Dezember 15th, 2016

BETTY BITCH (#66, 10-1997)

Posted in artikel by Jan

Fusionen am Ende der Neunziger

Der Projektleiter holt mich vom Bahnhof in Siegen ab. Am Auto warten „Herr Scheider“ und „Herr Gelling“ (die Typen sprechen sich wirklich nur so an – muß ’ne Art interner Kleinstadt-Code sein; als Lee Hollis mich am nächsten Abend fragt, wie der „coole Schlagzeuger“ heißen würde, wußte ich noch immer nicht seinen Vornamen, obwohl ich mit ihm schon ‚zig Stunden verbracht hatte, sogar gemeinsam mit ihm auf der Bühne stand, was ja eine ähnliche Vertrauensbasis bedeutet wie Entbindung und Blinddarm-Operation in einem. „Nenne ihn einfach Herrn Schneider“ -„?!?“).

Wir fahren zu „Herrn Kircher“, also zu Martin, dem zweiten Martin im Projekt, wahlweise „Junge“ genannt, „Der schwarze Mann“ oder „Der Böse“ (all das geistert im Auto neben Schreckensmeldungen, daß man bei „dem Bösen“ die Schuhe im Eingang ausziehen muß, nicht rauchen darf, kein mitgebrachtes Bier in seinen Kühlschrank stellen), seines Zeichens Sänger von EA 80 und alleiniger Teilhaber an dem Noise-Projekt KILLER. „Herr Schneider“ und „Herr Gelling“ spielen dagegen in der durchaus ambitionierten Band GRAF ZAHL (so ’ne Art Quietscheenten-Version von den BOXHAMSTERS), unser Projektleiter, „Herr Pech“, trommelt bei KLOTZS. Eine Band, in der deren Sänger wie Glenn Danzig klingen möchte und dies auch fast hinkriegt.

„Herr Kircher“ nennt das „Erwachsenen-Musik“, liegt aber falsch. Pathetisches Gerocke mit Pauken, Schweiß und vorgestrecktem Becken mögen vielleicht Erwachsene machen – hören tun das allerdings die Kleinen. Siehe Visions. Und das Alter von deren Lesern. (Ich weiß das, denn ich krieg von denen immer Fanpost). Würde Vision rückwärts abgespielte Botschaften auf ihren beigelegten CDs einschmuggeln, die für die DKP werben, hätte das keinerlei Folgen, da sowieso noch keiner ihrer Leser wählen darf. Nee, „Musik für Erwachsene“ machen KLOTZS wirklich nicht, denn ab Dreißig wird man auf ganz andere Weise infantil – anders ließe sich nicht erklären, warum „Herr Kircher“ und „Herr Büsser“ sich für das Projekt namens BETTY BITCH haben gewinnen lassen. Wir hätten es doch besser wissen müssen! – Alleine der Name! „Herr Pech“ will das als Graffiti an einer Hauswand gelesen haben. Na ja, THE DEVIL IN MISS JONES klingt ja auch nicht viel klüger.

Unser Wagen bewegt sich in Richtung Mön-chengladbach zur Generalprobe für den ersten Auftritt am nächsten Abend. Es soll eine Trockenprobe werden, „Musik vom Blatt“. Beinahe lautlos also. Andernfalls wäre „Herr Kircher“, der in einer Reihenhaussiedlung mit Jägerzaun wohnt, fristlos vor die Tür gesetzt worden. (Halt – ist alles Quatsch! Ich schreibe das nur, um die Lokalität zu verwischen und den Mythos aufrechtzuerhalten: Martin hat mir an dem Abend sechs Pizzen ausgegeben, auf daß ich in diesem Text nur falsches Zeugnis über seine Person und Wohnung ablege, damit die wilden Fans mit ihren BAD RELIGION-T-Shirts ins Leere laufen und in Mönchengladbach am Ende bei einem pensionierten Bademeister mit Katzenallergie klingeln, um sich dort ihre „Die böse Hand“-Singles signieren zu lassen.) Der Bademeister ist selbstverständlich informiert und spielt mit. Leider sieht er aber eher Roy Orbison als Martin Kircher ähnlich.

BETTY BITCH ist ein seltsames Projekt, das „Herr Schneider“ als „Krautrock“ bezeichnet, „Herr Gelling“ dagegen als „Siebziger Jahre Drogenrock“. „Herr Schneider“ baut am näch-sten Abend auf der Bühne im Siegener VEB ein Xylophon auf, das so lang ist wie Gerhard Stoltenberg mit ausgestreckten Armen. Das macht was her. Die Bühne ist voll. Seit TORTOISE, die ebenfalls ein Xylophon haben, als zeitgemäßer Krautrock gelten, sind wir damit sicher auch Krautrock. Oder vielleicht doch eher Krautjazz?!

Als dann aber „Herr Gelling“ eine Blockflöte auspackt, die er durch ein Delay laufen läßt, was den Mixer zur Verzweiflung bringt, wird mir klar: Das ist doch eher „Siebziger Jahre Drogenrock“. Und zwar der schlimmsten Sorte. Querflöte kennt man ja, haben so komische Bands wie RUPHUS ZUFALL gespielt (doch, die gibt es wirklich, ich habe zwei Platten von denen, „Weiss der teufel“ und „Phallobst“) – aber eine Blockflöte?! – So tief sind nicht einmal LSD-Narren wie VADER ABRAHAM gesunken. Ich schäme mich. Doch es gibt kein Zurück mehr. Die Fans rütteln bereits an den Türen. Während ich im Schneidersitz zu Texten von Hermann Hesse meditiere, erklären mich die gerade eingetroffenen KASSIERER zum „Punk der Woche“, Willi Wucher interviewt mich derweil mit seinem Langhaarschneider, den er für Scumfuck-Interviews ebenso benutzt wie für seinen Kopf vor „heißen“ Konzerten im Ostdeutschen. Wir tauschen uns angeregt über die Bedeutung von Ying und Yang aus, unter Tränen erklärt er MARILLION zu seiner Lieblingsband.

Der Abend wird für alle Beteiligten ein Debut. Und nicht nur das. Mindestens noch mehr. „Herr Pesch“ trommelt auf Keksdosen und rappelt mit Schrauben, „Herr Kircher“ bedient die Vierspur und seine Gitarre, „Herr Schneider“ Xylophon und weiteres, kosmisch aussehendes Schlagwerk, „Herr Gelling“ macht auf Flöte, geht dann maskiert – ansonsten nur mit einer Windel bekleidet – durch das Publikum, fordert es auf, ihn mit Fingerfarbe zu bemalen. Ich trage zu all dem Texte vor, so ’ne Art Gedichte, wenn man das hochgestochen überhaupt so nennen darf. „Man hat dich schwer verstanden“, meinte „Herr Hollis“ nach dem Auftritt. „Bei dem einen Stück habe ich nur ‚Kinderporno‘ rausgehört -schade eigentlich, als ich das Wort verstanden habe, hätte mich der Rest eigentlich auch interessiert.“

Okay, dieser Text hier steckt voller Lügen, aber: das mit dem Auftritt stimmt, das mit der Flöte, mit der Windel, mit den Fingerfarben, mit dem ‚Kinderporno’… leider stimmt das alles auch. Unser Auftritt war so beschissen Hippie, so beknackt Kunst, so stark Galerie, Selbstverwirklichung, Therapie, Urschrei usf., daß es eigentlich keine Mißverständnisse mehr hat geben können: BETTY BITCH übertreibt alles dermaßen beknackt, daß es nur – na ja, klar: die coolste deutsche Band der Stunde sein kann. Und nur so habe ich das alles ertragen können: Als ein Statement gegen die Rockscheiße, gegen die Crossover-Scheiße, gegen die Melodiepunk-Scheiße, gegen die Assi-Punkscheiße, aber natürlich auch gegen die Hippie-, Kunst- und Schwalli-Scheiße. Denn, mal ehrlich: Wer heute die Wahl zwischen BAD RELIGION, TERRORGRUPPE und DIE STERNE hat, muß doch gleich dreimal kotzen!

Oder? Na also.

Und als der Irrsinn ein Ende hatte, fragte doch echt einer, ob er unsere CD kaufen könnte. Tja, BETTY BITCH scheint auf dem richtigen Weg zu sein.

Leider aber war das Publikum nicht irritiert. Sondern hat sogar geklatscht. Heute läßt sich ja kein Publikum mehr irritieren. Sehr schade. Es waren aber auch weder Scumpunker, Diskurspopper noch Erwachsenen-Hörer da, die hätten irritiert werden können. Wieder mal nur Leute ohne Einfluß, kein winkender Vertrag, keine linke Hand von Sony.

Text: Martin Büsser

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