TANGER (#87, 2001)
The night I bombed Dresden
Schauplatz Fort Collins, Colorado. BLACK FLAG kamen da her. DESCENDENTS, ALL.
Und jetzt TANGER. Ganz was anderes. Drei junge Männer, die Verzweiflungsmomente in Glücksgefühle verwandeln können. Die auf die Ur-Formel setzen: Kraft der Musik; Schlagzeug, Bass und Gitarre als Spieleinheit. Und im Fall TANGER maximal komprimiert und zu einem Energiestrahl verdichtet, der wirklich seines gleichen sucht. Ohne Pathos, ohne die handelsüblichen Selbstdarstellungen des Rock-Zirkus wird sich auf das Wesentliche beschränkt, auf den Punkt gerockt. Erdverbunden wie ein Kettenförderer im Untertagebau greift bei diesem Trio ein Zahnrad ins andere, wird ein Schub entwickelt, der sich ungeschminkt und hässlich unter die Oberfläche frisst, bohrt und weiter vorwärtsstösst.
TANGER sind überzeugte Dreckaufwühler, Krachexperten und in gewisser Weise auch Rockpuristen. Ihr selbstbetiteltes Debut (Owned & Operated Recordings/Cargo) vom letzten Jahr ist neben SHELLAC´s aktuellem Album die einzige gelungene Übertragung des klassisch-tiefen, bass- und schlagzeuggetriebenen Chicago-Rocks der 90er in unsere Gegenwart. Von STEVE ALBINI soundtechnisch perfekt in Szene gesetzt., setzen TANGER ihren Weg an der Stelle fort, an der HELMET sich nach ihrem ersten Album nicht mehr weitergetraut haben. Facettenreich und intelligent strukturiert fordern sie dazu auf, mit alten Hörgewohnheiten zu brechen, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Seit 1996 sind die Jungs vier bis fünf Mal pro Woche neben ihren Jobs am Proben und aufeinander eingespielt wie eine geölte Maschine. Ein professionell betriebener Blitzkrieg gegen das Zentrale Nervensystem, der die Auseinandersetzung lohnt. Gründe genug, mich bei Sänger und Gitarrist Jason Chinnock via Internet zu melden und nach der Geheimformel zu fragen, die er mir natürlich auch nicht verraten konnte.
Euer Bandname hat mich zuerst an diese Textzeile von W.S.Burroughs erinnert:“…es begann in Tanger“(NAKED LUNCH). Kerouac, Ginsberg, diese Beatnik-Jungs, war das eine Inspiration? Oder generell ausgedrückt: Kann Literatur überhaupt Einfluß auf Musik ausüben?
Jason: Wenn ich jetzt Ja-Sagen würde, würde das klingen, als ob wir hip und sehr belesen sind, aber die Wahrheit ist weit entfernt davon. Indirekt besteht schon die Möglichkeit, von diesen Dingen beeinflusst zu sein, aber ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, ein gutes Buch in der Hand gehabt zu haben. Ein Buch muß mich schon wirklich fesseln. Ich bin mehr der Informations-Junkie. Meinen Kopf mit Trivial-Wissen abzufüllen, mit dem ich andere Leute auf Parties unterhalten kann, scheint eher mein Ding zu sein. Jason Cope (Bass) arbeitet tageweise in einem Zeitungsstand und liest tonnenweise Magazine querbeet und Jon Linn, unser Schlagzeuger, liest alle James Bond-Bücher, die ihm in die Hände fallen, wenn wir auf Tour sind. Ich selbst lese nicht soviel, außer es hat etwas mit Motorrädern oder Musik zu tun. Das erinnert mich daran, daß ich neulich „Zen und die Kunst der Motorrad-Instandhaltung“ gelesen habe. Das war ziemlich heavy. Hat es meine Musik beeinflusst? Nein.
Was hat es mit Euren Bezügen zu Armee-Bildern auf sich? (Innersleeve und Eure Website) Ein Ausdruck für die Kraft und Geschlossenheit Eurer Band(-Struktur)?
Als wir die Band gründeten, haben wir alle nach einem Image gesucht, an das wir uns binden können. Etwas, das stark und kraftvoll ist, etwas das Aufmerksamkeit hervorruft und definiert, worum es uns geht. Wenn du ein Poster oder Albumcover einer Band siehst, von der du nie vorher etwas gehört hast, muß da etwas Anziehendes sein, das du herausfinden möchtest. Das militärische Image-spiel enthielt dies alles. Es gibt Leute, die denken, wir sind Militär- oder Kriegsbefürworter, andere denken, wir sind dagegen. Sie alle interpretieren da zuviel hinein. It just looks geil…. Es gibt noch andere, tiefergehende Bedeutungen, Dreck wenn du willst, aber dafür muß ich Dich erst besser kennenlernen, um Dich dahin vordringen zu lassen.
Erzähl´ uns über Eure ALBINI/CHICAGO-Verbindung. Es gibt bei Euch definitiv Berührungen, sowohl vom Sound als von der Musik her, zu den klassischen Chicago-Gitarren-Bands. Von SQUIRREL BAIT zu SHELLAC. Irgendwelche Gedanken?
Chicago ist unser zweites Zuhause. Wann immer wir dort für Aufnahmen oder zum Spielen sind, freuen wir uns auf unseren Besuch und hassen es, wieder abzuhauen. Die Geschichte der Musik von dort ist unser stärkster Einfluß. Abgesehen von unseren individuellen Geschmacksveränderungen können wir uns immer auf Chicago-Rock einigen. Werden wir mit einer Handvoll Bands von dort verglichen, fassen wir das als Kompliment auf. Ich habe das Gefühl, als ob wir ein wenig dieser Gedankenschule aufgreifen und Elemente einbringen, um letztendlich das zu schaffen, was wir spielen. Präzise, krachig, kraftvoll, dynamisch und herausfordernd für uns und unsere ZuhörerInnen.
Und Steve Albini ist schon immer jemand gewesen, für den wir großen Respekt empfinden. Sowohl in seiner Musik, als in seinen Aufnahmetätigkeiten. Uns wurde die Möglichkeit gegeben, mit ihm aufzunehmen, und wir haben unseren vollen Nutzen daraus gezogen. Wir wollten jemanden, der unseren Sound einfängt, wie wir live sind, (es war live), und das aufs Tape bannt. Genau das hat er getan. Er verstand meinen Gitarrensound und wollte nicht, daß ich über etwas spiele, was er schon ausgewählt hat. Wir benutzten unsere Ausrüstung.
Wie schaut denn ein normaler Tag bei TANGER aus?
Wir arbeiten alle in irgendwelchen „echten“ Jobs, um uns unsere Sucht, die Musik, zu finanzieren und nehmen uns dann frei, um so oft wie möglich gemeinsam zu spielen. Ich arbeite bei unserem Label und mit Motorrädern, welch´ Überraschung. Jason Cope arbeitet für eine Sound Production Company, hat einen Silk Screening Shop und schiebt noch ein paar Tage die Woche beim Zeitungsstand ein. Jon Linn ist als Design-Redakteur für eine lokale Zeitung tätig. Es gibt keinen „normalen“ Tag. Zwischen Arbeit, Proben und den Ladies gibt es nicht mehr viel Zeit, für etwas anderes. Was für mich okay ist, macht es die wenige Zeit doch umso kostbarer.
Gibt es in Colorado denn genug Luft für Euch zum Atmen?
Für uns? Ja. Für Flachländer wie Dich? Vielleicht nicht. Wir lieben es, hier zu leben. Manchmal macht der Mangel an Kultur, abgesehen vom weißen Redneck-Trash und den Yuppies, ein wenig krank, aber dafür ist Touren ja gut. Das gibt uns die Möglichkeit, neue Dinge zu erfahren. Wir haben keine Angst, unserer süßen kleinen Blase hier zu verlassen.
Rockt Ihr allein auf weiter Flur oder gibt es noch andere gute Bands bei Euch, zu denen Ihr wie partners in crime steht?
Wir haben einige Zeit auf Tour mit Bands verbracht, die es zu erwähnen lohnt. SHINER, SEASON TO RISK und WRETCH LIKE ME. Wir fühlen uns besser, wenn wir auswärts spielen.
Zuhause sind wir in einer Welt für uns. Für die meisten Leute hier ist es schwer, uns zu kategorisieren, weil wir nicht das machen, was sie gewohnt sind. Manchmal tut uns das weh, aber lässt uns jetzt auch nicht Kompromisse schliessen, um ein Quentchen Extra-Akzeptanz zu bekommen.
Mein Vorschlag für den Songtitel 2000 würde lauten: „The Night I Bombed Dresden“. Ungewöhnlich, also gibt es eine Geschichte dazu? Und warum zur Hölle ein britischer Pilot?
Ich brauch´ Dir wohl keine Geschichtsstunde zu erteilen, was damals während des Bombenangriffs auf Dresden passierte. Der Songtitel ist deshalb nicht so wörtlich zu nehmen, wie er klingt. Im Grunde ist das nur eine Metapher für eine echte Begebenheit, die uns während einer unserer Schlagzeuger-Krisen passiert ist. Nachdem wir unzählige Schlagzeuger ausprobiert hatten, dachten wir endlich eine ernsthafte Person für den Job gefunden zu haben. Laß uns ihn einfach Jay nennen. Er feierte viel und hatte nicht gerade viel Zeit übrig, aber er war ein ernsthafter Musiker und konnte auf dem Schlagzeug die Hölle erwecken. Nun war da auch noch dieser andere gute Freund, der anonym bleiben soll, nicht wahr Daniel, wir sind nicht sauer, der anfing, Jay von uns weg in seine Band zu locken. Daniel rauchte recht viel Pot mit Jay und hat ihm auch noch eine Menge Lügen über uns erzählt. Am Ende verloren wir einen guten Drummer und Freund und schrieben ein Stück darüber, wie all unser aufgestauter Frust und unsere Wut eines Tages explodieren wird, um alles sich uns in den Weg stellendes, zu zerstören. Das funktioniert auch. Auf nächtlicher Basis. Wenn wir den Song spielen.
Ich mag auch Euer Cover-Kunstwerk sehr. Sieht für mich wie der alte „sozialistische Realismus“-Stil aus…
Wir haben das von einem sowjetischen Vorkriegsposter. Da stand etwas drauf, von wegen Stärkung von Mütterchen Russland durch Verteidigung und Arbeit. Eine weitere Zurschaustellung eines kraftvollen Images…
Meine Lieblingsstücke auf Eurer ersten LP sind „Queery“ mit seinen kraftvollen Doppel-Vocals und Deinem kleinen Slayer-Riff-Einschub und „Six Feet“, das rockt, wie eine silberne Rakete im Anflug. Eure drei neuen Songs dagegen erscheinen etwas song-orientierter (klarerer Gesang), aber auch im Sound etwas leichtgewichtiger. Gedanken zu Eurer Entwicklung?
Der Gesang in unserer Band war immer zweitrangig. Wir sind in erster Linie Musiker. Die Stimmen haben wir immer wie einen abschließenden Gedanken behandelt. Wir komponieren einen ganzen Song frei von jeglichen Gesangsarrangements, und setzen die Stimmen ans Ende des Prozesses. Das hat sich nicht geändert. Anstatt aber auf eine Reihe heiserer Schreie zu setzen, versuche ich meine Stimme wie ein Instrument zu behandeln. Das lässt mich besser dem jeweiligen Song gerecht werden, als auf eine stets gleiche Gesangslinie zu bauen. Ich denke auch, daß eine ganze Platte mit Geschrei langweilig wird, außer Slayer. Was Deinen leichtgewichtigen Soundkommentar betrifft, so muß ich das zurückweisen. Wir haben uns nicht von SLAYER zu DAVID HASSELHOF bewegt. Veränderung ist gut.
Ihr werdet auf dem diesjährigen SXSW-Festival in Texas antreten. Liegen noch andere Dinge von Bedeutung vor Euch? Was ist mit einem neuen Album? Vielleicht Shows in Deutschland?
Das SXSW-Festival ist etwas, was wir zur Selbstbefriedigung tun. Deren MajorLabel-Verbindungen interessieren uns nicht und werden es auch nie. Ich glaube, früher hatte das Festival mal ein echtes Anliegen, das war aber mal. Wir werden auf jeden Fall Spaß haben. Das Touren selbst ist in den USA nicht immer einfach für uns. Die meisten Bands, mit denen wir sympathisieren, haben sich entweder aufgelöst oder sind abgetaucht und verstecken sich heute. Im Augenblick richten wir unsere Fühler nach Europa aus. In der Zeit, die ich in Deutschland verbracht habe, habe ich gesehen, wie das Publikum bei Euch auf Musik reagiert, wie Bands behandelt werden. Das wäre eine willkommene Abwechslung. Unser Label (Owned & Operated Recordings) hat keine starke Präsenz in Europa. Sie arbeiten hart für uns hier, also können wir uns nicht beschweren. Aber wir suchen nach einem Label, das uns direkt bei Euch veröffentlicht. Besserer Vertrieb führt zu besseren Touren und einem erhöhten Bekanntheitsgrad. Wir möchten die Möglichkeit haben, vor so vielen Menschen als möglich zu spielen. Bis dahin konzentrieren wir uns weiterhin auf das Schreiben unseres leichtgewichtigen Materials für das zweite Album und vielleicht eine zusätzliche 7″.
Viel Glück und Danke für das Gespräch.
Diskographie: TANGER s/t (Owned & Operated/Cargo)
tom dreyer