. Was wir jetzt versuchen wollen, ist, die Leute darüber im Unklaren zu lassen, welcher Sound nun gerade von welchem Instrument kommt. Das nächste Album soll schon ein bisschen anders sein, weil sich unsere Einflüsse ändern.

Text und Fotos: Dietmar Stor

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