April 1st, 2020

Jesse Michaels aus # 200/02-2020

Posted in interview by Jan

“Die Szene in den frühen 80er Jahren war voller extrem gewalttätiger Menschen. Es gab gewalttätige Skinhead- und gewalttätige nicht-Skinhead-Gangs. Ich spreche da von jedem, der unschuldige Opfer in Gruppenangriffen verprügelt hat. Ich denke immer noch, dass es das Feigste und Ekelhafteste ist, was ich je in meinem Leben gesehen habe und ich habe es viele Male bei Auftritten in dieser Zeit miterlebt. Das ist das „Lustige“ daran, die Leute denken, dass es bei den alten Shows viele „Kämpfe“ gab. Nun, wenn man das so versteht, dass fünf Leute eine Person im „Kampf“ zusammenschlagen, dann nehme ich an, dass das wahr ist. Die Shows waren großartig und die rohe und kompromisslose Kreativität war toll, aber die Gewalt war eben scheiße. Das ist alles, worauf ich mich bezogen habe. So schlecht die Bay Area auch war, in Los Angeles war alles noch viel schlimmer. Viele Menschen wurden bei oder in der Nähe von Punk-Shows in L.A. fast zu Tode gestochen oder geschlagen”.

Interview mit Jesse Michaels
(Operation Ivy, Common Rider, Classics of Love)


“At one I was sitting and thinking of all the beautiful things he could have become. Instead of a lyrical oracle and I’m a most appreciative one. ‚Cause I’m in a world of my own when I’m into it I don’t want anything else and nothing can bother me when I’m inside of it cause I’m outside of myself. Midnight Marauder spinning on my stereo, Mr. Desmond Dekker got a crown made of gold. The kids are alright a what a what I hear, London calling but I have no fear, Ms. Ella Fitzgerald got no peer. Music sweet music make the truth so clear. Classics of love make a dark day light. If you don’t believe the words then just look into their eyes. Sun shining down on a cloudy day. I know those songs gonna last forever. This is what I say.”

(Common Rider – Classics of love, 1999)

“I’m in this prison you built for you. In this situation I don’t know what to do. Can’t make a connection, get a reaction. There’s this wall and I can’t get through. You’re dying of some guilt without no words. What did I say, what did I do. Youth hostels I lodged. Kept seeing you as a mirage. Flashes of you were everywhere. Hoboken, New Jersey. I’m in this prison you built for you. In this situation I don’t know what to do. Always something makes me think. Things don’t have to be so wrong. You put up walls with nothing spoken. In your weakness you’re so strong.”
(Operation Ivy – Hoboken, 1989)

“There’s a war going down between my brothers tonight. I don’t want no war going down tonight. Civilization ha, I call it as I see it. I call it bullshit, you know I still cannot believe it. Our evolution now has gone the way of hate. A world evolved resolved in this stupid fate. Stop this war! All so different yeah, I say were all the same. All caught you know, in the division game. Self destruction fast impending like a bullet. No one can stop it, once its fired, no one can control it. A final word, wait it’s not a call to action. We ain’t no sect, no this ain’t no fucking faction. Unity, unity you’ve heard it all before. This time its not exclusive, we want to stop a war. Unity, as one stand together!“
(Operation Ivy – Unity, 1989)

Diese verdammten Punks über 50, zum Beispiel unser Dolf. Er sah 1987 Operation Ivy in der Gilman Street in Berkeley, wie gerne wäre ich da gewesen. Well, ich hatte immer schon ein großes Herz für Reggae, Dub und Ska und da ich auch Punk und HC mag, war es ja dann nur logisch, dass ich eben dann auch Ska-Punk mag. Na ja, zumindest den alten Kram, die Pioniere eben. Ich rede hier natürlich von Operation Ivy, bei denen Jesse Michaels gesungen hat. Und ich rede von Rancid, bei denen dann der Operation Ivy-Gitarrist Tim Armstrong (früher „Lint“ genannt) und der wahnsinnige Operation Ivy-Bassist Matt Freemann (diese Bass-Läufe, ahhh!) später spielen. Mit zwölf liebte ich die Sex Pistols (das tue ich immer noch), aber die haben halt die typischen zynischen fucked up-Punk-Texte. Als ich mit 14 zum ersten Mal Operation Ivy hörte, da fuhr ich einfach auch total auf deren tolle Texte ab, die waren ja völlig anders als die von den Pistols.

Hedge-Core
Denn was Operation Ivy eben so besonders macht, das war nicht nur ihre phantastisch performte und total mitreißende Ska-Punk-Musik, sondern es waren eben auch ihre guten humanistischen Texte gegen Gewalt, für Unity, für Frieden, gegen Polizeigewalt, für das „nicht aufgeben“, für soziale Gerechtigkeit, für Individualität und gegen den konformistischen Mainstream und ja, auch für das hedonistische Soundsystem und das „in-die-Hecken-diven“ (Hedge-Core nannten sie selber mal ihre Musik damals). Operation Ivy gab es ja nur für zwei Jahre, von 1987 bis 1989, und sie wurden erst später massiv weltweit bekannt und das natürlich völlig zu recht.

Ihre (einzige) Platte „Energy“ ist korrekt benamt und der absolute Genre-Klassiker im Ska-Punk, niemand konnte, kann und wird es je besser machen . Neben dieser LP gab es dann noch ein paar Singles, zum Beispiel 1988 die „Hectic“-Debüt-EP (wie alles auf Lookout Records erschienen) und posthum 1992 noch die „Plea for Peace“-EP mit den Songs „Uncertain“, „Troublebound“, „Someday“, und „Plea for Peace“. Hinzu kommen noch einige Sampler-Beiträge, ihre erste Veröffentlichung war übrigens mit den zwei Stücken „I Got No“ und „Officer“ auf dem Maximum RocknRoll-Sampler „Turn it Around“ (1987). Und natürlich gibt es einige Bootlegs, auch mit schlechten Ramones-Coverstücken in bescheidener Qualität, aber eben auch ein tolles Bootleg mit gelbem Cover namens „Seedy“, dort findet man zum Beispiel eine super Version von „Unity“ mit Hörnern.

Die Band trat übrigens genau 185 Mal auf. Die bekannteste Operation Ivy-Coverversion ist von ihren Kumpels aus alten Punk-Tagen, natürlich Green Day, die „Knowledge” immer noch live spielen und dazu jemand aus dem Publikum auf die Bühne holen und Gitarre spielen lassen. Von Rancid gab und gibt es auch manchmal Operation Ivy-Songs live zu hören, leider verpasste ich diese auf ihrer ersten BRD-Tour 1993 in Köln, dort spielten sie wohl Operation Ivy-Cover (huhu Marc!).

This is Unity Music
Nach dem Ende von Operation Ivy und vor Rancid gab es die „mysteriösen“ Downfall mit Tim, Matt und dem Operation Ivy-Schlagzeuger Dave Mellow. Sie haben nur einige Samplertracks veröffentlicht (aber die haben es in sich, hört euch mal „Long way to go“ oder „North Berkeley“ (huhu Daniel!)) an, Tim singt da übrigens), ihre Debüt-LP sollte in all den Jahren mal erscheinen, aber daraus wurde nie was. Dave Mellow ging dann zu Schlong und Matt und Tim gründeten Rancid Anfang der 90er, wohingegen Jesse Michaels dann erst mal bei Big Rig mitmachte (Gründung 1993, Auflösung 1994, sie brachten eine EP raus). Dann startete er 1999 die Band Common Rider. Diese existierten immerhin bis 2003 und waren sehr sehr gut! Zwei Platten („Last Wave Rockers“ von 1999, „This is Unity Music“ von 2002) und eine EP gibt es. Schlussendlich machte Jesse dann noch die Band Classics Of Love, die es ab 2008 bis heute geben soll, ihre Facebook-Seite ist letztmalig 2013 aktualisiert wurden. Sie waren „ok“ (sorry Bela!) und fabrizierten eine EP und eine Platte. Benannt hatten sie sich ja nach dem Hit der Common Rider, eben „Classics of Love“.

Von Berkeley nach Los Angeles 2019: Malen, Schreiben, Kurzfilme
Jesse Michaels ist immer noch künstlerisch tätig. Damals designte er ja das „Ska-Man“-Operation-Ivy-Logo und das Artwork der Platten, dann war er u.a. auch graphisch für Filth, Neurosis und Green Day tätig. Er publizierte 2013 die Novelle „Whispering Bodies: A Roy Belkin Disaster“, war auf der Uni und machte dort seinen Abschluss, verbrachte aber auch mal für einige Monate Zeit in Nicaragua auf dem Bau und studierte Zen in San Francisco. 2015 schrieb er in seinem Blog, dass er momentan in drei künstlerischen Felder arbeiten würde: Visual Art, Schreiben und Film, dazu sagt er auch an anderer Stelle: „Die Punk-Attitüde, also grob gesagt für sich selber denken, subtile Formen von Konformität vermeiden und alles voller Energie und Überraschungen zu halten, das inspiriert meine gesamte Kunst“.

Jesse Michaels in the spotlight
Es ist schon seltsam, dass es bislang kein Buch über Operation Ivy gibt, aber es finden sich viele englischsprachige Interviews mit den Protagonisten im Netz und schließlich wird die Bandgeschichte durchaus in Larry Livermore´s Buch über Lookout Records thematisiert und in dem Film „Turn it Around – The Story of East Bay Punk“ schön visualisiert. In Larrys Buch fand sich auch die schöne Anekdote, dass er zu Jesse damals meinte, dass sie die Songzeile in „Freeze up“, also die Zeile „It´s 1988 and take a look around“ doch am besten zu „1989“ ändern sollte, da die Aufnahmen so lange Zeit in Anspruch nahmen. Dazu gibt es auch ein schönes Online-Feature namens „Journey To The End: Tim Armstrong, Matt Freeman and Lars Frederiksen talk to Larry Livermore about Operation Ivy, Rancid and that whole East Bay thing“ (von 2009, auf larrylivermore.com zu finden).

Es gibt nicht viele deutschsprachige Interviews mit Jesse im Netz. Joachim Hiller interviewte Jesse ausführlich und sehr gut für das Ox # 101 (2012, gibt es dort online). Und unser Daniel sprach mit Jesse fürs Trust # 99 von 2003 (online auf unserer Seite). Dort beschrieb Daniel sehr schön die Musik der Common Rider: „Es wabbelt sich durch einen netten Rocksteady bis hin zum schrammligen Crimpshrine-Punk, die Stimme ist nach wie vor phan-tas-tisch und die guten friedlich-ruhigen Vibes, die aus den Boxen kommen, massieren mein Hirn in angenehmster Form“.

Auf die Frage „Was ist eigentlich ein Common Rider? Was sind die „classics of love“ (der Titel und eine Songzeile der ersten LP)?“ antworte Jesse dort: „Common Rider – das ist kein feststehender Begriff oder so etwas; aber für mich birgt es das Bild eines stolzen Kriegers oder so was – aber ziemlich abstrakt eben. Der Songtitel bezieht sich auf allgemein anerkannte Lieder tiefer Bedeutung wie Jimmy Cliffs „The harder they come“ oder andere Songs, die den Hörer tief bewegen können. Profan gesprochen „Gute Lieder“.

Bemerkenswert auch Jesse Michaels Statement im erwähnten Gespräch mit Daniel: „Skapunk war sicher eines der schlimmsten Musikgenres, auch wenn der Neo-Swing-Trend der Neunziger genauso beknackt war. Um mich abzugrenzen, da sollte ich hier erwähnen, dass ich nie einem bestimmten Trend folgen wollte und wir seinerzeit, als wir ska-lastigen Punkrock spielten, uns vor allem von den fünf Millionen generischen Hardcore-Bands unterscheiden wollten, die in den ausgehenden Achtzigern alles beherrschten. Wie dem auch sei, Musikentwicklung ist schwer vorhersehbar.“

Jesse trat 2016 online auch in Erscheinung, als er bei dem Boykott gegen die 924 Gilman Street Stellung für Gilman bezog und ich wollte einfach auch mal mit dem Menschen reden, dessen Musik so unglaublich einflussreich für mich war und ist. Es gab drei Bands, die mein (musikalisches) Leben völlig auf den Kopf stellten. Wie bereits erwähnt waren das mit 12 die Sex Pistols, das war krass, ein mächtiger Punk-Türöffner und sie machten alles vorher zunichte, tschüss Limal, Jason Donovan, Bros! Zwei Jahre dann später stellte ich durch Operation Ivy fest, dass Punk also auch in „intelligent“ geht (um dann Jahre später beim ersten Mal N.W.A. hören festzustellen, dass eine Punk-Attitüde auch prima ohne Punk-Rock-Mucke funktionieren kann, aber das ist eine andere Geschichte).

„Skapunk war sicher eines der schlimmsten Musikgenres…“
Operation Ivy können ja wirklich nichts dafür, dass sie indirekt eine schreckliche Welle von unterirdischen Ska-Punk-Bands („am besten noch auf Deutsch“) auslösten, die die 90er dominierten und uns hier und da immer noch auf den Sack gehen. Wir erinnern uns, dass fast alle großen und kleinen Skate-Punk-Bands in den 90ern plötzlich Ska-Songs im Repertoire hatten, zum Beispiel The Offspring (zugegeben brillant auf der „Smash“ mit „What in the world happened to you?“), NOFX (toll, oft!), Ranicd (ach echt? Zugegeben großartig), Millencolin (fand ich damals geil, heute naja), Voodoo Glow Skulls (tolle erste LP), Skaking Pickle (kotz!) und noch tausend andere. Manchmal durchaus geil, das ja, aber eben oft jedoch penetrant nervend durch diesen Bierzelt-“Heeeyyyy, wir haben alle SOOO gute Laune, do the Ska, pick it up now“-Core.

Zum Glück haben Propagandhi 1993 dazu in „Ska sucks“ („The bands are only in it for the bucks, a message to you, Rudie: fuck you Rudie“)“ un
d SFA 1991 in ihrem genialen „Rudeboy“ alles wissenswerte formuliert: „Hey Rudeboy, I see you walking down the street in your $200 suit and your spit shine Doc Martens on. On your way downtown to see a Ska show. Rudeboy, you’re so cool. Rudeboy. Skinhead. Asshole! You tell me you believe in the Spirit of ’69, Rudeboy. Man, you were in fucking diapers back then, who are you kidding? And what is Ska music? That’s like second-rate beach blanket music…“.

Und dann auch das noch: Jesse war 1982 im zarten Alter von 13 Jahren als Sänger an der Gründung von Crimpshrine (allerdings unter dem Namen S.A.G.) beteiligt. Er verließ diese jedoch 1984 wegen „zu viel kiffen“ (laut Wikipedia) und die Band benannte sich dann in Crimpshrine um. Und was deren Name bedeutet, erzähle ich mal an anderer Stelle.

Finally möchte ich mich noch bei Dolf und Larry Livermore bedanken, die freundlicherweise den Kontakt zu Jesse Michaels herstellten. Hach ja, wie geil wäre es gewesen, hätte der Vorschlag eines Kumpels 1993 geklappt, bei Radio Leverkusen sich auf deren Aufruf zu melden, den Sommerhit 1993 einzureichen bzw. Vorschläge zu machen, „Bad Town“ von Operation Ivy wurde es dann leider nicht.

***

Hi Jesse, danke für deine Zeit für das Interview, es ist wirklich eine große Ehre für mich, mit dir sprechen zu dürfen. Du hast 2015 deinen Bachelor in Literatur an UCLA gemacht, warum warst du nicht in der legendären Uni Berkeley, sondern in Los Angeles?
Ich wurde in Berkeley angenommen, aber ich war in einer Art Trott in Oakland. Zu viele gleiche Gesichter, Situationen und Ideen für zu viele Jahre. Ich liebe die Bay Area, wollte aber eine Veränderung. Außerdem habe ich Literatur studiert. Berkeley ist akademischer und theoretischer als Institution, und ich fühlte, dass L.A. mehr mit der Welt im Allgemeinen verbunden war, also mit der Filmschule und der Industrie. Das passte besser zu mir und mein Instinkt erwies sich als richtig: ich liebe L.A.

Ist es bei dir immer noch so, dass du einen normalen Job hast und deine Kunst bzw. kreativen Tätigkeiten als Hobby stattfinden?
Ich habe verschiedene Dinge am Laufen und keinen normalen Job. Kunst ist mein Leben, aber ich bin nicht immer in der Lage, dann davon zu leben. Ich habe immer gesagt, dass Musik ein Hobby ist, denn als Erwachsener ist es unmöglich, in einer tourenden Band zu spielen, weil das Leben mit mehr Verantwortung verbunden ist. Wenn ich in einer sehr erfolgreichen Band wäre, dann könnte ich es vielleicht als ein Hobby betrachten, aber es ist einfach nicht praktikabel, Woche für Woche in den Clubs zu spielen, wenn man weit über seinen 20iger Jahren hinaus ist.

Was ist das beste kreative „Fenster“ für dich, um Kunst zu schaffen und zu schreiben? Manche sagen, sie machen es im „Bukowski“-Stil, d.h. nachts, Radio-Musik, Wein, Zigarren, haha? Wie hast du deinen Comicroman „Whispering Bodies: a Roy-Belkin-Katastrophe“ geschrieben?
Ich habe dieses Buch geschrieben, als ich schlecht bezahlte Jobs hatte. Das war ziemlich „Bukowski“-Syle, denke ich – außer eben, dass ich zu der Zeit meistens nüchtern war, haha. Ich musste einige Male um die 15 Minuten am Tag arbeiten. Der Schlüssel zur Fertigstellung eines Romans ist es, sich auch selber dazu zu verpflichten, ihn wirklich zu beenden, egal ob gut oder schlecht, also sich eben auch darum zu kümmern, ihn am Ende etwas aufzuhübschen. Der Grund, warum die meisten Leute keine Romane fertig stellen, ist, weil sie keine Romane fertig stellen. Punkt!

Für mich, also, ich habe ich mein Leben so eingerichtet, dass ich für ein paar Monate Geld verdiene, einschließlich des Verkaufs der kommerzielleren Bilder online und so weiter, und dann habe ich ein paar Monate mehr oder weniger „frei“. Natürlich ist es auch in dieser „freien“ Zeit manchmal ein Kampf, um dann auch wirklich zur Arbeit zu kommen. Es gibt soziale und andere Verpflichtungen, aber auch Verzögerungen. Aber ich schaffe es irgendwie, es so zu tun. Im Idealfall würde ich mit irgendeiner Form von Kunst genug Geld verdienen und der Kunst könnte ich dann 100 Prozent widmen, aber ich bin noch nicht da. Ich habe viele verschiedene Dinge gemacht – Musik, Film, Schreiben und Malen und im Moment fühlt es sich so an, als würde sich alles in der Malerei als meine Haupttätigkeit auflösen. Es dauerte eben nur 50 Jahre, um das herauszufinden.

Natürlich denke ich nicht, dass ich zu gut bin, um zu arbeiten, ich hatte im Laufe der Jahre viele Jobs, aber in aller Bescheidenheit fühle ich wirklich, dass die Kunst das ist, was ich am besten kann, einfach so ideal, dass es mein tägliches „Arbeiten“ sein könnte.

Hast du nie „ernsthaft“ versucht, einen Schritt in den Musikjournalismus zu versuchen, ich schätze, dein Name wäre doch wie ein „Türöffner“, um Zugang zu größeren Zeitschriften-Redaktionen zu bekommen?
Vielleicht ist das wahr, obwohl mein Name für einige Leute interessanter ist als für andere. Ich weiß nicht, ob Pitchfork oder Mojo so begeistert davon sein würden, aber wer weiß. Die Wahrheit ist, dass ich Musik mag, aber ich schreibe nicht wirklich gerne darüber.

Welche Künstler haben dich für deine Federzeichnungen, Graphit-Zeichnungen und Ölbilder beeinflusst, die „offensichtlichen“ Punk-Künstler wie Raymond Pettibon und Gee Vaucher oder wirklich alte Maler wie Picasso?
Als junger Punk-Künstler in meinen Teenager-Jahren und meinen Zwanzigern mochte ich Marc Rude, Pushead und Nick Blinko. Ich mag viele der neuen Punk-Künstler, also die, die ich gesehen habe, obwohl ich ihre Namen nicht kenne. Aber nachdem ich diese frühen Einflüsse aufgegriffen hatte, machte ich im Anschluss im Grunde genommen ausschließlich mein Ding. Für mich geht es in der Kunst mehr darum, wie man es macht, als darum, was man tut. Mit anderen Worten, es ist nicht so, dass man etwas sieht und dann sagt: „Ich würde gerne meine eigene Version davon machen.“

Stattdessen siehst du etwas und sagst dann „Ich will zeichnen“ – und dann trittst du in eine Art veränderten Zustand ein. Der kreative Teil kommt aus diesem speziellen psychologischen Raum der reinen Absorption. Es ist schwer, es in Worte zu fassen. Aber ich denke, jeder Künstler geht in diese Richtung und dann werden die Einflüsse ziemlich breit. In meiner künstlerischen Praxis bin ich von den Malern Picasso, Guston, Basquiat, Matisse und Baselitz beeinflusst. Ich behaupte nicht, gleichwertiges Talent zu haben, das sind aber die, die ich mag. Von dieser Gruppe mag ich dann Picasso am wenigsten, denn obwohl er ein Genie war, hat er auch jede Menge Mist produziert.

Planst du auch Kunstausstellungen in Europa?
Ich versuche, von der Punk-Kunst zur bildenden Kunst überzugehen. Die Welt der bildenden Kunst ist sehr hart, sehr launisch und schwer zu durchdringen. Wenn du dich in der falschen Art und Weise präsentierst, dann lehnen sie dich ab. Mein Traum und Ziel ist es, eine Vertretung als bildender Künstler von einer angesehenen Galerie zu finden. Es ist unmöglich, das an einen Zeitrahmen festzumachen, man muss eben kleine Schritte in Richtung dieses Ziels unternehmen, indem man Menschen trifft, lernt, arbeitet und wächst.

Du verkaufst immer noch Kunst meist über eBay oder wie könnten wir klassische Sachen von dir kaufen?
Ich bewege mich etwas weg vom Online-Verkauf, aber im Moment habe ich einen online-Shop unter jessemichaels.bigcartel.com. Ich verkaufe keine altmodischen, detaillierten und knorrigen Punk-Illustrationen, aber ich könnte das irgendwann in der Zukunft überlegen. Danke, dass du gefragt hast.

Du machst auch Kurzfilme als kreatives Projekt, kannst du uns mehr darüber erzählen? Wie sehen deine Pläne für die Zukunft aus?
Ich habe mehrere Kurzfilme gedreht, meist aus Spaß. Sie sind alle unter „Jesse Michaels Films and Videos“ auf Youtube zu sehen. Ich habe keine Pläne, mehr zu tun, es sei denn, ich sichere mir irgendwie die notwendige Finanzierung. Es tut mir leid, dass die Frage des Geldes immer wieder auftaucht, es ist ein langweiliges Thema, aber so ist eben das Leben in der kapitalistischen Welt. Ich werde weiterhin Mikrobudget-Dinge mit meinen Freunden und einem iPhone machen und werde die Resultate dann auf dem Youtube-Kanal veröffentlichen.

Der Kurzfilm war für meine Verhältnisse eine ziemlich große Produktion. Die wurde weitgehend „crowdfunded“, wofür ich sehr dankbar bin. Es ist ein Studentenfilm, aber ich denke, er funktioniert. Ich möchte eines Tages noch einen weiteren Film drehen, aber wie gesagt, einen Film zu machen, das ist teuer und ich habe meine Bemühungen nach vielen Jahren, in denen ich viele verschiedene Dinge getan habe, auf die Malerei als meine Haupttätigkeit konzentriert.

Ich habe den „Turn it Around“-Film über die Szene in der East Bay in den letzten 40 Jahren noch nicht gesehen, du kommst ja auch drin vor, wie findest du den Film? (mittlerweile gesehen, absolut grandios!)
Ich fand ihn toll. Es gab bestimmte Personen aus der alten Szene, die die Erzählung ein wenig „kontrollierten“, aber das ist jetzt kein großes meckern meinerseits, nur eine Beobachtung. Manchmal ist es halt so, dass die selbst-bewusstesten Persönlichkeiten anfangen, die Geschichte zu lenken. Vielleicht die ganze Zeit. Aber insgesamt fand ich, dass es ein sehr temperamentvoller und ziemlich erhellender Blick auf diese Szene war. Vielleicht das Einzige, was ich als ganz kleine Kritik sagen würde, ist, dass es mit der Gilman Street etwas übertreiben wird, so von wegen „als das Wichtigste, was jemals in der Bay Area passierte“, als ob fast alles, was vorher passierte, nur eine Vorgeschichte war.

In gewisser Weise stimmt das ja für den Markt, für Green Day und die ganze Welt blablabla. Das ist auch kein Problem, aber ich denke wirklich in Bezug auf die pure rohe Energie und im Hinblick auf die echten Außenseiter, dass die frühere Szene vor Gilman eigentlich viel interessanter war. Natürlich war die Energie damals manchmal ein wenig zu rau und viele viele der ursprünglichen Menschen sind entweder an Aids oder Heroin gestorben. Es ist wirklich ein schöner Film mit vielen tollen Szenen. Das Zeug über die Oakland-Band Kwikway ist zum Beispiel unbezahlbar. Diese Typen hatten niemanden, der sie unterstützte. Sie erfanden da ihre eigene, völlig verrückte und urkomische Weltanschauung und ihre eigene Musik und sie gestalteten die Dinge echt unique. Das ist Punkrock.

Ich denke, dass in gewisser Weise ein einzelnes Konzert, das an einem der alten Veranstaltungsorte wie dem „Tool and Dye“ oder dem alten „Mab“ (Anmerkung JR: Mabuhay Gardens) stattfand, genauso interessant wäre wie die komplette Geschichte der Gilman Street, weil es eben damals so wild, „edgy“ und gefährlich war. Aber, ich weiß nicht. Ich will Gilman auch nicht abschreiben. Die Mythologie unterscheidet sich manchmal von der Realität vor Ort, das ist alles, was ich sage und es gab natürlich auch viele erstaunliche und großartige Dinge in der Gilman-Szene.

Du hast die wunderbare Kunst für den Film geschaffen, also arbeitest du immer noch als Illustrator für Plattencover, Shirts und so weiter?
Nicht wirklich. Ich mache nicht viel von dieser Art von Illustrationen, aus zwei Hauptgründen: Ich genieße es einfach nicht und ich bin nicht gut in Photoshop. Ich male gerne, ich mag die Freiheit der Skizze und des Pinsels. Diese „pointillistischen“ Zeichnungen zu machen ist wie eine Operation. Ich hasse es nicht, aber es ist nicht gerade etwas, das ich zum Spaß mache.

Du hast ein Vorwort für das 2009 erschienene Buch „Gimme Something Better: The Profound, Progressive, and Occasionally Pointless History of Bay Area Punk from Dead Kennedys to Green Day“ verfasst. Ich meine, dass du da geschrieben hast, dass in dem Buch auch einige Arschlöcher vorkommen werden, wen meintest du da eigentlich, den Fang-Sänger, die SF-Skins um Mark Dagger?
Die Szene in den frühen 80er Jahren war voller extrem gewalttätiger Menschen. Es gab gewalttätige Skinhead- und gewalttätige nicht-Skinhead-Gangs. Ich spreche da von jedem, der unschuldige Opfer in Gruppenangriffen verprügelt hat. Ich denke immer noch, dass es das Feigste und Ekelhafteste ist, was ich je in meinem Leben gesehen habe und ich habe es viele Male bei Auftritten in dieser Zeit miterlebt.

Das ist das „Lustige“ daran, die Leute denken, dass es bei den alten Shows viele „Kämpfe“ gab. Nun, wenn man das so versteht, dass fünf Leute eine Person im „Kampf“ zusammenschlagen, dann nehme ich an, dass das wahr ist. Die Shows waren großartig und die rohe und kompromisslose Kreativität war toll, aber die Gewalt war eben scheiße. Das ist alles, worauf ich mich bezogen habe. So schlecht die Bay Area auch war, in Los Angeles war alles noch viel schlimmer. Viele Menschen wurden bei oder in der Nähe von Punk-Shows in L.A. fast zu Tode gestochen oder geschlagen.

Entschuldige im Voraus, aber natürlich muss ich dich zu Operation Ivy befragen. Ich habe mich immer gewundert, ob es stimmt, dass ihr euren Bandnamen von der so benannten Serie von Atombombentestes 1952 hattet – oder ob es nicht eher eine Anspielung auf euer Hobby „Hedge diving“ ist, also Motto „Wir springen in den Efeu/Operation Efeu“? Weil warum sollen Atombombentests nach der „Operation Efeu“ benannt werden?
Damals waren wir in Mod-Ska und Punk verliebt. Two-Tone-Ska hatte schon immer einen Spionagefilm- bzw. „Get smart“-Vibe auf intelligente Art und Weise. Kalifornische Bands wie The Untouchables und The Uptones haben sich dem angenommen. Wir suchten nach einem Bandnamen und die Band Isocracy hieß früher „Operation Ivy“. Aber dann hörten sie auf, diesen Namen weiter zu benutzen. Wir fragten sie dann, ob wir ihn nehmen könnten. Es passte zu dieser „Spionage“-Ästhetik. Außerdem war es der Name des Bomben-Tests, das hörte sich irgendwie punkig an. Ich meine, wir würden es nicht so ausdrücken, aber du weißt schon. Die Pilzwolke war in den 80er Jahren eine totale Punk-Sache. Es hat also funktioniert und wir haben es genutzt.

Einer meiner Lieblingsstücke von euch ist „Hoboken New Jersey”, ich habe den Text nie ganz verstanden, worum geht es da eigentlich?
Tim hat die meisten Texte geschrieben. Es ging da um eine Art unglückliche Liebesaffäre, die er hatte, als er 1985 oder so in Hoboken in New Jersey war. Ich kenne ehrlich gesagt nicht die ganze Geschichte. Ich half ihm, die Worte mit irgendeinem Scheiß auszufüllen, die ich mir gerade ausgedacht hatte und da hast du es.

Dann liebe ich noch total „Bad town“, weißt du noch, wie ihr den damals gemacht habt?
Dieser Song entstand durch eine Show, die wir in L.A. mit The Offspring und ein paar anderen Bands gespielt haben. Bei der Show gab es Gewaltausbrüche und Gang-Schlägereien. Wie gesagt, L.A. war ziemlich hart. Die Kids sprangen auf die Bühne und schlugen eine der Bands zusammen, ich glaube, es war Ill Repute, obwohl ich mir nicht sicher bin, die Erinnerungen verschwimmen alle irgendwie zusammen. Ich denke, einer der Jungs von The Offspring wurde auch irgendwie mit einem Messer verletzt. Die ganze Sache war einfach ein totales Chaos. Tim schrieb den gesamten Text zu diesem Song und der basierte eben hauptsächlich auf dieser Erfahrung. (siehe Anmerkung am Ende des Interviews).

Worum geht es eigentlich in dem tollem Song “Left behind”?
Der Text bzw. die Inspiration zu diesem Lied stammte von Jeff Ott vom Crimpshrine. Er war ein großartiger und kreativer Kerl und er kämpfte, weil er als als Obdachloser endete und dann große Schwierigkeiten hatte, sich dann wieder in die Gesellschaft einzufügen. Ich habe das Lied über ihn geschrieben, aber eigentlich hätte es auch um mich gehen können. Wir beide fühlten uns einfach irgendwie außerhalb des Mainstreams der Gesellschaft und hatten Schwierigkeiten, die normalen Dinge zu tun, die die Menschen eben tun, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und so weiter. Wir haben auch beide eine Menge Drogen genommen. Heutzutage geht es uns beiden gut und wir sind nüchtern, aber in diesen Texten ging es um die Erfahrung, ein junger Außenseiter zu sein.

Man sieht dich im „Energy“-Booklet mit einem Clash-Shirt, du müsstest ja großer Fan von ihnen sein, sie waren ja mit die ersten, die Punk mit Reggae gemischt haben.
Ich war schon immer ein großer Fan von The Clash. Ich höre sie nicht mehr so oft, aber ich liebe sie immer noch und historisch gesehen waren sie meine Lieblingsband. Die Mischung mit Reggae war für mich nicht so wichtig, obwohl das ein cooles Element war. Mit anderen Worten, wenn sie nur Punk und Rock´n`Roll spielen würden, dann würde ich sie wahrscheinlich genauso sehr mögen. Es ist die Poesie und der Geist der Musik, den ich so bei ihnen liebe, sowie die Energie und Romantik der ganzen Sache. Es gab in diesem Zeitraum viele großartige Bands aus Großbritannien und Europa im Allgemeinen, aber für mich waren The Clash einfach mein Favorit.

Am Ende haben sie im Laufe der Jahre viel schwaches Material herausgebracht, aber wenn man ihre Karriere als Ganzes betrachtet, dann haben sie vierzig unbestreitbar großartige Songs. Punkt. Unleugbar. Neunzig Prozent der ersten drei Alben, fünfzig Prozent der Black Market-EP und vielleicht sieben Prozent von allem anderen, was dann noch später kam, also, dieses ganze Zeug ist erstklassig und in der Summe ergibt das etwa vierzig großartige Songs (ich habe diese Rechnung jetzt gemacht, weil ich ein verrückter Mensch bin). Wie viele Bands können das schon von sich sagen?

Du hast ja auch später mal mit Tim und Matt bei Rancid live einige Operation Ivy-Stücke gespielt, fühlte sich das nicht seltsam an und weißt du noch, welche Songs es waren? Warst du eigentlich je neidisch auf den Erfolg von Rancid?
Wir haben „Unity“ und „Sound System“ gespielt. Oder vielleicht war es nur „Unity“? Ich schätze, ich habe „Unity“ und „Sound System“ mit Leftöver Crack gemacht und es war dann mit Rancid nur „Unity“. Das Seltsamste daran war eigentlich nur, dass Dave (von Operation Ivy) nicht mitspielte, niemand trommelte so wie er, also fühlte es sich fremdartig an. Es war einfach nur eine lustige Sache, es funktionierte und alle waren danach glücklich. Ich bin nicht eifersüchtig auf Rancid, ich wünsche ihnen nur das Beste und bin wirklich glücklich über all ihren Erfolg. In meinem Leben verspüre ich Eifersucht in Bezug auf andere Dinge, Rancid ist aber keins von diesen. Ich würde mehr darüber erzählen, aber ich will die negativsten Aspekten meiner Psyche nicht noch öffentlich befeuern. Bringt nur Unglück.

Hast du mit Tim/Lint und Matt Freemann noch Kontakt?
Tim lebt in L.A. und wir bewegen uns teilweise in den gleichen Kreisen, also sehe ich ihn von Zeit zu Zeit. Es ist immer schön, sich zu informieren, was beim anderen gerade so ansteht. Er hat einen guten Sinn für Humor und ist ein interessanter Kerl und immer beschäftigt. Er hat sein komplettes Studio hier in der Stadt, in dem er Bands aufnimmt. Matt treffe ich weniger, aber dann ist es auch immer schön, ihn zu sehen.

Dein „Ska-Man“-Logo ist übrigens auf der Eingangstür des geilsten Squats der Welt, dem AJZ Bahndamm in Wermelskirchen, als Graffiti verewigt, danke!
Das ist wirklich eine Ehre. Ich bin stolz und dankbar, das zu hören (Anmerkung JR: höre gerade aus Wermelskirchen, dass es das nicht mehr gibt! Spalter!).

Wie kam es eigentlich dazu, dass du mit Leftöver Crack 2015 in einem Plattenladen „Sound System” und „Unity” gemacht hast?
Das war auch eine Sache, bei der jemand die Idee hatte und ich sagte nur „Warum nicht“. Styza (Anmerkung JR: Sänger von Leftöver Crack) sprach mich an, ob ich ein Video für sie drehen könnte, was ich dann auch tat. Wenn ich jetzt darauf zurückblicke, dann denke ich, dass das Video nicht sehr gut ist, weil ich einfach nichts über Beleuchtung wusste. All meinen Regie-Scheiß, den habe ich immer durch „learning by doing“ gelernt, d.h. auch meine weniger guten Ergebnisse sind in der Öffentlichkeit zu sehen, egal ob das nun gut oder schlecht ist.

Wie auch immer, es ist ein toller Song und es war eine große Ehre, gefragt zu werden. Als Teil der ganzen Sache haben wir einige live-Aufnahmen gemacht und dieser Ort war eher ein Künstler- bzw. Community-Ort statt einem Plattenladen. Wie auch immer, es war ein lustiger Auftritt. Wir haben es hauptsächlich gefilmt, um dann so das Live-Material für das Video zu bekommen, das ich von ihrem Song „System Fucked“ gedreht habe. Und Styza hat vorgeschlagen, dass wir auch einige Covers einspielen, also haben wir es dann auch getan.

Macht es dich melancholisch, dass es Lookout nicht mehr gibt? Wobei, am Ende war es ja nicht mehr lustig und ihr habt dann die Rechte an Hellcat Records, ein Sublabel von Epitaph, das von Tim geführt wurde, übertragen. Ich las, das du kürzlich künstlerische Projekte mit dem früheren Lookout-Chef Chris Applegreen realisiert hast, dann scheint ja zwischen euch also alles immer noch gut zu laufen?
Ja. Chris ist ein toller Kerl und guter Freund. Er war jung und unverantwortlich, als ihm die Chefrolle übertragen wurde. Er war einfach nicht bereit dafür. Ich denke nicht, dass er zu hart verurteilt werden sollte. Wir alle machen Fehler, seine Einsätze waren nur einfach viel höher als bei den meisten anderen Leuten. Natürlich fühle ich auch mit, also in Bezug auf die vielen Menschen, die Geld verloren haben, darunter Mitglieder meiner eigenen Band und andere enge Freunde. Aber ich werde jedem sagen, dass Chris ein gutherziger Mensch mit guten Absichten ist, der durch diese ganze Erfahrung einfach nur gewachsen ist.

Konntest bzw. kannst du eigentlich von den Operation Ivy-Tantiemen leben?
Nein. Die Plattenindustrie ist nicht mehr das, was sie einmal war. Aber ich bekomme immer noch ein wenig Geld und es hilft mir sehr bei meinem bohemischen Lebensstil.

Warum haben sich die tollen Common Rider aufgelöst, euer „Classics of Love“-Song hätte in einer gerechten Welt auf die Nr. 1 der Charts gehört!!!
Vielen Dank! Wir haben viel Energie in diese Platte gesteckt und obwohl die meisten Leute eine gemischte Reaktion dazu dann zeigten, gibt es auch welche, die die Platte wirklich lieben und ich bin froh, dass es diese Ohren gefunden hat. Diese Band war ein wiederkehrendes „On-Off-Again-Projekt“ und die Mitglieder waren in alle Himmelsrichtungen verstreut. An einem bestimmten Punkt entschied ich mich für eine Pause und dann wollte ich später etwas mit Leuten vor Ort zu machen, was dann zu der eher punkigen Band namens „Classics of Love“ führte. Ich weiß es nicht. Alles hat seine eigene natürliche Dauer.

In einem Song auf der „Last wave Rockers“, in „Rise or Fall“, beschreibst du da dich selber und deine Probleme mit dem trinken?
Ich glaube schon, ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr erinnern.

Du hast an dem Green Day-Song „2000 Light Years Away“ von 1992 mitgeschrieben, tausend Dank, der ist soo geil!
Danke. Ich habe im Grunde genommen nur das „Stimm-Muster“ geschrieben, also die Melodie, die Billie auf dem Vers bzw. in dem Timing singt. Aber seien wir ehrlich, davon abgesehen ist es alles andere von Billie.

Du warst ja schon Gilman-Mitglied vor der allerersten Show dort, gehst du noch ab und zu dahin auf Konzerte?
Nicht wirklich, weil ich ja in L.A. bin, aber ich würde es nicht ausschließen.

Und du hast ja online bei dem Boykott-Bericht gegen die Gilman auf der Webseite vom East Bay Express in einem Kommentar Stellung für die Gilman bezogen, kannst du uns deine Position kurz erläutern, war es so dieses „ihr seid viel zu PC mit eurer Kritik an der 924 Gilman“?
Ich weiß nicht, ob ich mich an die ganze Sache erinnere, aber die Hauptlinie davon war wie folgt: ich war schon immer vom linken Flügel, aber die Linke in Berkeley und an vielen anderen Orten, die sind völlig verrückt geworden. Viele so genannte Progressive verwenden den größten Teil ihrer politischen Agenda dazu, Leute ausfindig zu machen, die sie dann kleinmachen können, weil sie vielleicht einen schlechten Witz machten, das falsche T-Shirt trugen oder mit der falschen Person befreundet waren. Das ist nicht fortschrittlich, das ist Totalitarismus.

Die ganzen Beschwerden über Gilman waren Bullshit. Die wirklich empörende und heuchlerischste Sache ist, dass Gilman in Wirklichkeit ein sicherer Ort für viele queere und obdachlose Kids, für People Of Colour und andere, extrem marginalisierte, Gruppen ist. Wer waren denn die Leute, die die Anschuldigungen erhoben haben? Überraschung Überraschung, neunzig Prozent von ihnen waren wohlhabende weiße Erwachsene mit teuren Hochschulabschlüssen. Eine der Personen, die die Anklage öffentlich anführte, die hatte echt noch nie einen Fuß in den Club gesetzt. Einige von denen hatten legitime Punkte, aber das ist auch kein Grund, dann zu versuchen, eine lokale Institution dauerhaft zu schädigen. Und die meisten waren völlig beschissen. Die ganze Sache war sinnlos.

Magst du die anderen alten Ska-Punk-Bands wie The Offs, Mighty Mighty Bosstones und Murphys Law?
Wusste nicht, dass Murphy’s Law Ska spielt. The Offs? Von 1982? Oder gibt es neue? Ich mag die Bosstones. Ich höre heutzutage hauptsächlich Jazz.

Und magst du Reggae immer noch? Ich liebe die Klassiker, d.h. Musiker wie Marley, Cliff, Tosh, King Tubby, Desmond Dekker, Tooth and the Maytals, Lee Scratch Perry, African Headcharge und On-U-Dub. Aber was immer nervig war, war die ganze religiöse Stimmung, aber ich liebe auch frühe Shelter-Platten und ich kann das Krishna-Ding dort auch nicht ertragen. Kannst du diese Rasta-Sache ignorieren oder stört es dich nicht? Eine andere Sache ist diese manchmal virulente anti-homosexuelle Botschaft, aber auch FEAR und The Descendents hatten ihre leicht anti-gay Vibes und ich liebe beide Bands.
Ich mag 70er Jahre Reggae. Von meiner Einstellung her bin ich pro-Schwule und ich höre keine explizit homophobe Musik. Ich mag die Bad Brains und denke, dass ihre Philosophie in gewisser Weise scheiße war. Aber ich fühle es auch eben so, dass ihre Musik so kraftvoll und universell ist, dass sie über das hinausgeht, was sie dann konkret vor Ort gedacht haben. Wenn sie spielen, transzendieren sie in eine andere Realität.

Es gab diesen neueren Stil namens Dub-Step, aber das war nichts für mich, hat es für dich gerockt?
Es ist in Ordnung. Ich mag Grime.
Ok, ich konnte nicht widerstehen, dir noch die naheliegende Frage zu stellen: da es nicht so aussieht, als würde eine Minor Threat-Reunion passieren, aber andererseits die mächtigen ABBA wieder zurückkommen, würde nicht der Toursupport von Operation Ivy für ABBA total Sinn machen, haha?
Wahrscheinlich nicht für ABBA, aber das wäre ein Gig, zu dem ich gehen würde. Sie sind großartig.

Vermisst du Berkeley?
Wann immer ich es vermisse, dann besuche ich die Stadt einfach!

Warst du “stolz”, als Throbblehead-Figur in Erscheinung zu treten oder war es eher so “Oh well…”?
Definitiv “Oh well”. Das war eine Sache, bei der ich immer sagte: Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, und dann sagte ich einmal JA und dann wurde es gemacht. Der Typ, der es dann fertigte, ist ein netter Kerl und es ist gut, in der Gesellschaft von Joey Shithead und Wendy O. Williams zu sein, also keine Beschwerden von meiner Seite.

Ich danke dir sehr für deine Zeit, psychedelische Grüße aus dem kalten Deutschland an die Westküste!
Danke. Ich liebe Deutschland und die Leute dort, echt wirklich. Ich würde gerne eines Tages vorbeikommen. Und bitte druck das hier mit ab: liebe Leser, wenn ihr Tippfehler seht, bitte entschuldigt mich, ich musste alles in einer Sitzung erledigen und hatte keine Zeit zum Bearbeiten. Und wir alle wissen, dass die Deutschen besser Englisch sprechen als die Amerikaner! Als ich ein Kid war, da schaute ich wirklich zu Dolf vom Trust auf, weil er einer der älteren Punkrocker war, die beim Maximum RocknRoll Zine abhingen. Europäischer Punk und Hardcore, das war in den 80er total abgefahren und einfach völlig erstaunlich und das Trust war die ultimative Spitze von dieser ganze Szene, sozusagen ganz oben im Mastkorb. Ich freue mich, endlich im Heft aufzutauchen (Anmerkung JR: die Tippfehler gehen natürlich auf meine Übersetzungskappe und im Trust erschien er ja schon mal mit einem Interview, siehe Einleitung).

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Anmerkung:
Jesse scheint sich hier auf ein Konzert von Operation Ivy in Los Angeles Ende der 80er zu beziehen, dass auch in meinem Interview mit Jimmy Alvarado vom Razorcake Zine Thema war, denn Jimmy war damals auch dabei und schilderte das Konzert so:

„Ich sah Operation Ivy im Erholungszentrum eines Parks namens Toberman Hall hier in L.A., mit Ill Repute, Isocracy und Reason to Believe. Sie waren ziemlich gut live, vor allem wegen des enthusiastischen Publikums. Slammen war kaum richtig möglich, weil die ganzen Leute am skanken waren, aber skanken war auch wiederum nicht so richtig möglich, weil zu viele am slammen waren, also war die ganze „Pit“-Situation nur ein wirbelndes, chaotisches Durcheinander von jungen Menschen, die viel Spaß hatten. Reason to believe waren auch gut, Isocracy musikalisch langweilig, aber visuell witzig – anstatt T-Shirts und Bandmaterial wegzuwerfen, schmissen sie alte Kleider aus einem Kleiderkorb auf der Bühne rum. Ill Repute spielten zuletzt. Das war, als sie eine „Rock“-Phase durchliefen, also begannen sie mit einem Cover von Led Zeppelins „Rock and Roll“, spielten dann ihren Original-Song „Party Animal“ von Mystic Records zweiter „We Got Power“-Compilation und dann einen weiteren Rock-Song.

Mit dem vierten Song oder so erkannte das Publikum, dass die Band nicht mit dem „Rock“-Zeug herumscherzte und begann, die Band mit der Kleidung zu bewerfen, die Isocracy vorher in den Raum geworfen hatte. Es war dann entweder eine Getränkedose oder ein Schuh, der den Bassisten traf, er watschelte in die Menge, schlug den Kerl, der das warf und ging zurück auf die Bühne, um weiter zu spielen. Die Menge stürmte die Bühne, um die Band anzugreifen, und von da an wurde der Scheiß verrückt. Meine damalige Freundin und ich gingen nach draußen, um die Freunde zu finden, mit denen wir kamen, ein Aufstand war in vollem Gange, mit einer der örtlichen Straßengangs, die gegen die Polizisten kämpften, die aufgetaucht waren. Als wir den Park verließen, um zum Auto zu gelangen, feuerte eines der Gangmitglieder mit einer Schrotflinte auf einen Polizeihubschrauber. Gute Zeiten“.

Interview: Jan Röhlk
Kontakt: jessemichaels.bigcartel.com, twitter.com/jesse9michaels

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