Oktober 30th, 2019

ERASE ERRATA (#96, 2002)

Posted in interview by Thorsten

Evolution frisst Seele

Anti-bürgerliche Kultur-Revolution versus Evolutionismus:

„Das Feld des Kampfes für die Schaffung einer neuen Zivilisation ist absolut undurchsichtig und charakterisiert von unvorhersehbaren und unberechenbaren Ereignissen. Eine Fabrik, die aus kapitalistischer Herrschaft unter die Arbeitermacht kommt, wird dieselben materiellen Produkte herstellen, die sie heute herstellt. Aber auf welche Weise und mit welchen Formen werden die poetischen Werke, die Dramen, die Romane, die Musik, die Malerei, die Sitten, die Sprachen entstehen? Diese Werke können nicht in der Fabrikationsweise für materielle Produkte geschaffen werden, die von einer Arbeitermacht nach einem Plan organisiert wird, sie kann nicht wie die Produktion für die Befriedigung der statistisch kontrollierbaren und erfassbaren Grundbedürfnisse festgelegt werden. Auf diesem Gebiet ist nichts vorhersehbar, außer folgender allgemeiner Hypothese: Es wird eine proletarische Kultur (Zivilisation) geben, die sich vollkommen von der bürgerlichen unterscheidet. Auch auf diesem Gebiet werden die Klassenunterschiede verschwinden, wie auch der bürgerliche Karrierismus. Es wird eine Dichtung, einen Roman, Sitten, eine Sprache, eine Malerei und eine Musik geben, die charakteristisch für die proletarische Zivilisation sind, Blüte und Schmuck der vom Proletariat geschaffenen gesellschaftlichen Organisation. Was bleibt also zu tun?
Nichts anderes als die gegenwärtige Form der Zivilisation zu zerstören. Auf diesem Gebiet hat „zerstören“ nicht dieselbe Bedeutung wie auf ökonomischem Gebiet: Zerstören heißt (dort) nicht, die Menschheit um materielle Güter zu bringen, die für ihren Unterhalt und ihre Entwicklung notwendig sind. Es bedeutet geistige Hierarchien, Vorurteile, Idole, erstarrte Traditionen zu vernichten, es bedeutet keine Angst vor Neuem und Kühnen zu haben, keine Gespenster zu fürchten und nicht zu glauben, dass die Welt untergeht, wenn ein Arbeiter grammatische Fehler macht, wenn ein Vers hinkt, wenn ein Gemälde einer Postkartenzeichnung ähnelt, wenn die Jugend dem im Akademismus befangenen und kindisch werdenden Alter noch so sehr eine Nase macht. Die Futuristen haben diese Aufgabe im Bereich der bürgerlichen Kultur in Angriff genommen: Sie haben zerstört, zerstört, zerstoert, ohne sich darum zu kümmern, ob die neuen Kreationen, die Produkte ihrer Aktivität insgesamt ein höherstehendes Werk darstellen als das, was sie zerstört hatten. Sie hatten Vertrauen in sich selbst, in die Glut jugendlicher Energien, sie hatten die reine und klare Konzeption, dass unsere Epoche, die Epoche der Großindustrie, der großen Arbeiterstadt, des intensiven und tumultvollen Lebens, neue Formen der Kunst, der Philosophie, der Sitten, der Sprache haben müsse.“
(Antonio Gramsci, 5. Januar 1921 im „Ordine Nuovo“)

Evolutionismus versus Anti-Bürgerliche Kultur-Revolution:

„Sworn testimony“
We are the streets/we are the concrete enemy/we are the reasons for the gated communities/relive-reload-redial/I called up for grant today/I spoke of crimes and of my friends in the same breath.
Other animals are more evolved/their evolution leads to natural efficiency/the human race is the least evolved. Our evolution lead to civilization. Our evolution land to technology. Our evolution lead to capitalism.
What is the good life? Is it the real life? Is it the simple life?
Mirror footprints on the floor/follow those steps as they light up/dexterity is part of being a good citizen
Dance, USA, dance.
(Errase Errata, 2002, aus der Innenhuelle ihrer „Other Animals“-CD)

Der alte Kulturapologet Greil Marcus („Mystery Train“ u.a. Bücher) nannte ihre Musik „ein strahlendes, kratziges Experiment“, in der kurzen Phase ihres bisherigen Schaffens spielten sie bereits mit THE FALL und LE TIGRE, bestritten unlängst das Vorprogramm der US-Tour von SONIC YOUTH und renommierte Zeitungen wie die NEW YORK PRESS oder die VILLAGE VOICE waren versucht, sie mit Huldigungen wie „one of the best records of 2001“ in einen nicht vorhandenen Himmel zu heben. Die Rede sei von Jenny, Ellie, Bianca und Sara alias ERASE ERRATA, vier Mädels aus der kalifornischen Bay Area, die es binnen zweier 7“es, vier Compilation-Beiträgen und ihrem jetzt auf dem englischen tsk!tsk!-Label erschienenem Debut „Other Animals“ geschafft haben, reichlich mittelschweren Staub aufzuwirbeln. Da mag natürlich schnell der Eindruck aufkommen, es mit einer weiteren Folge der endlosen Erfolgsserie „Hype“ zu tun zu haben, einem weiteren Spektakel, das für uns kreiert wurde, uns unsere Übersättigung nicht allzu spürbar werden zu lassen, wer sich allerdings einmal ERASE ERRATAs Musik annähert, wird schnell eines anderen belehrt. Denn mit aktuellen Verkaufsstrategien haben ERASE ERRATA genauso wenig zu tun, als das ihr Sound geschweige denn ihre Musik mit etwas zu vergleichen wäre, was derzeit allerorts hochglanzgebügelt wird. Eklektisch, nervös und partiell sich gestochen scharfen Staccatorhythmen hingebend, taumeln ERASE ERRATA vielmehr in Post-Punk-End-80er Gefilden hin und her, erinnern in ihrer treibenden Bassarbeit einmal an MINUTEMEN und lassen im nächsten Moment wegen ihres trockenen Schlagzeugsounds Erinnerungen an GANG OF FOUR wachwerden. Schräg und krachig, andernorts wieder gummivertwistet hüpfend und rockig haben die Vier mit „Other Animals“ eine Platte geschaffen, die unbekümmert frisch und spontan konträr zu allem steht, was heute studioausgetüftelt und übelaboriert auf uns losgelassen wird. Damit pflegen ERASE ERRATA einen Ansatz, der sicherlich alles andere als neu ist, aber in einer immer stromliniger gestalteten Welt gerade und vielleicht immer wieder hervorragend funktioniert.
Folgendes „Interview“ fand aufgrund der geographischen Distanz im Internet statt.

ERASE ERRATA sind:

Jenny – Gesang, Trompete
Ellie – Bass
Bianca – Schlagzeug
Sara – Gitarre

Könnt Ihr Euch kurz vorstellen: Wie alt seid Ihr, wo, wie und von was lebt Ihr und mit was beschäftigt Ihr Euch in Euren freien Momenten?

Ellie: Ich bin 25 Jahre alt, ursprünglich aus Lincoln, Nebraska, aber ich lebe jetzt in Oakland, Kalifornien. Bass spiele ich für ein spärliches Einkommen. Ich lese gern und löse logische Probleme, gehe ins Fitness-Studio, häkle hässliche Dinge und höre Schallplatten.
Sara: 25 bin ich und eigentlich aus New Jersey in der Nähe von New York City, lebe jetzt aber in San Francisco. Für Dollars schreibe ich für eine Kunsterziehungsorganisation. Ich mag es, Kurzgeschichten und Popsongs zu schreiben, auf meinem Fahrrad San Francisco zu erkunden und zu schwimmen.
Bianca: Ich bin 25, Skorpion, Kalifornierin und liebe SPARTA. Ich mag es, hart zu feiern und betrunken auf meinem Fahrrad durch die Straßen von San Francisco zu fahren. Meine Miete bezahle ich mit der Buchführung für einen Comic-Verleger. Ich mag „high fashion“, mir schlechte Haarschnitte zu verpassen und Horror-Filme anzuschauen.
(Jenny stammt halb aus Texas, halb aus Michigan. Sie ist professionelle Musikerin und lebt in Oakland, Kalifornien.)

Wie habt Ihr Euch zu ERASE ERRATA zusammengefunden und wie würdet Ihr Eure Bandchemie beschreiben? In diesem Zusammenhang ist es eventuell auch ganz lustig zu erfahren, ob es irgendetwas von Wert gibt, was Ihr über Euren grossartigen Bandnamen erzählen könntet.

Ellie: Allesamt sind wir in die Bay Area (Oakland/San Francisco) gezogen und wurden dort Freundinnen und Nachbarinnen. Was unsere Bandchemie betrifft, so sind wir alle sehr verschieden, kommen aber immer noch wirklich gut miteinander aus. Besonders auf Tour haben wir viel Spaß beim Quatschmachen und beim Lachen über blöde Witze im Wagen. Über unseren Bandnamen gibt es nicht viel zu erzählen; danke, dass Du ihn gut findest.

Erzählt uns über Euren (Band-)Entwicklungsprozess, die Musik, die Ihr reflektiert und ob Ihr GANG OF FOUR mögt. Eure Rhythmik und Eure herrlich-verdrehten Tonführungen erinnern mich manchmal an diesen, heute so nicht mehr gespielten, 80er-Ansatz.

Ellie: Wir mögen GANG OF FOUR. Unsere Schlagzeugerin Bianca liebt rhythmisch noch weitaus mehr als GANG OF FOUR, Oldies Music. Wir hören alle die unterschiedlichsten Arten von Musik und bringen diese Einflüsse in die Band ein.

Im Innencover Eurer CD habt Ihr dieses Gedicht abgedruckt, das sich im weiteren Sinne mit Evolution beschäftigt. Gebt uns eine Meinung. Habt Ihr eine negative Auffassung von der Evolution der menschlichen Spezies? Oder gibt es andere, positivere Aspekte, die Ihr aufzeigen könnt? Und was denkt Ihr von dem neusten Geschäft mit Zellmaterial?

Ellie: Wir haben alle Angst vor der Zukunft der menschlichen Rasse.

Denkt Ihr, dass Frauen generell ein anderes, vielleicht „runder“ zu nennendes Gefühl für Rhythmus haben, als Männer?

Ellie: Wir denken, dass fette Schlagzeuger besser sind und meinen das als Kompliment!

Worum geht es textlich bei Euch in einem Song wie „Billy Mummy“?

Ellie: „Billy Mummy“ ist über eine Episode aus der „Twilight Zone“, wo ein Charakter namens Billy Mummy eine ganze Stadt mit Hilfe seiner Zerstörungskraft kontrolliert.

Ihr habt auf einer der „All Tomorrow’s Parties“-Shows in L.A. gespielt. Kam das durch eine Einladung von SONIC YOUTH zustande? Welche Erfahrung war das für Euch und wie kommt es, dass Ihr so schnell in die „In-crowd“ aufgenommen wurdet?

Ellie: Bei „All Tomorrow’s Parties“ mitzuspielen war eine Ehre für uns, obwohl wir bestimmt schon lustigere Shows gespielt haben. Es war etwas befremdlich auf dieser hohen Bühne in einem großen Raum zu stehen, durch ein Gitter getrennt vom Publikum. SONIC YOUTH sind wirklich gut darin, sich nach kleineren Bands auszustrecken, an denen sie interessiert sind. Sie sind auf alle Faelle sehr unterstützend und wir haben Glück, dass sie unsere Band zu mögen scheinen.

Erklärt Ihr Eure „kritische Solidarität“ zu Bushs Krieg gegen den Terrorismus wie so viele andere amerikanische Bands auch aus dem Underground oder gehen Eure Gedanken in andere Richtungen?

Ellie: Wir sind absolut gegen das, was mit der US-Regierung zur Zeit abläuft. Es gibt eine große Bewegung in der Underground/Punk/Rock-Welt, die denkt, dass die Regierung total verfickt ist, angefangen beim Krieg bis zur Überwachung Daheim.

Was würdet Ihr persönlich am liebsten sehen, wenn Ihr endlich zum Spielen nach Europa kommt?

Ellie: Wir wollen ALLES sehen. Kleine Städte auf dem Land, Großstädte, wir wollen einige coole Kids treffen und sehen, ob Europa um vieles besser als die Vereinigten Staaten ist.

Welche Bücher und Liebhaber hattet Ihr zuletzt, die Ihr empfehlen könnt?

Ellie: Interessante Frage. Meinst Du wirklich was Du fragst? Lass uns über Bücher reden. Sara hat gerade ein Buch von Jonathan Safran Foer namens „Everything Is Illuminated“ gelesen, das gut ist und Bianca „Fast Food Nation“.

Danke.

Interview: Tom Dreyer

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