Mai 28th, 2020

Corporate Rock Still Sucks aus # 197, 2019

Posted in artikel by Jan

Corporate Rock Still Sucks

Neulich erschien in der Trust-Twitter-Timeline (@TRUSTzine) eine Anzeige von GoldmanSachs zum Thema Musikindustrie. Nach nahezu zwei Jahrzehnten der Disruption, so der Tweet, käme nun eine neue Phase des Wachstums. Wachstums heißt natürlich im Kontext von Investmentbanking Gewinne. Aber dennoch in den folgenden Zeilen mal der Versuch eine Einordnung des Ganzen.

Erstmal ein wenig Begriffsfindung. Disruption bedeutet, dass durch eine technologische Veränderung die Welt, wie wir sie bis hierher kannten, umgekrempelt wird. Disruptive Technologien oder Innovationen beenden die „Erfolgsserie einer bereits bestehenden Technologie, eines bestehenden Produkts oder einer bestehenden Dienstleistung“, ersetzen diese oder verdrängen sie vollständig vom Markt. Ein Beispiel dafür ist das Smartphone, das das alte Handy nahezu komplett vom Markt verdrängt hat, inklusive neuer Geschäftsmodelle um Apps. Autonomes Fahren könnten, wenn es realisiert wird, eine solche Disruption sein, da Google, Uber und einige anderen aus der Mobilität eine Dienstleistung machen wollen, inklusive Steuerung per App und in Zukunft unter Umständen selbstfahrende Fahrzeuge, die den Privatbesitz von Autos überflüssig machen.

Das gleiche ist auch in der Musik schon mehrfach geschehen, aus der Schellack-Schallplatte wurde das Vinyl, dann kamen die Tapes, später die CDs und dann die digitale Musik in Form von Downloads. Die größte Disruption stellt allerdings das Streamen da, denn während von der Schellack-Platte bis zum Download immer noch der Besitz von Tonträgern (digital oder physisch) im Zentrum stand, bieten die Streaming-Portale nur noch die Dienstleistung zu jeder Zeit Zugriff auf immense Musikdaten zu haben. Spotify und Apple Music sollen 30 Millionen Songs anbieten, Deezer und Amazon Music gar 40 Millionen Songs. Durch die Streaming-Dienste ändert sich also nicht nur das Format (von physisch zu digital, wie von Vinyl zu MP3), sondern auch noch die Besitzverhältnisse. Gleichzeitig verändert sich auch der Markt insoweit, dass der Plattenhändler, Mailorder oder Elektronikmarkt (allgemein der stationäre Handel) für Streaming-Dienstleistungen nicht mehr benötigt wird und nahezu verschwinden bzw. an Bedeutung verlieren wird.

Diese Disruption erzeugt natürlich (ökonomische) Verlierer. Jahrelang jammerte die Musikindustrie, dass ihr Wirtschaftsmodell nicht mehr funktioniere. Illegale Kopien (erst von Platte auf Kassette, dann gebrannt von CD auf CDr), später illegale Downloads, hätten das Geschäft zerstört. Schutz von geistigem Eigentum, Kopierschutz, Strafverfolgung von Downloads, das alles waren Versuche, das Wirtschaftsmodell beizubehalten, sind aber an vielen Stellen gescheitert. Ich rede hier vor allem von der Musikindustrie, nicht von unserer / einer DIY-Szene. Denn der geht es – im Vergleich zur großen Industrie – tatsächlich wesentlich schlechter, weil viele „Schutz“-Mechanismen hier nicht greifen, Vermarktungsmodelle viel schwieriger zugänglich sind und die Bereitschaft für spezielle Songs, Alben oder Musik Geld auszugeben abgenommen hat. Wenn wir uns die große Musikindustrie ansehen, muss man sagen, dass die Gewinne und die Umsätze insgesamt stark eingebrochen sind.

Im Jahr 1980 wurde mit LPs in Deutschland alleine 760 Mio. € Umsatz erzielt (Höchstwert des Umsatzes mit Vinyl), mit CDs im Jahr 1997 2,3 Mrd. € (Höchstwert) und im Jahr 2013 mit Downloads 213 Mio. € (Höchstwert). Witzigerweise dazwischen, im Jahr 2006, finden sich auch mit 41,4 Mio. € der Höchstwert der Einnahmen mit Klingeltönen. Doch der Einnahmeteich des „Crazy Frogs“ ist mittlerweile ausgetrocknet.

Das Jahr 2013 war das Jahr mit dem niedrigsten Umsatz der Musikindustrie in Deutschland seit Mitte der 1980er Jahre. Der Umsatz fiel auf insgesamt knapp 1,3 Mrd. €, 1997 hatte er noch bei mehr als dem Doppelten (2,7 Mrd. €) gelegen. Seitdem erholt sich der Markt sehr, sehr langsam, bis 2017 stieg der Umsatz wieder auf knapp 1,6 Mrd. €. Ein Grund für den steigenden Umsatz sind die Streaming-Portale. Allein in Deutschland wurden dort knapp 600 Mio. € umgesetzt. Und das obwohl Deutschland ein sehr konservativer Musikmarkt ist, heißt, Streaming-Dienste es hier eher noch schwerer haben. In Norwegen nimmt Streaming schon heute fast 90 Prozent des Marktes ein. Auch in vielen anderen Staaten, zum Beispiel auf dem afrikanischen Kontinent, sind vergleichbare Entwicklungen zu beobachten. Dort hat z.B. der hier weitgehend unbekannte Streaming-Dienst Boomplay über 40 Mio. Nutzer*innen, vor allem in Nigeria, Kenia, Ghana und Tansania, Tendenz steigend. In China lag schon im Jahr 2015 der Anteil von Streaming-Plattformen bei knapp 80% des Online-Marktes und der wiederum machte 2014 über 80% des Gesamtmarktes aus.

Diesen Wachstumstrend von Streaming-Diensten sieht auch GoldmanSachs als Grundannahme für ihre (für eine Investmentbank) positive Aussicht. An dieser Stelle schon einmal der Einwurf, dass ich mir unsicher bin, inwieweit vom Streaming auch Bands profitieren, die im Trust eine Rolle spielen. Laut Experten-Aussage bekommen gerade die unabhängigen Label und Bands eher Peanuts ausgeschüttet. Gleichzeitig sind zum Beispiel die Ärzte, die sich diesem Trend lange verweigert haben, nun auf Spotify. Farin Urlaub erklärte im Jahr 2015 in einem Interview, dass sie für 200.000 Abrufe von Songs von Spotify 16 Cent ausgezahlt bekommen hätten. Ihre Abwesenheit argumentierte er also mit dem Bezahlen von einem „Hungerlohn“ für Künstler*innen. Den Wandel begründete Rod nun gegenüber dem Musikexpress damit, dass ihre Fans keine physischen Tonträger mehr kaufen würden. Die Erwartungen an die Einnahmen bleiben aber selbst für die Ärzte überschaubar, Rod sagt dem Magazin, wenn ein gemeinsames Abendessen dabei rumspringen würde, wären sie schon zufrieden.

Aber zurück zur Aussicht von GoldmanSachs: Heute werden mit Live-Musik global 26 Mrd. US-Dollar Gewinn erzielt, mit aufgenommenen Songs 30 Mrd. $ und mit Songrechten sechs Mrd. $. Bis 2030 werden die Einnahmen auf 38 Mrd. $ (Live-Musik), 80 Mrd. $ (aufgenommene Musik) und 12,5 Mrd. $ (Musikrechten) ansteigen. Die Zahlen belegen, dass zumindest GoldmanSachs eine Verdoppelung des Gewinnes (und wohl auch des Musikmarktes) in etwas mehr als zehn Jahren erwartet. In Trust #195 hatten wir einen Artikel über Investoren in der Live-Musik und Festival-Branche, die dort aufgrund der Gewinnmargen verstärkt aktiv werden. Spannenderweise sieht GodlmanSachs im Live-Musik-Markt das geringste Wachstum. Was das für Investoren heißen wird, dürfte klar sein.

Entscheidend für das Wachstum der Gewinne mit Musik sind allerdings nicht die alten Säcke, die sich noch Schallplatten oder CDs (oder Downloads) kaufen, sondern die jüngeren Generationen (13 bis 17 und 18 bis 34), da diese im Verhältnis den größten Anteils ihres jährlichen Budgets für Musik ausgeben. Während im Jahr 2000 mit physischen Tonträgern 20 Mrd. $ eingenommen wurden, waren es im Jahr 2010 nur noch gut 12 Mrd. $, davon ca. ¾ aus physischen Tonträgern. Im Jahr 2025 erwartet GoldmanSachs, dass die Gewinne wieder auf 20 Mrd. US-Dollar angewachsen seien, davon allerdings weit weniger als ¼ aus physischen Tonträgern und (bezahlten) Downloads, deren Ende wohl Nahe ist, sondern vor allem aufgrund von Streaming-Dienstleistungen. Für 2030 sind dann die Einnahmen auf 38 Mrd. $ angestiegen.

Dazu passt ein Text von Berthold Seliger für die Jungle World aus dem Jahr 2015, wo er schreibt: „Dem Jahrbuch des Bundesverbands Musikindustrie zufolge steigt in Deutschland die Zahl derer, die keine Musik kaufen, jährlich um etwa drei Prozent und liegt heute bei 67 Prozent. […] Nur 3,7 Prozent der Bevölkerung gelten als »Intensivkäufer«, die jährlich mehr als 80 Euro für Musik bezahlen – diese Gruppe sorgt aber für 46,2 Prozent des Umsatzes mit Musikprodukten.“ Und wie schon geschrieben, wir reden hier von Deutschland, einem Markt, wo die physischen Tonträger noch eine verhältnismäßig wichtige Rolle spielen.

Das Streaming so eine entscheidende Rolle spielt, zeigen auch die Entwicklungen von zwei der wichtigsten Plattformen. Die Nutzer*innen von Spotify haben sich in wenigen Jahren vervielfacht. Im Jahr 2011 waren es 3 Mio., 2012 (5 Mio.), 2013 (7 Mio.), 2014 (15 Mio.), 2015 (28 Mio.), 2016 (43 Mio.) und 2017 (71 Mio.) gab es ein konstantes Wachstum bis im September 2018 87 Mio. Nutzer*innen registriert waren. Gleichzeitig stiegen die Gewinne von 430 Mio. $ (2012) auf 1,9 Mrd. $ (2015). Ähnliche Werte für Wachstum an Nutzer*innen finden sich auch bei dem Streaming-Dienst von Apple: 2015 (10 Mio.), 2016 (20,5 Mio.), 2017 (36 Mio.) und im November 2018 (56 Mio.) Nutzer*innen. Amazon Prime soll gar auf noch mehr Nutzer*innen kommen, da liegen aber keine vergleichbaren Zahlen vor. Wenig verwunderlich, dass die deutsche Musikindustrie angibt, dass die unter den Top 5 Musikhändlern in Deutschland Spotify und Apple sind. Dazu gesellen sich noch Amazon, Media Markt und Saturn. Laut einigen Artikeln war letztes Jahr zum ersten Mal der digitale Markt größer als der physische.

Was die GoldmanSachs Studie auch noch mal unterstreicht, ist das was einigen von uns auch von Jahr zu Jahr übler aufstößt: die Preisentwicklung beim Vinyl. War der durchschnittliche Vinylpreis Anfang der 1990er Jahre auf knapp 6 $ pro Platte gefallen, verdoppelte er sich in wenigen Jahren auf gut 12 / 13 $ in der zweiten Hälfte der 1990er. Mitte der 2000er Jahre lag er schon bei 17 / 18 $ und steigt seitdem weiter. Heute liegt er bei fast 25 $ pro Platte und GoldmanSachs schätzt, dass er in den nächsten 10 Jahren noch einmal um mindestens 5$ pro Platte anziehen wird. Von 2007 bis 2015 stiegen auch die Verkäufe um 32 Prozent, auch hier erwartet der Finanzkonzern eine positive Weiterentwicklung und leichte Steigerungen. Spannend, von den fünf großen globalen Musikmärkten sind der japanische und der deutsche übrigens am stabilsten, was Verkäufe von physischen Tonträgern angeht.

In den letzten Jahren hat sich zudem eine starke Marktkonzentration im Business fortgesetzt. Vivendi – UMG hat 34% Marktanteile für aufgenommene Musik, Sony – SME (23%) und WMG (17%) folgen. Alle anderen, Independent bei GoldmanSachs genannt, bleiben 26%. Bei den Rechteinhabern sieht es ähnlich aus. Sony (30%) vor Vivendi UMPG (23%), WMG (13%) und Independents (34%), wobei GoldmanSachs darunter explizit auch BMG (5%) und Kobalt (4%) versteht.

Für mich selbst kann ich sagen, dass ich eigentlich fast ausschließlich zu Hause physische Tonträger (95% Vinyl, 4% Tapes, 1% CDs) und unterwegs MP3s, sprich Downloads höre. Ich habe keinen Account bei einem Streamingdienst, den ich nutze. Mir fehlen –bei den Portalen – in der Regel die Exoten. Wobei viele Indies diese Lücke schon heute stopfen, indem sie ihre Kataloge einspeisen. Wobei diese dann wieder bei dem Problem sind, dass sie zu wenig – bis gar kein – Geld dadurch generieren können. Ein Teufelskreis, denn wenn diese Labels nicht auf den Plattformen zu finden sind, sind sie auch kaum noch sichtbar – vor allem da auch Musikjournalismus und Fanzines an Bedeutung verlieren. Wobei an dieser Stelle offen für mich ist, inwieweit Musikblogs hier einen Ausgleich erschaffen. Generell scheint es hier aber noch an Infos zu mangeln, daher hier als Aufruf: Mich würde interessieren, von Leser*innen, die Spotify nutzen (gerne auch Bands und Labels), was sie an Stärken und Schwächen identifizieren. Schreibt gerne eine Email (mikareckinnen@gmx.de), werde Daten bei Bitte darum, vertraulich behandeln. Denn es bleibt dabei, Corporate Rock Still Sucks!

(Mika)

P.S.: Danke an Tari und Dolf für die Hinweise zum Text

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