IAN SVENONIUS (#160, 06-2013)
„Es ist etwas unmenschlich, wenn man all diese toten Menschen von den Platten hört“
Obwohl die Bands von Ian Svenonius rein musikalisch meist eher im Rock’n’Roll- bis Soulbereich angesiedelt waren, wurden sie stets auch im Punk/Hardcore-Kontext wahrgenommen. Nation Of Ulysses sorgten Ende der 80er in Washington mit ihrem Stil noch für eine Neuinterpretation des Post-Hardcores und gelten heute als Hauptinspiration für At The Drive-In oder Refused. Beide reunionierten sich im Sommer 2012 für wenige Wochen, um sich auf den riesigen Festivalbühnen der westlichen Welt herumzutreiben.
Nach Nation Of Ulysses gründete Svenonius unter anderem The Make-Up und Weird War, doch beide Bands bestanden nur für ein paar Jahre und wurden nur innerhalb eines recht eng gesteckten Rahmens wahrgenommen. Über die Jahre betätigte sich Svenonius außerdem als Autor, Talkshowmoderator, Schauspieler und DJ, auch wenn wir hier in Europa nicht immer wirklich mitbekamen, was er jetzt schon wieder so alles treibt. Die erste Tour seiner jetztigen Band Chain & The Gang haben wir deshalb irgendwie verpasst. Mit „In Cool Blood“ (K Records) ist nun bereits das dritte Album innerhalb von drei Jahren erschienen und dieses Mal haben wir rechtzeitig von der Europatour der Band Wind bekommen.
So treffen wir einen vom Jetlag gezeichneten Ian Svenonius im Backstagebereich des Festsaals Kreuzberg in Berlin. Kurz nach dem Soundcheck seiner Band setzt er sich auf das Sofa vor uns und fragt, ob wir gerne reden. Irritiert bejahen wir die Frage. Als wir gerade mit dem Interview beginnen wollen, legt er sich auf das Sofa und schließt die Augen. Während unserer Einstiegsfrage richtet er sich zum Glück wieder auf. Ian wirkt von der Reise ziemlich angeschlagen und das Reden scheint ihm schwerzufallen. Er spricht langsam, seine Satzkonstruktionen sind zum Teil arg umständlich und er verbessert sich laufend. Es ist, als fiele er sich immer wieder selbst ins Wort. Vielleicht hat er aber auch einfach nur viel zu viel zu erzählen und weiß selbst nicht so recht, wie er das alles in der kurzen Zeit, die wir nur haben, ausdrücken soll.
Ian, Du hast mal gesagt, dass Rockbands Gangs sind und der Bandname Chain & The Gang davon abgeleitet ist. Wesentliche Eigenschaften von Gangs sind ihre Solidarität und die Ablehnung von Autoritäten. Beides ist in unserer Gesellschaft selten geworden. Straßengangs wurden durch Drogenbanden oder bewaffnete Polizeieinheiten ersetzt und Punks können Rockstars werden. Ist es heute eine utopische Idealvorstellung, eine Rockband als eine Gang zu sehen?
Das organisatorische Modell der Band ist von dem der Straßengangs abgeleitet. Während der industriellen Revolution waren Straßengangs ein allgegenwärtiger Teil des amerikanischen Lebens. Als damals unterschiedlichen Ethnizitäten in den Nachbarschaften zusammenkamen, schufen die Leute Alternativökonomien, verschiedene Identitätsstukturen und solche Sachen zur Wahrung ihrer Sicherheit und ihrer Identität. Die Rockgang und vieles von ihrem philosophischen Fundament ist gewissermaßen eine kommerzielle Version einer Straßengang, also diese Art Hass auf Autoritäten und die Einheitsgesellschaft, sowie die Idee, sich abseits des normalen Lebens zu bewegen. Egal ob das den Tatsachen entspricht oder nicht, gibt es dennoch bei einer Rock’n’Roll Band immer eine mythische Komponente, obwohl sie kommerziell sind, denn in gewisser Weise sind sie Teil der Alkoholindustrie. Rockgruppen werden benutzt, um alles Mögliche zu verkaufen, wie alles andere auch. Trotzdem ist es mehr, denn es gibt diesen Mythos.
Was der Cowboy für Amerika ist, ist die Straßengang für die Rock’n’Roll-Band. Der Westen ist nicht mehr der endlose frontier und das damit verbundene Heldentum, aber vielleicht war er das auch ohnehin nie wirklich. Dieses mythische Fundament muss auch gar nichts mit der Realität zu tun haben. Das sind nur philiosophische Selbstbilder. Den Menschen ist diese Art der Organisation nicht bewusst, weil es den Platz der Gang eingenommen hat. Sobald die Gangs aus dem Leben verschwanden, wurden sie durch Rockbands ersetzt. Im Kapitalismus werden nur Dinge respektiert, die einen Warenwert besitzen. Es geht um Geschäfte. Die Mafia wird respektiert, weil sie Geschäfte wie Erpressung, Prostitution und Drogenhandel betreibt. Gewöhnliche Straßengangs sind eher soziale Einheiten, sie haben keine kommerzielle Komponente. In unserer Gesellschaft werden Dinge aber nur respektiert, wenn sie eine kommerzielle Komponente beinhalten. Die Rockband hat also die Straßengang ersetzt und das ist die Idee. Im Kapitalismus existiert etwas nicht, wenn es keinen Geldaspekt beinhaltet.
Bleiben wir mal bei diesem Bild der Rockband als Gang. Eine Gang ist gewöhnlicherweise ein lebenslanges Bündnis. Du dagegen warst im Laufe der Jahre in verschiedenen Gangs beziehungsweise Bands. Löst du eine Band ganz bewusst auf, um eine neue zu gründen? Wäre es eine Option, einfach mit einer bestehenden Band weiterzumachen?
Bands sind in einem Kontext am interessantesten, zumindest wenn man es selbst macht. In einem anderen Kontext hört es aber möglicherweise auf, Sinn zu ergeben – ob der Kontext nun für Außenstehende offensichtlich ist oder nicht. Meine erste Band schien mir oder anderen Mitgliedern irgendwann nicht mehr relevant zu sein, also haben wir eine neue Band gegründet. Es gibt ja auch diese andere Idee, dass man seine Gruppe wechseln kann, um die Sache wieder von vorn anzugehen. Es ist etwas konservativ, immer an die gleiche Sache gebunden zu sein. Bands sind gewissermaßen Marken und es ist schwer, eine neue Marke zu etablieren. Ich nutze dieses kommerzielle Sprache ganz bewusst, weil die Ideen von Markenidentität oder Selbstvermarktung einfach jeden auf der innersten Ebene betreffen. Jetzt erscheinen Gruppen weniger zentral, weil man mit Computern andere Ideen von Markenbildung hat. Es wäre eine Option, aber es erschiene mir nicht relevant. Rückblickend erscheinen Bands losgelöst von ihrem unmittelbaren Kontext. Die Dinge, auf die wir bei unserer Gründung reagiert haben, sind retrospektiv nicht mehr so offensichtlich. Damals passte es aber zusammen. Alle meine Bands basierten auf dem Touren und Livespielen. Die Platten sind eine Art Ergänzung. Das ist die Platte, aber das sind nicht wir. Es gibt Bands, die sind das Gegenteil, da ist die Platte die Band und die Bands sind selbst nur dessen Objekt. Bei anderen Bands wiederum ist die Platte nur ein Souvenir von der Band.
Das ist interessant, weil wir das Gegenteil angenommen hätten. Alle deine Bands waren sehr produktiv und haben viele Platten in einer relativ kurzen Zeitspanne veröffentlicht.
Ja, weil wir uns nicht unter Druck setzen. Wenn wir drei Jahre an einer Platte arbeiten würden, dann erschiene sie und das [haut auf dem Tisch] ist sie es dann! Das ist gewissermaßen eine andere Art von Band. Dass wir Kram produzieren, ist Teil des Prozesses, eine Band zu sein, die Geräusche macht. Das nimmt man auf. Das ist ein geerbtes Format, welches jedoch keine meiner Gruppen erfunden hat. Wir haben es geerbt, weil wir in eine lange Abstammungslinie von Bands getreten sind und wir wiederholen, was diese Bands gemacht haben. Existierend in dem Rock’n’Roll Kontext können wir lediglich den Kontext adressieren. Wir erfinden ihn nicht. Im Kapitalismus existiert also in gewisser Weise die Musikgruppe, die sich nebenbei einer kommerziellen Version der Straßengang annähert. Genauso ist eine Band eine Maschine und nähert sich den Maschinen der Industrialisierung an, die sie erst hervorgebracht haben. Es sind Menschen, die zu einer Maschine werden, wenn sie zusammenarbeiten, um diese Sache zu produzieren. Sie produzieren aber nicht die Platte sondern Geräusche.
Die Platte ist ein Ersatzteil für die Maschinen. Wenn die Maschine schlapp macht, dann ist es nur noch eine Platte in einem Warenhaus. So kann man sich immer noch auf das Ersatzteil beziehen. Das ist eine vollständige Mechanisierung des Menschen. Wenn sich eine Band auflöst, sind die Menschen traurig. Es ist merkwürdig, denn in gewisser Weise gibt es die Band ja noch, man hat ja die Platte und das ist die Gruppe. Die Gruppe hat sich zu einer Maschine gemacht, die immer wieder das gleiche machen kann. Man kann sagen, dass der Selbstmord von Kurt Cobain schrecklich ist. Wir haben Cobain aber für immer, denn er ist gefangen. Und er kann für alles benutzt werden, für das ihn seine Verleger verwenden wollen. Wie James Brown, der wurde auf der ganzen Welt, für alle Arten von Produkten und zu jeder Zeit benutzt. Er kann niemals ruhen, er wurde nicht nur in einen Zombie verwandelt sondern in eine Million Zombies. In diesem Sinne ist eine Platte nicht nur die Mechanisierung des Menschen, sondern eine Art Transformation des Menschen in einen Sklavengeist. Es ist etwas unmenschlich, wenn man all diese toten Menschen von den Platten hört und an die Art und Weise denkt, in der sie benutzt werden. Man kann sagen, dass ist toll, man ehrt die Person damit. Doch wenn man die Person in einem Pizza Hut-Werbespot hört, ist es keine Ehre. [zögert] Vielleicht ist es das aber auch, vielleicht wäre die Person sehr erfreut, in einem Pizza Hut Werbespot zu sein.
Eine positive Sache daran ist, dass man immer noch die alten Sachen hören kann, wenn sich eine Sache zu etwas wandelt, was man nicht mehr mag. Man kann sich immer noch die alten Metallica anhören und alles danach ignorieren.
Klar, eine Platte befreit die Band davon, die zu sein, die sie war. Es fängt sie ein, aber es befreit sie auch. Jetzt können Metallica alles sein, was sie wollen.
Auch wenn du mit jeder Band etwas Neues machen wolltest, scheinen deine Bands trotzdem alle auf einer Linie zu liegen. Wenn Du eine Band aufgelöst und eine neue gegründet hast, klangen die alte und die neue Band durchaus ähnlich. Es gibt niemals einen starken Bruch, welcher eine Band komplett von einer anderen abgrenzt. Ist es nicht eher ein Kontinuum?
Ja, es ist immer die Person oder die Personen in der Band, die weitermachen. Man trifft natürlich bewusste Entscheidungen, was man Neues machen will, aber diese Sache geht durch den Filter, der man selbst ist. Wir mögen nun einmal die Musik, die wir machen wollen. Das ist Rock’n’Roll, R’n’B oder was auch immer. Wir wollen nicht plötzlich Techno spielen. Deshalb basiert die Musik stark auf ähnlichen Elementen. Wichtig sind auch die eigenen Fähigkeiten und Entscheidungen, die man trifft. Dadurch ist man eingeschränkt. Al Green wird immer wie Al Green klingen, sogar wenn er eine HipHop-Platte aufnehmen würde.
Was sehr interessant wäre… Alle deine Bands gelten als Ian Svenonius Bands. Alle anderen Mitglieder werden eher als Hintergrundband wahrgenommen. Liegt es daran, dass du der Sänger bist und alles auf den Sänger fokussiert ist?
Das liegt einfach daran, dass ich immer die Interviews gegeben habe.
Und das war eine bewusste Entscheidung?
Das war bewusst. Aber bei Chain & The Gang gibt auch unsere Sängerin Interviews. Bei Nation of Ulysses habe ich die Interviews gegeben und sie waren sehr konzeptionalisiert.
Magst du es, im Mittelpunkt zu stehen?
Ich denke, es ist gut und schlecht zugleich – schlecht deshalb, weil die Bands unterwandert werden können. Ich möchte, dass Chain & The Gang als Gruppe gehört wird, ich möchte, dass Chain & The Gang als Musik wahrgenommen wird und nicht als dieser Typ. Es ist ein allgemeines Problem mit Leadsängern.
In der mythischen Rock’n’Roll-Vergangenheit hatten Bands eigentlich immer Führungsduos: MacCartney und Lennon, Jagger und Richards, Mercury und May, Morrissey und Marr, Sid Vicious und Johnny Rotten oder Axel Rose und Slash. Bei heutigen Bands scheint alles auf eine Person fokussiert zu sein. Wer steht neben Pete Doherty bei den Libertines? Wen gibt es neben Dennis Lyxzén bei Refused?
Es liegt daran, dass der Fokus auf dem Songwriting lag. Songwriting war das große Ding und Songs wurden meist von einem Team geschrieben. Aus irgendeinem Grund galt die Konvention, dass es ein Texter und ein Instrumentalist waren. Bei MacCartney und Lennon war es ihr Ding, sie wollten wie Jerry Leiber und Mike Stoller [wichtiges US-Songwriterduo in den 50ern und 60ern] sein, irgendwelche älteren Männer eben. Es waren Songs, die von mehr als einer Person geschrieben wurden, und sie wurden Klassiker. Der Sänger war nicht so wichtig wie der Songwriter. Tendenziell war das Konzept wichtiger als der Sänger. Ich halte das für gut, denn hat es mehr Substanz. Die meisten der genannten Beispiele waren aber auch vor Punk. Beim Punk dagegen stand die Band zuallererst für eine Idee. Die Musik wurde nicht wirklich sekundär, aber sie wurde dennoch tendenziell abgewertet.
Wenn man authentisch war, konnte man nicht wirklich Pop sein. Wenn man etwas zu sagen hatte, dann wurde es als unmusikalisch empfunden. In der Punk-Ära galt Musikalität als suspekt, es klang wie ein kommerzielles Jingle. Im Grunde geht es um die Kommerzialisierung der Musik, was schon immer ein Teil der Musik war. Es gab also ein Anti-Musikelement, welches in jeder seriösen Band vorhanden sein musste. Diese Bands sind wie Johnny Rotten, wer auch immer er war. The Clash waren eine Ausnahme davon, aber sie wurden auch von den echten Punks als Sellouts wahrgenommen. Leute standen Schlange, um The Clash zu beleidigen, weil sie Fake oder so seien.
Wenn man sich aber die „Never Mind The Bullocks“ der Sex Pistols genau anhört, dann ist es eine High-End Produktion. Alles klingt perfekt.
Ja, sie hatten 40 Gitarrenspuren. Es liegt aber auch daran, dass das Sex Pistols-Album erst ein Jahr, nachdem der Hype um sie auf dem Höhepunkt war, erschien. Eigentlich ist es egal, wann die Platte erschien, denn die Musik der Sex Pistols ist irrelevant, es sind nur ihre Artworks. Jamie Reid ist die Sex Pistols, von ihm sind die Artworks und ihre Kleidung. Die Platte ist nur eine halbe Glam-Rock Platte.
Das erinnert an das, was du über deine Bands vorhin erzählt hast, als du gesagt hast, dass die Platten nicht so wichtig sind.
Ich habe gesagt, dass die Performance am wichtigsten ist. Bei den Sex Pistols war es das Image. In den USA hat sie auch ohnehin niemand gesehen, weil ihre Konzerte dort verboten wurden.
Bei all deinen Bands, am deutlichsten bei The Make-Up, spielst du eine Art Prediger. Dabei scheinst du selbst nicht sehr religiös zu sein, wie passt das zusammen?
Das ist von Gospelmusik und Leuten wie Jonathan Richman inspiriert. Diese Leute vermengen Geschichten mit Songs. Ich finde das interessanter und mag es, das Publikum und die Situation so anzusprechen. Ich mag diese Indie-Bands nicht, die nichts und niemanden ansprechen.
Meine Erklärung wäre gewesen, dass du viel Inspiration aus 50er R’n’B und 60er Soul ziehst. Beide Genres haben ihre Ursprünge in der religiösen Musik der afro-amerikanischen Bevölkerung.
Das ist absolut richtig.
Woher kommt deine Faszination für diese Musik oder diese Ära?
Das ist eine gute Frage. Ich weiß es nicht. Ich komme aus Washington DC, welches eine überwiegend Schwarze Stadt ist. Vielleicht liegt es daran, woher ich komme. Die Musik ist sehr direkt, sehr einfach und aufregend. Es ist Folkmusik, es thematisiert die Situation, ohne dabei explizit politisch oder didaktisch zu sein. Es bezieht seine Hörer in einer Art ein, wie es Rock’n’Roll meist nicht macht. Aber ich mag jede Art von Musik, wie man so gerne sagt.
Es war in dieser Zeit an sich schon etwas Politisches, afroamerikanische Musikstile wie R’n’B, Soul, Jazz, HipHop oder Gospel zu spielen oder damit kommerziell erfolgreich zu sein.
Ja, und das fing schon lange Zeit davor an. Die Menschen in Amerika haben die afrikanischen Traditionen in der Musik bemerkt, die von der afrikanischen Bevölkerung kamen und sind seit langer Zeit davon fasziniert. Das ist keine Rock’n’Roll-Sache, das kam schon lange davor. Kirchenchöre tourten bereits im 19. Jahrhundert durch Amerika. Das ist den Menschen seit langem bewusst und sie sind begeistert davon.
Genauso wie deine ist diese Musik sehr physikalische und unmittelbare Musik. Du bist kein Fan von experimenteller Musik. Willst du mit deiner Musik eine sehr direkte Verbindung zum Publikum aufbauen, die nicht intellektuell, aber umso mehr biochemisch ist?
Ja, ich mag Klischees. Sogar Tanzmusik hat das, man weiß [schnippt mit dem Finger], wann die Dinge kommen. Das ist aufregend für mich. Wenn man einen Verbrecherfilm sieht, will man gewisse Konventionen erfüllt sehen. Wenn ich auf ein Konzert gehe, mag ich es, überrascht zu werden, gleichzeitig mag ich Klischees in der Musik. Die Reputation ist komfortabel und aufregend für uns. Diese Bedeutungslosigkeit der Wiederholung ist eine sehr merkwürdige Sache. Zu sehen, was eine Band erfolgreich tut, ist irgendwie zufriedenstellend.
Musik wird gemacht, seit es Menschen gibt. Offensichtlich erfüllt Sie sehr grundlegende Bedürfnisse in uns. Alle deine Bands hatten einen politischen Anspruch. Glaubst du, dass Kunst oder speziell Musik einen sozialen Wandel herbeiführen kann?
Offensichtlich und deshalb wird sie auch so stark benutzt. Jeder weiß, dass die C.I.A. Kunst während des Kalten Krieges genutzt hat und offensichtlich war Rock’n’Roll ein Teil davon. Auch wenn sie es nie explizit gesagt haben, war Rock’n’Roll eine Waffe im Kalten Krieg. Es war ein wichtiger Teil im Kampf gegen den Kommunismus. Man sieht also den zynischen Einsatz von Rock’n’Roll durch die Marktökonomie, Marktwerte, Geschlechter- und Genderollen, „Rassen“ und Hierarchien. Es wurde auf diese zynische Art benutzt, aber wir wissen, dass es auf jede mögliche Art benutzt werden kann. Wenn man Rock’n’Roll nutzt, benutzt man Magie. Es kann Elemente haben, die aus deiner Kontrolle geraten. Wenn man etwas erfindet, können die Leute anfangen es zu kopieren, aber dabei die Message verändern. Man nutzt einen magischen Zauber, der dann woandershin geht.
Ist der soziale Wandel und eine Aussage zu verbreiten deine Motivation hinter der Musik? Oder könntest du dir auch vorstellen, Musik ohne politische Inhalte zu spielen?
Dinge sind immer politisch. Es ist nur ein Aspekt der Musik. Wenn jemand nur Musik machen will, ist das in Ordnung. Aber das ist nicht zwangsweise das, was auch passiert.
Viel hängt vom Konsumenten ab. In den 80ern in Polen Black Metal gehört zu haben, war etwas Politisches, heutzutage in Brooklyn ist es das weniger.
Ganz genau, wenn der Kontext sich verändert, sollten sich die Bands auch verändern. Es kann dabei auch um Nuancen gehen, die kaum wahrnehmbar sind.
Wenn du selber Musik hörst, ist dir der politische Anspruch dabei wichtig?
Ich mag für gewöhnlich keine offen politische Musik. Manches mag man halt, und anderes nicht. Das kann man auch über das Schreien sagen. Es gibt eine Art, wie man schreit und eine, wie man es nicht tut. An einem bestimmten Punkt dreht es sich um Ästhetik. Es ist beliebig und schwer zu definieren, so wie jede andere ästhetische Entscheidung, die wir jeden Tag treffen. Es gibt eine Art, wie man einen Witz erzählt und es gibt eine, wie man einen Witz nicht erzählt. Und Musik ist in gewisser Weise so wie Witze Erzählen. Es geht ums Timing und um den Inhalt. Erzählst du einen rassistischen Witz oder erzählst du ihn nicht? Und ist ein rassistischer Witz immer beleidigend? Vielleicht ist er es. Das ist eine interessante Sache. Ergibt das Sinn? Ich erzähle euch mal einen rassistischen Witz: Zwei Deutsche bekommen einen Sohn und nennen ihn Werner. Während das Kind aufwächst, fängt es nicht an zu sprechen, was die Eltern beunruhigt. Sie bringen es zum Arzt, doch der kann es sich auch nicht erklären. Sie warten darauf, dass er anfängt zu sprechen. Irgendwann geben sie es auf, lieben ihr Kind und finden sich damit ab. Er wächst immer weiter. Als er neun Jahre alt ist, sitzen sie beim Abendessen. Da sagt er plötzlich „Mutti, meine Blutwurst ist kalt.“ Die Eltern springen auf und klopfen ihrem Kind auf die Schulter. „Werner, warum hast du niemals mit uns gesprochen?“, fragen sie und Werner antwortet: „Bis heute war alles zufriedenstellend in meinem Leben.“ Kennt ihr diesen Witz?
Ja, wir kennen ihn. Allerdings nicht mit einem Deutschen.
[lacht] Das ist interessant, weil ich ihn mit einem Deutschen gelernt habe.
Das ist schon okay, wir können uns mit dem Label deutsch ohnehin nicht identifizieren, von daher freut es uns, wenn du Witze darüber machst. Aber was für Musik hörst du denn nun?
Ich höre hauptsächlich Novelty Music aus den späten 50ern und frühen 60ern. Außerdem viel Gospel und Sachen, die sich anfühlen, als wären sie als Radiowerbung designt. Es gibt seltsame Geräusche, jemand kreischt und dann beginnt eine melodische Hookline. So war Rock’n’Roll ursprünglich. Ich habe das Gefühl, dass es viel mehr mit Werbung im Radio zu tun hat als mit Musik. Es steht in einem gewissen Verhältnis zu Musik, aber es ist mehr wie [fängt an zu bellen]. Und es ist sehr explosiv und fruchtbar. Es ist sehr typisch für Männer in meinem Alter, diese Art von Musik zu mögen. Ist euch mal aufgefallen, dass Menschen mittleren Alters eher auf Garage Rock und ähnliches stehen?
Zumindest hat es bei uns rund 30 Jahre gedauert, bis wir ein gewisses Interesse für Jazz entwickelt haben.
Genau, dass ist sehr vorhersehbar. Was ich mag, ist auch sehr vorhersehbar. Ich weiß nicht, warum das so ist.
Du verfolgst aktuelle Trends im Hardcore und Punk also nicht mehr?
Manchmal mag ich welche der Bands und ich kenne ein paar. Es gibt so viel zu entdecken. Es ist sehr schwer. Die Sängerin meiner Band spielt auch bei Priests, ihr solltet sie euch anhören, denn sie sind gut. Sie sind noisig.
Kommen wir noch mal zu deinen Bands zurück. Sowohl Chain & The Gang als auch alle deine anderen Bands wurden von den Kritikern durchweg positiv aufgenommen. Sie waren auf einem gewissen Level erfolgreich, aber keine der Bands ist jemals groß geworden. War das so beabsichtigt?
Das liegt daran, dass sie niemals groß werden konnten. Um groß zu werden, braucht man an einem bestimmten Punkt einfach Beziehungen zu einer bestimmten Art von Herausgebern und solchen Leuten. Ehrlich gesagt bin ich zu faul für so was, und ich empfinde es als peinlich, so berühmt zu sein. Ab einem bestimmten Level wird die Sache ästhetisch abstoßend. Wie denkt ihr darüber? Es ist wie Boulevardjournalismus. Wenn man ein gewisses Level erreicht hat, ist es wie… ihr wisst schon. Es ist keine Wahl, es ist eher eine passive Wahl. Ich möchte nicht sagen, ich wäre gerne bekannter, denn ich habe niemals den Versuch unternommen. Wenn man einen PR-Agenten für sich anstellt, dann verwandelt man sich in einen Aufkleber. Das ist peinlich.
Ab einem gewissen Level sprechen Journalisten nicht mehr darüber, was hinter einer Band steht. Viele Bands haben etwas zu erzählen, aber es geht eher darum, welche Musik man spielt oder ob man Fender oder Gibson bevorzugt.
Ich weiß gar nicht, ob es darum geht. Es geht eher darum, ob man ein Markenname ist, der wahrgenommen wird. Das ist die politische Struktur. Warum wollen sie jetzt Hillary Clinton als Kandidatin für die demokratische Partei nehmen? Weil es ein wiedererkennbarer Markenname ist. Warum haben sie Obama bekommen? Weil es wie Osama klingt und es sich jeder merken kann. Das ist alles und mit den Bands ist es das gleiche. Wenn man auf ein Festival geht, bemerkt man all diese Namen. Wenn ich diese Namen kenne, gehe ich auf das Festival, weil ich mich damit wohl fühle. Die Top40 im Radio basieren auf Reputation und die Leute fühlen sich wohl. Wenn man in einen Club geht, hört man den Song, den man schon 100.000 Mal gehört hat. Das ist gut und man fühlt sich wohl. Niemand will sich in einem Kontext bewegen, wo man sich nicht wohlfühlt.
Die meisten Menschen mögen einfach keine Musik, sie mögen Komfort und Reputation. Aber das ist okay, denn es ist eine verwirrende Welt, in der es so viele Dinge zu erledigen gibt. Tatsächlich sind Musik und Bands nur für eine sehr kleine Minderheit. Ich bin mir sicher, dass ihr jeden in der Hardcore- und Punkwelt in Deutschland kennt. Obwohl, ich weiß nicht, ob das eure Szene ist. In einer gewissen Subkultur werdet ihr alle Leute kennen. Das sind die einzigen Menschen, denen solche Dinge wichtig sind. Wenn wir eine Platte machen, verkaufen wir ein paar Tausend davon, denn nur diese Menschen interessiert es.
Das ist wohl der wesentliche Fehler der Musikindustrie. Die großen fünf Firmen – oder wie viele das jetzt gerade sind – interessieren sich nicht für die Menschen, die sich für Musik interessieren.
Menschen, die Musik mögen, werden nur als coole Multiplikatoren benutzt. Sie werden nur als eine Art Street Team verwendet. Aber die meisten Menschen, die Musik mögen, sind Soziopathen, die nicht so viele Freunde haben und sich gar nicht als coole Multiplikatoren eigenen. Das macht die Sache natürlich schwierig…
Ja, wir sind halt Nerds…
Ganz genau. [lacht].
Eine letzte Frage haben wir noch. Hast Du jemals Dennis Lyxzén getroffen?
Ja, in Schweden.
Er muss ein großer Fan von dir sein. Erst hat er seine Band Refused in eine Nation Of Ulysess-Coverband umgewandelt, dann hat er The (International) Noise Conspiracy gegründet, die im Grunde genommen eine The Make-Up-Coverband waren. Heute sind seine Bands viel bekannter als deine, obwohl du das Original bist.
[lacht] Wie ich schon gesagt habe, es liegt an den Entscheidungen, die man über Öffentlichkeitsarbeit trifft und den Verbindungen, die man hat. Es hat wenig mit der Musik oder der Message zu tun. Die Menschen, denen die Musik verkauft wird, sind nicht neugierig genug, das Original zu suchen. Es ist ihnen egal. Als die Rolling Stones einen Song von Barbara Lynn gespielt haben, hat das Original auch niemand gefunden.
Interview: Jan Tölva, Benjamin Schlüter
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Links (2017):
Ian Svenonius auf Wikipedia
Ian Svenonius / Chain and the Gang auf Twitter
Chain and the Gang auf Discogs
Chain and the Gang auf Bandcamp