Mai 25th, 2020

DIY IN JYVÄSKYLÄ aus # 180, 2016

Posted in artikel by Jan

‚Ich will nicht werden, was mein Alter ist‘ – Punk und D.I.Y. in Jyväskylä

Im Oktober 2015 habe ich Deutschland verlassen. Ein Jahr lang in Jyväskylä, einer mittelgroßen Stadt in der Mitte Finnlands. Als Berliner hieß das zunächst: dem Moloch entfliehen und das Ganze, zumindest vordergründig, eintauschen gegen Luft, Fels, Wald, Seen und – wie sich bald herausstellen sollte: Schnee und Eis. Dazu gehörte aber auch Punk und D.I.Y., nur eben einmal fernab der üblichen Sprache, und das Kennenlernen anderer Menschen und Strukturen – anderer Wege. Begleitet habe ich und haben mich dabei meine Freundin und unsere Tochter, die 2 ½ Monate nach unserer Ankunft dort im Dezember 2015 zur Welt gekommen ist.

Um es gleich vorweg zu sagen: Geschichten über „D.I.Y. in…“ gibt es viele und diese hier wird sicher eine davon sein. Auch sicher: Dass ich hier als Elternteil schreibe, hat Auswirkungen darauf, welche Geschichten dieser Bericht zu erzählen hat und was hier alles unter „D.I.Y.“ zu verstehen ist… So sehr aber soll es mir um den Aspekt ‚mit Kind‘ gar nicht gehen. Es gehört hier einfach zu meiner Perspektive auf D.I.Y. und Punk (im weitesten Sinne) dazu. Dennoch: keine Sendung, keine Botschaft, kein ‚Guck-mal-es-geht-doch‘, kein ‚Ich-hab-es-durchgemacht-Wissen‘ (was auch immer etwas gelogen wäre). Verschonen wir uns damit. Ich empfehle hier nichts, sondern teile nur. Ob jedoch diese schlicht andere, aber durchaus gleichberechtigte Perspektive auf Punk und D.I.Y.-Kultur, nämlich die eines frisch gebackenen Eltern-Kind-Trios, einen solchen Erfahrungsbericht ebenso lesenswert macht, das überlasse ich gerne ganz euch. Oder, um es anders zu sagen: „Such dir einfach etwas aus…“ (EAXX – Der Ableser). Nun aber Schluss mit dem Vorgeplänkel: Ich beginne jetzt, denn mit diesem Text sollen einfach nur Geschichten erzählt werden, die das Leben schreibt.

Eine Google-Suche vor unserem Umzug nach Jyväskylä informiert mich ohne große Überraschung, dass es D.I.Y.-Kultur in Jyväskylä gibt. Unter jkldiy.net werde ich schnell fündig und freue mich sehr, dass es bereits in wenigen Tagen im „Rentukka“ („Sumpfdotterblume“) ein Konzert geben wird (Die komplette Seite ist Finnisch, aber zum Glück sprechen gedruckte Flyer mit ansprechenden Illustrationen, gepinnt an Häuserwände oder digital im Netz, eine universelle Sprache). Mit dabei „M.O.R.A“ (könnte Leuten hier und da schon mal über den Weg gelaufen sein: http://truetrash.com/tontraeger_reviews/m-o-r-a-halveksunnan-aika.html), „Uhrit“, „Lapinpohltajat“ und „Beer Terror“. Leider verpassen wir das durch die Anreise knapp und ich schreibe erstmal eine Mail an die Konzertgruppe, um Kontakt herzustellen, auch um zu fragen, ob es sich nur um eine Konzertgruppe handelt oder doch um weit mehr.

Nebenbei beziehen wir unsere Wohnung im Stadtteil Kortepohja, ein sogenanntes student village, alterstechnisch stark durchmischt und – entgegen der Labelung – nicht nur Studis. Auch wir 3 Leute gehören nur bedingt zur letzteren Kategorie. Das Rentukka liegt in einer Minute Laufweite – doch später mehr dazu. Die Wohnung ist leer, d.h. wir besorgen uns, noch mit Bauch, erstmal second hand ein paar Sachen, die wir länger benötigen werden. Zum ersten Mal in meinem Leben verfluche ich facebook nicht, denn von NutzerInnen eingerichtete Gruppen wie „Second hand items in Jyväskylä“ lassen uns schnell Leute und günstig (manchmal sogar kostenlos) Sessel, Tische, ein Regal, Kinderbett, Klamotten, ein Sofa, winterfeste Fahrräder (2×50,-!) und andere essentielle Dinge finden. Eine nette Begleiterscheinung an Wohnorten, an denen für gewöhnlich eine hohe Fluktuation herrscht.

Das Gleiche gilt für den wöchentlich geöffneten Second-Hand-Laden im Kiez, der ebenfalls zwar abgenutztes, aber weiterhin gut brauchbares „free furniture“ bereithält. In einer Second-Hand-Kette mit Namen „Fida“ (verfolgen mit dem Erlös einen edlen Auftrag, allerdings auch mit latent christlicher Sendung) finden wir äußerst günstig Stühle, kleinere Teppiche mit unpeinlicher Bemusterung und weitere Kinderklamotten. Da wir mit unserm alten Gebrauchten hierher gereist sind, können wir extra teuren Miet-Transport umgehen. Holz-Pritschen zum Pennen bekommt mensch ebenfalls in Kortepohja, die aus den Kellerräumen (gleich neben den Saunaräumen) einfach genommen werden können.

Etwas staubig, aber charmant und stabil. Hat alles ein bisschen was von 8te Klasse Klassenfahrt. Matratzen sind das Erste, in das wir etwas mehr investieren wollen, aber hey: ein Drittel deines Lebens verbringst du im Bett. Es ergibt sich schnell Kontakt zu Leuten, wenn mensch auf sie zugeht. Die sind auch erstaunlich hilfsbereit, wenngleich auch distanziert, wollen nichts wieder oder im Gegenzug haben, lassen sich aber (Vorsicht: sterotype!, aber genau so passiert) gern mit eingeführtem Bier beschenken. Ich entlocke einem Finnen das erste Lächeln (auch wenn das vielleicht nur einem natürlichen Muskelreflex bei der Aussprache der umgangssprachlichen Dankesformel „kiiti“ geschuldet ist).

Etwas verspätet, aber eben auch sehr sympathisch, bekomme ich eine Mail von „Jyväskylä D.I.Y.“. Olli meldet sich und entschuldigt sich aufrichtig, aber mit nicht mehr Worten als nötig, für die lange Wartezeit. Ich erfahre von neuen anstehenden Konzerten, gelange problemlos auf Info-Verteiler und sogar in einen Verteiler, der sich der gegenseitigen Hilfe beim „child care“ verschrieben hat, wenn mensch mal Aushilfe mit dem Kind benötigt oder einfach mal 1-2 Stunden Pause braucht. Eine Art kostenloses Babysitting allein auf Vertrauensbasis, getragen von den Leuten der Szene, die selbst Kinder haben. Auch hier erfahre ich schnell, dass Olli selbst bereits Vater ist und die alternative Idee zu „Let’s raise our kidz freely“ maßgeblich mit voran getrieben hat. Noch während wir in Jyväskylä sind, wird der Übergang von Mailverteiler auf WhatsApp-Gruppe diskutiert, weil das in der Regel Leute schneller erreicht. Alles eine Frage der Nutzung…

Über den allgemeinen Verteiler laufen auch Koordinationen zu dumpster diving/containern, etwas, das bei den hohen Lebensmittelpreisen, dem relationalen Einkommen und der konservierenden Kraft der langen Kälte in Finnland eigentlich nicht weiter überrascht und für einige (neben einer moralischen) einfach eine logische Konsequenz darstellt. Unter der Ausbeute befindet sich nicht selten unverschämt viel brauchbares Obst. Fürs containern haben sich bestimmte Orte mehr oder weniger etabliert, aufgrund ihrer besonderen Eignung und Lage: Zwischen Mensch und Lebensmittel steht oftmals nicht mehr als ein leicht zu überwindender Zaun, dessen Tür oftmals sogar offensteht. Giftvorfälle, verursacht durch Discounterpersonal (wie zuvor an anderen Orten zahlreich geschehen), sind hier, in dieser Stadt zumindest, offenbar nicht die Regel.

Die Mails der Szeneverteiler passieren im Allgemeinen auf Finnisch und wenn mensch trotz Lexikon und Suchmaschinen (suomienglantisanakirja.fi ist ganz brauchbar für Englisch-Finnisch, da wo der google-translator versagt) nichts verstanden hat, bekommt mensch gerne in fließendem Englisch alle Details nochmal genau kommuniziert. Da die Stadt aber so groß nicht ist, gibt es auch oft Gelegenheit sich über den Weg zu laufen und Neuigkeiten auszutauschen.

Doch es bleibt längst nicht nur bei dumpster diving/containern. Viele versuchen Konsumkritik hier aktiv vor der eigenen Haustür umzusetzen und so erfahre ich von Olli, dass er selbst eines von vielen kleinen Feldern bestellt, die sich am Rand der Stadt in Nähe einer der zahlreichen Seen befinden, um – wie er selbst sagt – „to be as selfsufficient as possible“. Der Ertrag ist sicher nicht riesig, aber es ist etwas.
Dezember 2015. Die Tage werden dunkler und kälter wird es auch – immer noch jedoch ohne Schnee, der liegen bleibt. Unser Kind schafft es, wenn auch ‚verspätet‘, vergleichsweise fix auf die Welt und gehört ab jetzt 24/7 dazu. Systeme zur Aufgabengerechtigkeit, die wir uns vorher grob überlegt haben, greifen nun mal mehr mal weniger gut. Learning by doing.

Januar und es kommt der Schnee und auch das Eis. In der finnischen Stadt Tampere schaffen es die ‚LOLdiers of Odin‘ erfolgreich, einen weiteren armseligen ‚Nachtwachenmarsch‘ der ‚Soldiers of Odin‘ gegen die vermeintliche Bedrohung durch Refugees, oder einfach Leute, die anders aussehen, ins Lächerliche zu ziehen (www.loldiers.com; Auch eine Reihe von Youtube-Clips dokumentieren den Erfolg dieses gleichermaßen charmanten wie effektiven Gegenprotests). Sämtliche Seen sind unterdessen zugefroren, begehbar und befahrbar. Skier und Schlitten werden Verkehrsmittel. Autos, so bequem sie sind, versagen ab -25°, sofern sie keine Motorheizung besitzen, permanent laufen (!) oder an der Frontseite aufwendig mit Pappe abdichtet sind und Du für konstante Wärme auf Motorhöhe unterm Auto sorgst (Müll und Verschwendung!). Die jeweils in die gebrauchten, winterfesten Fahrräder investierten 50,- zahlen sich also auch hier in vielerlei Hinsicht aus.

Hemmschwellen sinken mit der Temperatur. Innere Schweinehunde erfrieren auf den 10-20 Minuten Weg von der Haustür bis zu jedem x-beliebigen Ort in der Stadt. Notwendigkeiten geben den Ton an. In den Kinos startet Star Wars 7 und wir fragen uns, wie ein Leben aussehe, wenn es Tauntauns wirklich gäbe. Über mehrere Wochen hält sich die Temperatur bei -30°, alles ist scheinbar erstarrt, doch ein nächstes Konzert im Rentukka steht an. Beim Vorbeiradeln und Vorbeizittern am Rentukka vergewissere ich mich durch einen Flyer über Tag und Zeit. Meine Freundin und ich verhandeln 4 freie Stunden für mich und am Abend gehe ich den kurzen Fußweg, stapfend durch den Schnee, hinüber zur Location.

Das Rentukka ähnelt eher einer Mischung aus Club und Restaurant und nicht im eigentlichen Sinne einer Szene-Kneipe. Ich erkenne hier sehr viel aus Aki-Kaurismäki-Filmen wieder und versuche mich daran zu erinnern, wie man ein Bier bestellt. Ich zahle, nach einer gewollt selbstbewussten Begrüßung mit „moi“, bei 2 Leuten aus der Konzertgruppe 5,- Eintritt und lege 2,- Soli drauf und gehe hinein. Nach allen Informationen läuft das Verhältnis zwischen diesem Ort ’studentischer Kultur‘ und ‚Jyväskylä D.I.Y.‘ auf dem Prinzip der Duldung. Schon zum Soundcheck, den ich trotz lässigen Erscheinens noch mitbekomme, entgehen mir die etwas genervten Gesichter des angestellten Barpersonals nicht. Ich bestelle erst einmal ein Bier, das günstigste (0,4 l für 4,50,-!).

Schnell finde ich Olli, der fleißig und – gemessen am Raum – auch mit Erfolg am Sound schraubt, und komme in einer ruhigen Ecke mit Gitarrist Jaakko und Sänger Teppo von der HC-Punk-Band „Bundolo“ (Helsinki) ins Gespräch, die ihr Tape, ein paar Shirts und die 7“ ihrer befreundeten Band „Småstadsliv“ (Helsinki) auf einem kleinen Tisch drapiert haben. Alles self-released oder (wie etwa im Fall von „Bad.Jesus.Experience“ aus Helsinki/Tampere) über D.I.Y. Labels querfinanziert („Nunchakupunk“ z.B. gehört dazu, das nach wie vor von Arto Hietikko betrieben wird. Der gleiche Mensch steht auch hinter „Toinen Vaihtoehto“, dem Punk-Fanzine „Other Alternative“: www.punkinfinland.net/tv). Nikki (Bass bei „Bundolo“) und Tuomo (Gitarre bei „Småstadsliv“) gesellen sich zu uns und ich komme in unseren Gesprächen sehr schnell an viele Infos zu Szene und Musik. Wenn es um D.I.Y. geht, ist an vielen Orten die Sprache einfach universell.

Ich gelange mit Olli und Jaakko in den Backstage-Bereich, wo ein ganz anderes Klima herrscht. Auf dem Tisch in der Mitte stehen diverse leere und volle Kästen Bier, aus denen sich alle (egal ob Band oder nicht) bedienen können. Leute, davon scheinbar völlig unbeeindruckt, unterhalten sich kreuz und quer. Zeitweise fühle ich mich wie Antonio Banderas in „Der 13te Krieger“, wie er am Lagerfeuer unter den Nordvölkern sitzt und ihren Gesprächen lauscht. Silbe für Silbe beginnt er sie zu verstehen, nur bei mir will es noch nicht recht gelingen. Dennoch genieße ich diese Situation.

Aus dem Kontext und ein paar Floskeln kann ich immerhin nachvollziehen, dass die Spritkohle (20-30,- pro Band) verteilt wird und alle sich herzlich bedanken. Meine 0,4 l Bier für 4,50,- sind bereits leer und so danke ich Olli für die Flasche „Koff“, die er mir nahezu selbstverständlich rüberreicht mit der Bemerkung „but hide it from the bartenders when we go to the stage“ (Stirnrunzeln…). Das Etikett der Flasche erinnert mich an Sternburg Export und denke mir: „passt schon“ und nehme einen prüfenden Schluck. Ein Finne zaubert mir ein Lächeln aufs Gesicht. Ohne drüber nachzudenken und mein bereits Gelerntes unter Beweis zu stellen entgegne ich ganz goofyhaft mit „Danke!“.

Ich bin, nach ein wenig anfänglicher Skepsis, nun auch sehr erstaunt über die Konzertkultur. Obwohl ich hier kaum wen kenne, habe ich den Eindruck, dass ‚alle da sind‘ und abgehen, eben weil Konzert ist, eben weil sonst nichts los ist, und vor allem aber weil alle sich gegenseitig und die Bands unterstützen wollen. Obwohl der lokale Plattenladen sehr gut sortiert ist, kaufen alle ihre Tonträger dennoch gerne direkt auf den Konzerten (ist ja zumeist auch günstiger und die Bands freuen sich wahnsinnig). Und obwohl alle um mich herum, bis auf die, die mich direkt ansprechen, Finnisch sprechen, habe ich das Gefühl mittendrin zu stecken und nicht mehr nur Beobachter, sondern Teil zu sein.

Die Konzerte machen Laune und ich merke, dass hier Leute und Bands zusammenkommen, die sich untereinander kennen, die Shows zusammen organisieren und stemmen. Und erst später erfahre ich, dass dieser Ort (und damit zumindest auch dieser Platz für Konzertveranstaltungen) seinem Ende zugeht, weil er für den Eigentümer nicht genug abwirft (und das trotz lahmer Comedy-Club-Veranstaltungen. Wer hätte es gedacht…). Einen komplett eigenen Raum hat die D.I.Y. Gruppe leider nicht. Dafür bleibt nur noch das „Musta Kynnys“ („Schwarze Schwelle“) und ab September 2016 wieder das „Ilokivi“, das ab da seine Pforten wieder bereit halten wird sowie vielleicht die ein oder andere solidarische Bar in Uni-Nähe und nach wie vor das „Lutakko“ für (Punk-)Konzerte der etwas größeren Kategorie, wenn z.B. Bands wie „Moscow Death Brigade“ auf Finnland-Tour sind.

Zu den Bands selbst an diesem Abend schreibe ich hier nichts, denn was sollte ich schreiben? Am Ende gibt’s Namen, Links und Anspieltipps. Macht euch selbst ein Bild. Erwähnenswert aber scheint mir doch, dass Bands wie „Bundolo“ zwar, wie die meisten Bands an dem Abend, auf Finnisch (oder Schwedisch) singen, in ihr Tape allerdings eine englische Übersetzung ihrer finnischen Songtexte reingelegt haben. Hier sieht mensch wieder schön, wo der moderne Geist wirklich sitzt: Alle meckern über die Antiquiertheit von Tape und dass es bloß ’schick‘ ist, während die eigentliche Antiquiertheit (und das gilt so ziemlich für jedes x-beliebige Format deutschsprachiger VÖ’s) darin besteht, dass Du zumeist native speaker sein muss, um inhaltlich einen Zugang zur Musik zu bekommen. Ich denke kurz darüber nach, wie leicht oder schwer es wäre, ganz bestimmte deutschsprachige Punkbands ins Englische zu übersetzen… „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Ludwig Wittgenstein).

An einem anderen Tag im Plattenladen: Ich gehe hin mit dem Vorsatz, ganz systematisch die Sparte „Suomipunk/7inches“ zu durchforsten und mich auf den Kauf von genau einer Platte zu beschränken. Nach einer Reihe eigenartiger, aber auch ziemlich cool gemachter Cover, da komplett selbst zugeschnitten und per Hand ausgemalt (Unikatskala 100 Punkte!), entdecke ich die Band ‚Dead Moose‘. Die Scheibe ist von 2013, auch hier am Cover alles selbstgemacht, aber nochmal durch einen Drucker gejagt. Kein Label, kein gar nichts. Nicht mal eine Mailadresse. Ich lese mich durch die englischen Texte und finde schnell: das ist ein Fang. Zuhause hör ich das Teil durch und bin hin und weg (Der Aufwand, meinen Plattenspieler mitzunehmen, hat sich definitiv gelohnt, denn finnische Bands packen zu ihren Veröffentlichungen selten Downloads dazu.

Läuft dann meistens für lau über Bandcamp). Beim Hören dieser 7“ jedenfalls werfe ich einen genaueren Blick auf das Bandfoto im Innencover und komme nicht um hin dort Olli von JKL DIY als Schlagzeuger wieder zu erkennen. Ich rufe bei ihm an und hake nach: „Hey, just a curiosity, are you playing drums for ‚Dead Moose‘?“ Kurzes Schweigen, dann die Antwort: „How did you find out that? Yes, it’s true!“ Schön zu sehen, wie in so kleinen Stadtszenen Überraschungen eben tatsächlich sehr schnell möglich sind. Erst etwas später finde ich im Fanzine „Ajatuksen Valo“ Interviews mit „Dead Moose“ und mit „Submission“, einer Band mit denselben Leuten, aber komplett anders besetzt und mit komplett anderer Stilrichtung. Wenn es einen unter vielen Werten von D.I.Y. gibt dann wohl: Vieles sollte möglich sein. Warum immer dasselbe machen und sich an künstliche Stilbegrenzungen halten?

Es ist immer noch Winter. In Finnland gibt es etwas, das sich „Äitiyspakkaus“ nennt, zu Deutsch „Mutterschaftspaket“. Alle, die ein Kind erwarten (mal ganz zu schweigen davon, dass sie sich ‚legal‘ in Finnland aufhalten müssen und irgendwie an das Gesundheitssystem angeschlossen sein müssen), werden vom finnischen Staat mit einem solchen Paket (Sachwert ca. 300,-) versorgt, in dem sich alles mögliche an Kleidung und Zubehör für Kleinkinder befindet, und zwar in einer Kompaktheit, dass sogar die Transport-Kiste selbst (bereits ausgelegt mit einer Schaumstoffmatte) als Säuglingsbett verwendet werden kann. Eine großartige Idee, auch wenn sie möglicherweise längst nicht alle Bedürftigen erreicht.

Gebraucht gehen diese Pakete sogar auf ebay für nicht wenig Wiederverkaufswert weg und im lokalen Gesundheitszentrum-Zentrum („Kela“) der Stadt steht das Ding sogar ausgestellt. Den Anmeldeprozess für so ein Paket, der mit ein paar Mal Klinkenputzen beim Gesundheitszentrum verbunden ist, überstehen wir irgendwie und bekommen postwendend dieses sehr nützliche Paket geschnorrt. Darin u.a.: winterfeste Bekleidung für Kleinkinder, wiederverwendbare Windeln, diverse Bodies, Strampler, Overalls und ein Kinder-Schlafsack. Die meisten unserer anderen Kindersachen haben wir second hand gekauft oder z.B. geschenkt bekommen. Meist wollen die Leute diese überwiegend kaum getragenen Sachen loswerden. Das betrifft vor allem die Kindersachen der ersten Wochen, in denen die rasant wachsen. Da hat mensch schnell alles zusammen für die ersten 5 Monate – ohne viel Geldaufwand und Neukaufen. Häkeln, Stricken, Nähen ist zwar aufwendig, haben uns aber von Zeit zu Zeit daran versucht. Für eine Mütze hat es immerhin schon gereicht… mittlerweile passt sie längst nicht mehr.

Zu unserer Überraschung erreicht uns auch eine Kleiderspende aus wärmeren Gefilden, allerdings eine der antinationalen Art. Eine Spezialanfertigung für Kinder, handbedruckt von der befreundeten Punkband „Tischlerei Lischitzki“ (Azubi-Body + Azubi-Shirt), findet den Weg zu uns nach Schneeland mit folgender Notiz: „…nach ihrer erfolgreichen Flucht ins sichere Schneeland brauchen sie sicher noch einiges, aus Erfahrungen wissen wir das Kleiderspenden nötig und willkommen sind. In diesem Sinne… viel Spaß dann zu dritt!“ (Ralf, an dieser Stelle nochmals vielen Dank!).

Wer nun an dieser Stelle einen Absatz zu ‚Refugees in Finnland‘ erwartet, weiß selbst, dass das schnell den Rahmen eines Exkurses sprengt und Teile eines weiteren Artikels füllen könnte. Ein Mensch wie ich, der aus einem sicheren Land mit relativ hohem Wohlstand in ein sicheres Land mit relativ hohem Wohlstand gezogen ist, muss sich hier vorher klar werden, wie man darüber aus der eigenen (non-Refugee-)Perspektive überhaupt schreiben kann. Gerade hier ist es schwer etwas Substantielles zu schreiben, eben weil mensch nur die Außenperspektive hat und es nicht direkt am Leib erfährt. Welches Wort wäre hier nicht viel zu viel Erste-Welt-Reportage? Dieses Thema, und vieles andere, immerhin zu versuchen mit Bezug auf Finnland, das ja bei Weitem nicht so viele Refugees aufnimmt, etwas aufzuarbeiten, wäre etwas für einen nächsten Teil. Ohne Zweifel aber hat natürlich auch Finnland (und für welche Regionen schon gelte das nicht) ein Rassismus- und Faschismus-Problem.

Autoritätshörigkeit, Duckmäusertum, fehlende politische Haltung und Vorurteile sind auch hier Grundkennzeichen eines Großteils der Bevölkerung. Vielleicht reicht einigen vorerst folgender zweistündiger Podcast zu „Immigrants in Finland“ auf www.totuusradio.fi/immigrants-in-finland
Aber apropos Finnland und ’sicher‘: Genauso nah an ganz eigenen Erfahrungen im hier und jetzt in Finnland – und damit soll dieser Bericht langsam zu einem Ende kommen – ist das Leben in Zeiten von Energiedebatten und atomarem Risiko. Als Jahrgang 87 gehöre ich mit zu denen, die nicht lang nach Tschernobyl das ‚Licht‘ der Welt erblickt haben.

Während ich wenige Wochen vor Mittsommer mit Olli von JKL DIY gegen 1:00 ’nachts‘ am Wasser sitze und auf die Dämmerung blicke, kommen wir irgendwie auf dieses Thema und landen schnell bei den aktuellen Entwicklungen der Atomwirtschaft in Finnland: Wer z.B. die Blogseite vom Hambacher Forst verfolgt, konnte über die Solidaritätsbekundungen mitbekommen, dass sich bereits seit Frühjahr 2015 an der Westküste Finnlands nahe Pyhäjoki/Hanhikivi ein Protestcamp installiert hatte (zu finden unter: fennovoima.no.com). Nachdem sich der Energiekonzern E.On 2012 aus Investitionen zurückgezogen hatte, brauchte der finnische Energiekonzern Fennovoima Geld für sein geplantes Kernkraftprojekt nahe Pyhäjoki.

Der russische Konzern Rosatom war zur Stelle und als im Frühjahr 2015 die Bauarbeiten begannen, hatte das Protestcamp bereits mit seinen Blockade-Arbeiten vor Ort begonnen. Es folgten Polizeimaßnahmen und -gewalt, Festnahmen, Inhaftierungen, sexistische Übergriffe während der Haft. Wie Olli mir erzählt, hat vor allem der vergangene Winter 15/16 dem Camp viel abverlangt. Als jemand aus Mitteleuropa macht mensch sich vermutlich nicht so sehr davon einen Begriff, aber Winter in Finnland bedeutet Kälte. Unfassbar, wie viel Einsatzwille und Durchhaltevermögen bei denen sein muss, die dafür gesorgt haben, dass das Camp dort (wenn auch mit immer mal wechselnden Standort) aktiv geblieben ist und nach wie vor den zivilen Ungehorsam gegen die für Natur, Tier und Mensch so verheerenden Baupläne dort organisiert.

Ein Grund, weshalb im Juli 2016 Teile der Einnahmen vom anarchistischen Straßenfest „Musta Pispala“ in Tampere als Soli an das Camp gingen, um z.B. Prozesskosten zu decken. Das „Musta Pispala“ („Schwarzes Pispala“, benannt nach dem Stadtteil Pispala in Tampere) jährt sich mittlerweile auch zum 11. Mal und ist damit eines der beständigsten gegenkulturellen Veranstaltungen in Finnland. Uns 3 verschlug es Ende Juli 2016 dorthin. In einem Gespräch mit Jouni Parkku, Betreiber des Fanzines ‚Ajatuksen Valo‘ und des Labels ‚Johnny Park Avenue Records‘ (daher also der Label-Name – Jouni Parkku!) aus Tampere, komme ich zu einem sehr fairen Preis an zahlreiche Back-Issues seines Zines und finde beim Stöbern durch seine Tapes zu „Abus“, eine Band aus Turku mit französischen, schwedischen und englischen Texten. Überraschend? Wohl kaum für eine Band, die ihre eigene Musik beschreibt als „Punk and Hardcore. Without limits or limitations.“

Weitere Infos zu den Workshops auf dem Musta Pispala findet mensch bereits gut gesammelt auf mustapispala.net (mit ein bisschen Suche findet sich dort auch eine englische Beschreibung). Auch für die Geschehnisse in Pyhäjoki gab es dort einen separaten Workshop. Für alle Details und Infos zum Anti-Kernkraft-Camp nahe Pyhäjoki/Hanhikivi und seiner bisherigen Geschichte verweise ich hier sehr gerne noch einmal auf fennovoima.no.com (Die Seite ist auch auf Englisch abrufbar. Am aktuellsten ist aber die finnische Version. Stay tuned!).

Am Tag nach meinem Gespräch mit Olli bei Mitternachtsdämmerung nehme ich meine Tochter ins Tragetuch, schließe meine Jacke und meine Freundin nimmt uns mit in die Wälder. Währenddessen erinnere ich mich an eine Bemerkung von Olli: „Geh in die Wälder und du wirst keine Tiere finden. Bleibst du aber 1-2 Stunden ruhig an einer Stelle, werden sie nacheinander kommen und sich nach dir erkundigen.“ (Fortsetzung folgt zu gegebener Zeit. Noch nicht klar, wo.)

Benni Hübbe

p.s.: Kurz vor meinem eigenen Redaktionsschluss erreichen mich weitere News: Die Punk-Szene in Jyväskylä arbeitet an einer Dokumention über sich selbst. Ihr Titel: „Jyväskylän Meininki“ („Jyväskyläer Atmosphäre“ könnte ich hier zwar irgendwie richtig, aber auch hemmungslos falsch, übersetzen. Der Titel stammt von einem gleichnamigen Song von „Delta Force 2“, einer HC-Punk-Band aus Jyväskylä). Im Oktober 2016 hat diese Dokumentation in Jyväskylä ihre Premiere mit einem Konzert im „Lutakko“.

Auch dieses wichtige Puzzleteil zur Aufarbeitung einer von der Berichterstattung oftmals ‚verschwiegenen‘ Szene mitten in Finnland muss in einem zweiten Teil meines Berichts seinen Platz finden. Erste Eindrücke darüber wie die Doku sein wird, gibt vielleicht der zweite Teil des folgenden Interviews, das ich bei Mini von kamikaze-radio.de dazu gegeben habe: www.ramtatta.de/s/interviews/f/details/id/7801. Bis zum Release der Doku verweise ich gerne noch solange auf: www.facebook.com/jyvaskylanmeininki. Den Trailer zur Doku gibt’s hier: https://www.youtube.com/watch?v=YTdyA10mlqc

lesen:

jkldiy.net (D.I.Y. und Punk in Jyväskylä und Finnland mit vielen weiteren links)
thetrveavzine.wordpress.com (reduzierte Online-Fassung des gedruckten Fanzine ‚Ajatuksen Valo‘)
www.punkinfinland.net (eine Datenbank zu finnischen Punkbands)

fennovoima.no.com/en (Blog des Anti-Atom-Protestcamps nahe Pyhäjoki/Hanhikivi)
takku.net (D.I.Y. media project in Finnisch, z.T. ins Englische übersetzt)

http://www.ox-fanzine.de/web/itv/3689/interviews.212.html (Ox-Interview mit Joose Berglund zum früheren Punk in Finnland und zur Compilation, die dazu vor ein paar Jahren erschienen ist)
www.facebook.com/jyvaskylanmeininki (Online-Präsens des Szene-Kollektivs, das an der für Oktober 2016 geplanten Dokumentation über Punk in Jyväskylä arbeitet)

hören (ganz subjektiv):

Dead Moose (ddms.bandcamp.com)
Småstadsliv (smastadsliv.bandcamp.com)
Bundolo (bundolo.bandcamp.com)
Bad.Jesus.Experience (badjesusexperience.bandcamp.com)
Ydinaseeton Pohjola (ydinaseetonpohjola.bandcamp.com)
Huono Idea (huonoidea.bandcamp.com)
Submission (submissionfin.bandcamp.com)
Sister Disaster (sisterdisaster.bandcamp.com)
The Escapist (escapistfin.bandcamp.com)
Abus (abusabus.bandcamp.com; abus.altervista.org)

irgendwo dazwischen:

jpar.blogspot.fi (Johnny Park Avenue Records, D.I.Y. Label, Tampere)
www.totuusradio.fi (politisches Radio in Finnland mit weiteren links)
mustapispala.net (anarchistisches Straßenfest im Stadtteil Pispala, Tampere)
puntala-rock.net (29./30. Juli 2016, D.I.Y./Punk-Festival Nähe Lempäälä und Tampere)
vastavirta.net (Laden in Tampere)
Soul Rokker Records (sehr junges Label in Jyväskylä; Webpräsenz auf discogs.com)
www.radioflora.de/contao/index.php/sendebewusstsein-wir-nennen-es-punk.html
(Interview über Punk und D.I.Y-Kultur in Jyväskylä mit Daniel von Elfenart und Ralf von Tischlerei Lischitzki und mir als Gast; Unter sendebewusstsein@gmx.de kann mensch gerne freundlich einen download dieser Sendung erfragen)

www.ramtatta.de/s/interviews/f/details/id/7801
(zweiteiliges Interview, das Mini von kamikaze-radio.de mit mir über Punk und D.I.Y. Kultur in Finnland geführt hat; Der 2. Teil enthält bereits ein paar Infos zur Punk-Doku „Jyväskylän Meininki“, die in Jyväskylä gedreht wird)

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