Dezember 31st, 2021

CHAMBERLAIN (#208, 2021)

Posted in interview by Thorsten

Der schönste Beweis, dass betrunken die besten Entscheidungen getroffen werden, ist folgende kleine Geschichte, die ich vorweg erzählen möchte. Es war an einem Februarfreitag vor dem ersten Lockdown. Wir waren ziemlich angetrunken, als meine Begleitung kurz austreten musste, was dann gefühlt ewig dauerte, zumindest so lange, dass mir langweilig wurde oder ich nichts Besseres zu tun hatte, als die Facebook Timeline durchzuscrollen. Einem Freund gefiel der Post von CHAMBERLAIN über die letzten Stunden von deren Crowdfunding für ihr erstes Album seit 20 Jahren. Davon hatte ich überhaupt nichts mitbekommen. Interessiert klickte ich auf den Beitrag, folgte dem Link zur Kickstarterseite und flugs landete das Album im Warenkorb. Gerade als der Bestellvorgang abgeschlossen war, kehrte meine Begleitung zurück, ich steckte das Handy ein, erzählte vermutlich von dem Kauf und der Abend ging erst mal weiter.

Am nächsten Morgen wachte ich zum Glück katerfrei auf. Nach dem Frühstück spielte ich mit dem Handy, schaute nach neuen E-Mails und wunderte mich über eine Bestellbestätigung. Ich hatte doch gar nichts bestellt, sagte ich mir, nahm nervös einen Schluck Kaffee, öffnete die Mail und lass mir den Inhalt durch. Langsam kam die Erinnerung zurück, ich hatte es tatsächlich betrunken geschafft, mich erfolgreich durch das Bestellmenü zu klicken und viel wichtiger mich an Passwörter erinnert und durch Sicherheitsfragen manövriert.

David und Adam von CHAMBERLAIN müssen lachen, als ich ihnen, bevor das Interview über Skype losging, diese Geschichte erzähle, und sie vergaßen nicht, sich sofort für den kleinen Beitrag zur Finanzierung zu bedanken. Musikmachen und eine vernünftige Albumproduktion zu stemmen, ist in den letzten zehn, zwanzig Jahren schwer geworden. Dafür hat sich die Bindung zwischen Musiker und Hörer verändert, ist enger geworden. Für beide Seiten ist das ein Vorteil. Zumindest wenn eine Band auf eine passionierte Fanschar bauen kann, wie es bei CHAMBERLAIN der Fall ist.
Adam und David waren sich im Vorfeld des Kickstarterfundings unsicher, wie hoch sie den Zielbetrag setzen sollten. „Schließlich hatten wir einige Jahre nichts mehr als Band zusammen gemacht“, berichtet David und Adam ergänzt, „wir waren uns absolut nicht sicher, ob zehn Leute etwas zu diesem Projekt beitragen würden oder vielleicht sogar 10.000.“ Zumindest fanden sich genügend Menschen, um das Fundingziel im vorgegebenen Zeitraum zu erreichen und die Albumproduktion konnte im Sommer in Nashville starten.

Doch noch mal zurück zur Geschichte, bevor es mit dem Interview losgeht, versprochen! Nach diesem Vormittag hieß es für mich abwarten, um genau zu sein, neun Monate, so lange sollte es bis zum Release dauern. Viel passierte in der Zwischenzeit, die Welt änderte sich radikal, aber irgendwann stand der Postbote vor der Tür und überreichte die Platte. Ehrfürchtig packte ich das Vinyl aus, betrachtete das Booklet, entschied aber, dass es nicht an der Zeit war, die Musik schon zu hören. Dafür wollte ich Ruhe haben und mir Zeit nehmen. Erst zwei Tage später, ein Samstag, ich wachte früh auf, im Haus war es still und draußen noch dunkel, schlich ich ins Wohnzimmer, nahm die Kopfhörer, startete das Album, legte mich auf den Boden, schloss die Augen und ließ mich von den ersten Tönen des Stückes „Not Your War“ davontragen. Das Lied gehört für Adam zu einem der wichtigsten des Albums: „Die ersten beiden Songs auf dem Album mag ich sehr gerne, weil wir damit unsere musikalischen Grenzen austesten, Drum Loops, sanfte Elektronik, so was kommt vielleicht nicht zuerst in den Sinn, wenn jemand an CHAMBERLAIN denkt“, sagt er und gibt damit unumwunden die zarte Weiterentwicklung der Band zu, die sich in den letzten Jahren zwangsweise ergeben hat. Gemeinhin wird die Band zwar weiterhin unter dem Label „Emo“ geführt. Jedenfalls taucht dieser Begriff auch in der Rezeption zu „Red Weather“ ständig auf. „Klingt unser Album wie SUNNY DAY REAL ESTATE?“, fragt Adam unwirsch auf diesen Einwand und findet sofort eine Antwort: „Auf keinen Fall!“ Und David ergänzt: „Sicherlich ist es ein Teil unserer Geschichte. Ohne unsere Vergangenheit wären wir jetzt nicht hier. Unsere Erfahrungen machen uns zu diejenigen, die wir sind. Wir wollten nur eine Band haben, die wie unsere ist“, bringt David die Entwicklung auf den Punkt. Diese Themen, die Vergangenheit hinter sich lassen, um in der Gegenwart zurechtzukommen, nehmen auf „Red Weather“ dann auch eine wichtige Rolle ein. Gleichzeitig haben CHAMBERLAIN sich mit diesem Album von jeglichen Schubladen freigeschwommen. Alternative Country ist dann noch ein weiterer Begriff, der häufig in Rezessionen fällt. „Red Weather“ verdient es jedoch nicht, verglichen oder in eine Schublade gesteckt zu werden. Es handelt sich schlichtweg um zeitlose Musik, so blöd das klingen mag. Zwar deutlich im Underground verwurzelt, dafür spricht die Aufrichtigkeit der Texte und die Direktheit der Musik, manchmal auch das Schräge und Unperfekte, ansonsten hat die Musik aber erst mal nichts mehr mit Punkrock zu tun. In dem Video zum Song „Some Other Sky“ trägt Adam Rubenstein ein T-Shirt der Band BIG STAR, die in den frühen 70’ern ebenso losgelöste und scheuklappenfreie Musik aufgenommen hat, wie CHAMBERLAIN es mittlerweile tun. Diesen Ansatz hat die Band auf „Red Weather“ übernommen. Die Musik ist voller Schmerz, aber nie weinerlich, voller Pathos, ohne pathetisch zu sein, romantisch, aber nie kitschig. Hey, ich meine, wer textet schon sehnsüchtig: „He left home in high autumn with a fistful of stars” und kommt damit durch? Eben!

Immer wenn ein Song droht, weniger mitreißend zu sein als der Vorgänger, passiert etwas, ein Wechsel, eine neue Melodie oder dezente Hintergrundinstrumente. „Wir sind eine andere Band, als die, die My Moon My Saddle eingespielt hat“, räumt Adam ein. „Als wir das Album aufnahmen, wollten wir einfach ein Rock’n`Roll Album machen. Wenn du aber genau hinhörst, wirst du noch ein stückweit die Idioten von damals hören, die nicht wissen, wie ein Rock’n`Roll Album gemacht wird“, lacht er und fasst damit die eigene Unzulänglichkeit als Musiker gut gelaunt zusammen.

„Red Weather“ behandelt erwachsene Themen, die so von der Band vor zwanzig Jahren nicht hätten aufgenommen werden können, weil ihnen die Erfahrungen dafür gefehlt hätte. „Das ist ja gerade die Stärke des Albums“, behauptet Adam, „es klingt auch in unseren Ohren komisch zu sagen, es ist zwanzig Jahre her, seitdem wir ein echtes Album gemacht haben. Wir sind als Menschen in den Jahren gewachsen. Darum ist es für uns einzigartig. Anders als sonst sind wir ohne Vorbereitung ins Studio gegangen, darum klingt das Album so anders als alles, was wir bisher gemacht haben. Und wir werden ein weiteres Album nächstes Jahr machen. Und das wird dann sicherlich auch wie Red Weather klingen und nicht wie My Moon My Saddle“, erklärt Adam die Entstehung des Albums und gibt im selben Atemzug zu, dass die Band bereits Pläne für ein weiteres Werk im Kopf hat.

David stimmt Adam zu und beide scheinen sich gut zu verstehen, was wohl in all den Jahren nicht immer so war, wie beide in Zwischentönen während des Gespräches zugeben, ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, „wir haben uns alle als Menschen verändert und jeder hat einen anderen Schwerpunkt in seinem Leben gewählt. Das fließt alles in diese Musik ein.“ Auf die Frage, welches Stück für David auf diesem Album am wichtigsten ist, druckst er lange rum, um sich dann auf eine einerseits offensichtliche Wahl einzulassen, andererseits handelt es sich dabei aber um den ruhigsten Song auf dem Album: „Ich war eigentlich immer gegen Titeltracks. So was hatten wir noch nie gemacht. Aber der Song Red Weather begleitet mich von der Idee bis jetzt seit zwölf Jahren. Dieses Lied und was der Song aussagt, ist für mich wichtig. Wenn mich aber jemand im Fahrstuhl fragen würde, spiele mir das Lied vor, dass das Album am besten zusammenfasst, wäre es allerdings nicht Red Weather, sondern einen Song, den ich in der letzten Zeit geschrieben habe. Reign of the two kings, spricht am meisten zu mir. Das Thema und die Erkenntnis über mich selber in den letzten Jahren.“ Im Grunde geht es um den immerwährenden Kampf mit sich selbst, eine bessere Person zu werden und das richtige im Leben zu tun. Auch im Eröffnungsstück „Not Your War“ kämpft der Protagonist mit der eigenen Vergangenheit und versucht seine (neue) Familie, seine Kinder und sich selbst vor den ausgetragenen Kriegen und deren Folgen zu schützen und nicht dieselben Fehler ein zweites Mal zu wiederholen. Insgesamt spielt die Familie auf diesem Album als sicherer Hafen in stürmischen Zeiten eine wichtige Rolle. Insbesondere wenn essentielle Entscheidungen getroffen werden müssen oder jemand vor der Wahl des weiteren (Lebens-) Weg steht. Das mag einigen linken TheoretikerInnen nicht schmecken oder arg konservativ und wenig progressiv vorkommen und manche mögen gar denken, die kleinbürgerliche Familie ist der Anfang vom Übel des Patriarchats. Wer aber so denkt, hat noch immer nicht begriffen, wo der wahre Feind zu suchen ist. Ein (linkes) Leben in und mit einer Familie ist möglich und deswegen sollten die mittlerweile vielfältigen Formen von Familie (Patchwork, Co Parenting, gleichgeschlechtliche Ehen etc.) als Beispiel in einem Kampf gegen eine konservative Familienpolitik aus dem vergangenen Jahrhundert gesehen werden, statt eine freie Lebensentscheidung von Menschen pauschal als falsch zu deklarieren, nur weil es nicht mit der eigenen Vorstellung korrespondiert. Aber zurück zum Album, welches laut David kein übergreifendes Thema hat: „So was erkenne ich immer erst ein paar Jahre nachdem ein Album geschrieben und aufgenommen wurde“, sagt er, „eine Menge der Themen auf Red Weather, wie Traurigkeit, Freude, Verlust, Einheit habe ich auf unseren vergangenen Alben schon bearbeitet. Der Titelsong charakterisiert das gesamte Album vielleicht dann doch am besten. Es geht darum, sich über seine Handlungen und Gefühle nicht sicher zu sein und darum, ob diese Handlungen echt sind oder durch Angst ausgelöst werden. Viele Dinge, die beschrieben werden, sind mit einem Fragezeichen versehen. Die Lieder befinden sich auf einer Suche.“ Aber Fragen wonach und an wen? Etwa an das eigene Ich, einer anderen Person oder gar an die Gesellschaft? David überlegt: „Ich glaube, ein wenig von allem. Am meisten aber sich selber hinterfragen. Wenn du jünger bist, kommen viele Entscheidungen von einem selbst. Je älter du dann wirst, desto mehr Einflüsse haben Entscheidungen, Liebe, Angst, Unsicherheiten. In dem Titelsong auf dem Album geht es darum, in einer Landschaft aufzuwachen, mit einem roten Himmel und damit konfrontiert zu werden, in welche Richtung du gehen willst und ob diese Richtung für dich die Richtige ist. Du wirst aber nicht unbedingt Antworten zu diesen Fragen auf dem Album finden.“

Und dann gibt es noch das Stück „Lion in the well“ und obwohl ich noch nie in einer derartigen Situation war, der Protagonist des Liedes steht kurz davor, von seinem Partner verlassen zu werden, das muss sich mal vorgestellt werden, es gibt Hunderte von Songs darüber, wie jemand nach einer Trennung leidet, aber nicht ein einziges, zumindest fällt mir keines ein, Lied darüber, wie die letzten Stunden gemeinsam sind, während das bisherige Leben durch die Hände zerbröselt. Gleichzeitig lässt sich die Zeile: „It’s like dying of thirst when I`m one step away from a well“ auf so viele andere Lebenssituationen anwenden, solange oder sobald etwas fehlt im Leben oder noch schlimmer, es zum Greifen nahe ist und dennoch nicht erreicht werden kann. Die Definition von Scheitern? Vielleicht.

Am Ende von „Red Weather“ schließt sich dann sogar noch der Kreis, wenn im Song „Lights go low“ der Sohn sich ein letztes Mal mit dem Vater an den Küchentisch setzt, ehe er sein eigenes, unabhängiges Leben beginnt, weil ein junges Leben nun nicht mehr von den Eltern geschützt werden kann, sondern er seine eigenen Erfahrungen machen muss, also fortan eigene Kämpfe austragen muss. Und genau dafür wünscht der Vater, dass der Apfel eben möglichst weit vom Stamm fallen möge, damit der Sohn bloß nicht so wird wie er und nicht dieselben Fehler wiederholt werden. Anders als im Stück „Red Weather“ ist der Himmel nun nicht rot, was sowohl für die Morgen- als auch Abendröte stehen kann, sondern, so heißt es in dem Song: „The day`s on fire, the weather’s turned, let’s sit back and watch this one burn, may you stay wild, strong and free, but don’t go and growing old on me.“ So bleibt, was am Ende immer bleiben muss, die Liebe, die Kraft Liebe aufzubringen und die Hoffnung! Ohne Fragezeichen.

Text & Interview: Claas Reiners

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