Dezember 31st, 2023

Jürgen Heiter (#219, 2023)

Posted in interview by Jan

„Alle guten Filme enden mit einem Drehbuch, alle schlechten Filme beginnen damit“.
Im Interview mit dem Regisseur JÜRGEN HEITER

Vor zehn Jahren las ich online oder in der Spex etwas über den „10 PM Lincoln Boulevard“-Film, den der Kölner Regisseur Jürgen Heiter mit Raymond Pettibon fertigstellte. Pettibons Musik, Videos und natürlich seine Malerei – er ist laut Netz „einer der wichtigsten zeitgenössischen US-amerikanischen Künstler“ (Bruder von Greg Ginn, SST Records, Black Flag, OFF!) – verehre ich seit 1992. Damals mit 14 sah ich zum ersten Mal sein Artwork auf der „In my Head“-Black-Flag-Platte (von 1985) im Kölner Plattenladen Normal Records. Aber von dem „Lincoln“-Film wusste ich nichts und staunte. Denn es war schon der zweite Film von Jürgen mit Ray nach „Long live the People of the Revolution“! Es verhält sich bei „Lincoln Boulevard“ (Rays alte Atelieradresse in L.A.) so: „Der Film entstand in New York, Los Angeles, Berlin, Frankfurt und Köln mit Raymond Pettibon als Co-Autor und Hauptdarsteller. Zu sehen ist ein künstlerischer Prozess als Performance: Pettibon als Sänger, als Baseballspieler, als klassischer Hollywoodregisseur. Es ist ein Film, bei welchem die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation verschwimmen“. Zu der Machart von dem „Revolution“-Film gibt es eine schöne Kritikermeinung online, der Film ist eine „Sympathieerklärung für diejenigen, die es voller mutigem, freundlichem Zweifel ernst nehmen mit den Menschen“.

„High“ vs. „Low“!?
Sodann bestellte ich mir bei Jürgen den Film für eine Rezension im Trust. Ja, es ist Kunst und ja, wir sind ein Punkrock-Fanzine – aber diese Gegensätze zwischen „High“ und „Low“ sind doch obsolet, es gibt viele Parallelen in einer gewissen „Free Your Mind“-Geisteshaltung. Jürgen stellte meine Rezi später sogar auf seine Homepage, wir schrieben uns lose über die Jahre. Als ich 2019 meinen dritten Anlauf seit 2004 machte, um mit Raymond Pettibon ein Interview fürs Trust zu führen, lernten Jürgen und ich uns live in Köln kennen. 2021 erschien dann das Raymond-Interview im Trust, Anfang 2022 sahen wir uns wieder in Köln, in der Zwischenzeit sichtete ich weitere Filme von Jürgen, mir gefällt seine offene Haltung, die sich auch in seinen Filmen zeigt. Ich find´s klasse, als Punkrock-Fan wirklich nette Kunst-Leute zu treffen, „über den Tellerrand zu blicken“ und ich habe es immer genossen, Leute zu treffen, von denen man viel lernen kann, weil sie sich schon viel länger mit Themen auseinandersetzen, von den man selber nur oberflächliche Ahnung hat, Stichwort „Kunst“, „Filme“ etc.

„Ein Kilo Blau (Die Musik)“
Im Mai 2022 erschien der neue, 123-minütige Film von Jürgen, in dem auch Pettibon wieder am Start war. Die Premiere fand im Filmhaus Köln statt, dazu sollte es eine Performance von dem schwedischen Schlagzeuger, Komponisten und Performer Sven-Åke Johansson geben, der der Erzähler in dem „Ein Kilo Blau“-Film ist (und in anderen Filmen von Jürgen bereits mitspielte). Es war ein klasse Abend! Leider war Johansson krank, dafür gab es einen ganz aktuellen Heiter-Kurzvorfilm mit älteren und jüngeren Performances von Johansson, dann einen interessanten Vortrag des in Köln lebenden Frankfurter Rundschau-Filmkritikers Daniel Kothenschulte über Jürgens Filmphilosophie. Da wurde von dem Prinzip der „dialektischen Montage“ gesprochen. Das fand ich passend!

„Gegen das Ideal des Dokumentarischen fiktiv, gegen die Anmaßung des Fiktionalen dokumentarisch. Gegen die Suggestion der Oberflächen theoretisch, wie gegen praktische Philosophie poetisch“.
Auf der Homepage vom Filmhaus Köln hieß es in der Ankündigung noch: „Ein Kilo Blau (Die Musik). Regie: Jürgen Heiter. Mit: Raymond Pettibon, Olaf Möller, Cony Theis u.a. “Ein Kilo Blau“ ist ein Detektivfilm. Vermisst werden Frauen und ihre Kinder, die in einem Gebirge in der Nähe von Rom spurlos verschwanden. Der Fall bleibt unaufgeklärt, wird darum zum Mythos und der Film macht sich auf die Spur nach dem, was dieser und überhaupt ein Mythos ist, nämlich ein Ausdruck von vergangener Geschichte in Zeit und Raum. Wir sehen – wie in einem sehr alten Stück – den Auftritt der den Mythos spielenden Darsteller, die immer intensiver selbst mythisch werden. Sie sagen auf und leiden doch, sie spielen nur und sind doch schuldig. Der Erzähler, der Chor, die Rache, der Wahnsinn, die Liebe, der Tod. Daraus ist ‚Blau‘ gemacht. Und das Machen zeigt sich als die Wahrheit des Films, dass er ‚alle Zeiten‘ im ‚Jetzt‘ seiner Wirklichkeit zeigt. Er ist Einwand gegen Chronologie. Aber es fängt an; mit dem Beginn des Films fängt es an, dass der Mann mit der Mütze im Film losgeht, der Film folgt ihm, und er ist wirklich der, der durch Raum und Zeit die Piazza überquert und in der Menschenmenge verschwindet, oder wo die Kamera ihn aus den Augen verliert“.

Schnee auf Palmen
Wunderschön fand ich die Film-Szene, in der man tatsächlich Schnee auf Palmen sah. Ich hörte beim Biertrinken im Anschluss (lustigerweise war „Filmriss-Happy Hour“) den Kommentar „angenehm spröde“ bezüglich des Films: das passt, weil genau das gefällt mir, der „reduziert-trockene“ Stil. Keinesfalls langweilig, im Gegenteil. Wahrscheinlich habe ich mich durch das „Hollywood-Overkill-Batman-Spiderman-Kommerzkino“ so verblöden lassen, dass ich länger brauche, wirklich gute Filme zu würdigen, in der Musik klappt das ja auch! Jedenfalls erinnerte mich der Filmtitel an diesen schwedischen Film von 1968, „Ich bin neugierig (blau)“ und Jürgen gratulierte ich nach der Premiere mit „Spitze, harte Kost“. Er nahm es unaufgeregt-gelassen! Besucht Jürgens Webshop, da kann man sich viele seiner Filme auf DVD kaufen, auf Youtube ist dazu nichts zu finden. Der Abend der Filmpremiere endete in einer schönen Kneipe und mir fiel erst auf dem Rückweg von Köln mit dem Nachtexpress nach Frankfurt auf: 1992 entdeckte ich wie bereits erwähnt in der Weidengasse 56 am Hansaring im damals angesagten „Spex-Indie“-Plattenladen Normal Records die Kunst von Pettibon. Fünf Minuten Fußweg davon entfernt befindet sich das Filmhaus Köln, wo ich 2022 dann der Filmpremiere mit u.a. Pettibon-Beteiligung beiwohnen konnte. Tja, fünf Minuten Entfernung, zwischen denen 30 Jahre liegen.

Filmographie Jürgen Heiter
Nun ist es aber an der Zeit, euch einen fragmentarischen Überblick über den 1950 in Recklinghausen geborenen Regisseur zu geben (ihr findet ausführliche Infos hier zkm.de/de/person/jurgen-heiter). Der erste Film von Jürgen war 1979, „Gesellmanns Augenfutter“ (zusammen mit Petra Seeger), es folgten dann circa 45 weitere Filme wie zum Beispiel 1999 „Ein Bauer der Photographie“ (Godards Kameramann Raoul Coutard), 2010 „Long Live the People of the Revolution“, 2012 „10 pm Lincoln Boulevard“, 2014 „Recordings (Sven-Åke Johansson)“, 2015 „Secret Service – Ende des Imaginären II“ (zusammen mit Cony Theis), 2017 „Kurze Tage“ (zusammen mit Cony Theis) und jüngst „Pick it Up“ und „Ein Kilo Blau (Die Musik)“, auf den geplanten Pasolini-Film kommen wir zu sprechen.

Aber man sieht hier schon, dass der Name Cony Theis mehrmals auftauchte, dazu ist es anzumerken, dass sie eine Kölner Künstlerin und seit einigen Jahren Professorin für Bildende Kunst ist. Cony und Jürgen sind liiert, deshalb lernte ich Cony cooler weise auch kennen und wisst ihr was: Jürgen und Cony sind einfach gute Leute und darum gehts doch eigentlich, Kunst und Godard (RIP) hin, Punkrock und Sid Vicous her! Na ja, man kann aber auch nicht immer gewinnen: bei unserem ersten Treffen erzählte Jürgen von seinen cineastischen Einflüssen, „Nouvelle Vague“, „Godard“ – kein Thema, denn: „Godard? Kenne ich! Das ist dieser französische Unterwasserfilmer gewesen!“. Da willst du ein Mal zeigen, dass du nicht nur von Punkrock Ahnung hast!

Ausstellungen, Lehrtätigkeiten, Publikationen
Im Sommer gab es eine tolle Retrospektive auf Jürgens Schaffen im Kunstverein Gießen, deren Vernissage ich auch besuchte, der Begleittext informierte dazu: „Sein Werk umfasst 42 Spiel-, Dokumentar- und essayistische Filme. Er hat zudem filmische Installationen für Ausstellungskontexte konzipiert, mit Künstler*innen kooperiert und Filmprogramme kuratiert. Die Ausstellung in Gießen zeigt und ist: vor dem Film (Wandskripte) und nach dem Film (Archiv), sie zeigt die verschiedenen Zustände des Films/Archiv in Raum und Zeit, u .a. auch Schaltpläne als Material-Beispiele für Heiters Verfahren der Montage, Collage und performativen Entwicklung von Filmen. Das Archiv als Ort der Verdichtung von Zeit, anti-nostalgisch und sinnlich als Ort der Produktion und als Gegenpol zu einer virtuellen „Welt der Möglichkeiten“. Es ist ein Raum in Arbeit, ein Labor mit Forschungscharakter. Es öffnet sich in Form eines neuen, in der Ausstellung realisierten und dann dort auch uraufgeführten Films“.
 Frühere Installationen, Screenings und Ausstellungen fanden u.a. in der Cinemathek im Museum Ludwig Köln, im Museum der Moderne Salzburg, in der Kunsthalle Baden-Baden, dem ZKM Karlsruhe, der Staatsgalerie Stuttgart, dem Museum Kunstpalast Düsseldorf oder auch im Deutschen Kulturzentrum Taipei in Taiwan statt. Lehrtätigkeiten umfassten zahlreiche Workshops und Filmseminare an Hochschulen und Akademien in Deutschland und der Schweiz. Und in diesen Publikationen erfahrt ihr mehr über Jürgen Heiters Filme: „Die Straßenbahn am Meer, Filmbuch mit allen Einstellungen und Dialogen“, Herausgeber: Künstlerhaus Schloß Balmoral (2008), „Jürgen Heiter. Filme“, Herausgeber: Künstlerhäuser Worpswede (2006) und „Raoul Coutard, Kameramann der Moderne“, Herausgeber: Karl Prümm (2004). Es ist zudem auch ein Buch über Jürgens cineastisches Schaffen in Arbeit.

„Man sieht sich“ (Spielfilmtitel von Jürgen, 1989)
Wenn euch das folgende Interview gefällt, dann kann ich euch online auf unserer Seite noch weitere Gespräche empfehlen, die etwas „abseits“ unserer sonstigen Standards „Punk-HC-Band-oder-Label-Interview“ liegen: mein Interview mit dem Frankfurter Horrorfilmer Dominic Saxl erschien in der Trust #216 (Oktober/November-Ausgabe 2022) und schon online sind meine Unterhaltungen mit dem britischen Künstler-Designer Freddie Yauner (Trust #135, 2009), „Popkulturpapst“ Diedrich Diederichsen (#137, 2009), Dokumentarfilmer Florian Opitz (#161, 2013), Fluxus-Künstler Benjamin Patterson (#161, 2013), der Texte Zur Kunst-Herausgeberin Isabelle Graw (#202, 2020) und natürlich mit Raymond Pettibon (#206, 2021).

Der ursprüngliche Plan war also: ich fahre für das Interview nach Köln in Jürgens und Conys Wohnung und bestaune auch diverse Pettibon-Originale an den Wänden… doch der Köln-Termin entfiel wegen Dreharbeiten, Jürgen wollte dann nach Frankfurt zu mir kommen, doch an dem Tag fielen die Züge nach Frankfurt aus, aber im dritten Versuch klappte es und wir führten das Interview dann in meiner Wohnung in Frankfurt. Pettibon-Originale hängen bei mir nicht an der Wand, dafür aber ein Poster des „Damaged“-Plattencovers von Black Flag mit den ikonischen, von Pettibon designten Balken-Bandlogo und Jürgens Visite war tatsächlich – so blöd es sich anhört – eine echte Ehre für mich. Viel Vergnügen jetzt mit Jürgen!

Jürgen mein Lieber, willkommen zum Interview, schön, dass du es nach Frankfurt geschafft hast. Ich freue mich echt sehr, dass du hier bist, lass uns einfach beginnen bei der Musik. Das Trust ist ein Punkrock-Heft, du bist in der Avantgarde-Musik zu Hause – Stichwörter Morton Feldman, John Cage, Free-Jazz, Stravinsky – d.h. eher nicht so in der Rockmusik, vielleicht willst du mal schildern, wie du auf die Avantgarde gekommen bist?
Spät. Als ich angefangen habe, wirklich mit Filmen zu arbeiten und nicht nur so als Halbamateur, da war ich Mitte 20. Da war die Avantgarde schon länger vorbei. Das war circa Mitte der 70er, da ging das ja auch ganz zaghaft los mit Punk 1976. Und das ist dann die Kurve, die zu der Avantgarde führte, denn vorher gab es ja alles schon an Rock, die Beatles, Rolling Stones und die Kinks, das war alles schon schön und gut, aber… Die Filme von Wim Wenders waren immer voller Musik der Kinks, nicht nur nett, aber eben auch nett. Aber dann kam Punk und ich bin für einen Film, der dann nie gemacht wurde, nach Manchester gefahren. Dort habe ich einen Mann kennengelernt, ohne Ahnung zu haben, dass der mit Sex Pistols zu tun hatte, ein Manager von Virgin Records.

Außerdem gab mir in Köln noch jemand die Adresse von Jim Burns, einem englischen Dichter, den Rolf Dieter Brinkmann übersetzt hatte. In Manchester, als wir uns kennenlernten, lautete dann direkt der erste Satz von Burns, tonnenschwer: „I am a stranger in my own country“. Da dachte ich mir „Oh je, das geht ja gleich gut los“! (lacht)… Manchester war interessant, überall hingen Plakate von Bands, die ich nicht kannte und doch schafften wir es nicht, in den zehn Tagen auch nur ein Konzert zu besuchen, weil wir immer wieder abgelenkt wurden. Wovon, keine Ahnung. Jedenfalls schrieb ich dann das Script für einen Dokumentarfilm, doch es dauerte, bis ich Leute fand, bezüglich Filmförderung und TV, die sich dafür interessierten. Unsere Ideen waren den Fernsehleuten allerdings nicht soziologisch genug für einen Film in …Sie wollten einen Film über Manchester, nicht einfach einen Film in Manchester, in der „Kathedrale des gnadenlosen Frühkapitalismus“.

Wir wollten Punk und den Publizisten Karl Heinz Bohrer zusammenbringen, der im vollen Stadion von Manchester United Friedrich Engels´ „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ deklamieren sollte. Man hätte es nicht hören können, aber sehen. Unklare Ideen, klare Bilder. Bohrer hätte es gerne gemacht. Doch es verlief sich dann, aber auf diese Punk-Geschichte stieß ich natürlich wieder, als ich dann Ende der 70er in Berlin lebte. Es war inzwischen so, dass Punk wirklich allgegenwärtig war! Man konnte Punk genauso wenig entkommen, wie man zehn Jahre vorher auch den Beatles oder den Hippies nicht entgehen konnte! (lacht)



Sehr schön! (lacht)
1977 zog ich nach Berlin und 1978 öffnete das SO36. Da spielten jeden Abend ziemlich unterschiedliche Gruppen, es wurde eifrig mit Bierdosen und Bierbechern durch die Gegend geschmissen. Allerdings war es jetzt auch nicht weiter erstaunlich, was man da so live gehört hat. Eines Abends trat ein Typ mit einem Schlagzeug auf und wurde vorgestellt von Martin Kippenberger, der das S036 kaufte und 5 Monate nach der Eröffnung erst einmal vor der Pleite rettete.

Ja stimmt, Kippenberger hat das ja tatsächlich mitbegründet!

Das war um 1978, jedenfalls stellte Kippenberger dann in diesem Punkladen einen speziellen Musiker mit seinen Kollegen vor – der Mann hieß Sven Åke Johansson. Sven spielte also dort. Eine vollkommen asketische Angelegenheit war dieses Spiel. Und das fand ich gut, weil die ansonsten da zu hörende Musik war… Also, dafür brauchte ich nicht unbedingt hinzugehen, doch das was Sven machte, war gut. Erfrischend. Avantgarde hin oder her… Ich kannte auch schon Ende der 60er in Köln natürlich Can usw., aber das hatte man natürlich Ende der 70er lange durch und so kam dann eins zum anderen.

Klar, deine Jugend waren die 60er, du bist 1950 geboren, für Punk in den 70er warst du eigentlich auch schon wieder mit fast 30 zu alt? (lacht)
Ja, aber weil du fragtest „Wie kommt man dahin?“, also, man brauchte nirgendwo hinzugehen, nicht suchen, weil alles war schon immer da, zumindest der Punk. Aber diese Art von Musik von Sven, die war erst mal nirgendwo, da musste man genau hinhören. Dann habe ich ein bisschen gelesen und weiter meine Filme gemacht. Mitte der 80er las ich einen Essay von Morton Feldman, das war auch eine ganz wichtige Sache. Weil die Leute mich oft fragen und fragten, worum es in meinem Film gehen wird, ich habe dann immer gesagt, „Das wird sich dann zeigen“. Morton Feldman hatte ein Kompositionsprinzip beschrieben, das er mit seinen Musikstudenten besprach, nämlich, dass es nur zwei Arten gibt, zu komponieren: die eine Methode war die von Stravinsky und da dachte ich damals „Na ja, das kann ja jetzt alles Mögliche bedeuten“. Aber die zweite Kompositionsmöglichkeit, die fand ich viel schlüssiger, Feldman erwähnte Schönberg, „Das Material ist die Komposition“. Und da dachte ich, „Das ist gut, denn so denke ich auch über Filme“, das konnte ich gut gebrauchen. Das fand ich auch bei jemanden wie Johansson wieder, bei dem war das sehr ähnlich.

Er ist ja auch eine Figur, die in den 60ern schon angefangen hatte?
Ja, der hat damals den Free Jazz mitgeprägt.

Mit Peter Brötzmann usw.?
Ja, da war er wirklich sehr jung und direkt von Anfang an dabei. Die reisten auch immer durch die DDR, die damals noch existierte, sie hatten sogar Konten in der DDR, weil sie in DDR-Mark bezahlt wurden… Jedenfalls fand ich diese Musik von Johansson wesentlich brauchbarer für meine Art von Filmen. Weil ich da zum ersten Mal begriffen habe, was ich zwar schon früh gesehen habe, aber das ist ja noch mal ein Unterschied, nur zu wissen, dass die Blätter sich im Wind bewegen, statt es auch zu sehen.

Du meinst, du hast schon längst die Praxis gehabt, aber diese Praxis durch die später hinzukommende Theorie erst verstanden?
Ja, da fügte sich was zusammen. Also nicht im Sinne einer Ausbildung, sondern ich dachte, das ist ein ähnliches Konzept, teilweise kompliziert, teilweise aber eben auch ganz einfach. Nach dieser Erfahrung Ende der 70er bin ich dann erst mal quasi rückwärts gegangen, zurück zu meinen ersten Filmerfahrungen, da war das ganz ähnlich! Da musste ich ja auch nirgendwo speziell hingehen, suchen, weil: alles schon da war. Es gab diese Sonntagsfilme für Kinder, da gab es immer einen Film mit irgendwelchen Gangstern und Polizisten, die auf ihren Pferden hin und her ritten, endlose Verfolgungsjagden. Das war in einem Kino in Köln, das hieß „Die Lupe“, da war ich jeden Sonntag, aber mit zwölf hörte ich damit auf. Danach folgte vier Jahre irgendwie eine Flaute mit Kino und dann kam ich wieder in dieses Kino, 1966, glaube ich. Und da lief Walter Kirchners Filmkunst, Godard und Truffaut.

Das war eine vollkommen natürliche Herangehensweise, sich das anzugucken und zu denken, „Ah, so ist das“, so machen die das jetzt. Weil, wenn du beispielsweise mit Kindern ins Kino gehst und zeigst denen einen komplizierten Film, zum Beispiel Eisensteins Potemkin und dann einen konventionellen Film, dann sagen die nicht „Mein Gott, ist das schwierig!“ oder „Das ist ja ein gewöhnlicher Film“. Sondern die würden vielleicht eher sagen: „Komisch, dass in dem einen Film viel weniger Bilder sind. Und in dem anderen Film gibt es mehr Bilder“. Als junger Mensch nimmt man das so hin, einfach so, in dieser Form Filme zu gucken, ohne zu wissen, warum man so guckt. Jedenfalls, diese Musikgeschichte brachte mich sozusagen erst mal wieder nach rückwärts, Filme machte ich ja schon „immer“, das war völlig normal.

„Täglich Brot“.
Genau. Das „täglich Brot“, dass es so einfach kompliziert war, ja.

Ich muss dir noch mal echt danken, peinlicherweise hatte mir Svens Name vorher überhaupt nichts gesagt. Erst durch unsere Begegnungen in Köln hast du mich auf den gebracht. Ok, du hast nach seinem Gig im SO36 später auch Filme mit ihm gemacht, das war aber erst in den 80ern?
Ja.

Der ist ja echt eine totale Legende… naja, wie ich erst seit kurzem weiß! (lacht)
Ja, aber das Interessante ist eben: es ergab sich einfach aus dem Leben, das man lebte. Im SO36 war ich ja zufällig. Etwa zur gleichen Zeit war ich auch im Quartier Latin in Berlin und da schwitzten sich die Jazz-Leute durch ihre Sets, in ihren Cordanzügen, den dicken Cordhosen, die schwitzten und schwitzten bei ihrer Arbeit und Bier wurde getrunken und Jazz gespielt. Es wurde auch geraucht, es war so eine etwas trübe, bierdunstige Atmosphäre. Und dann kam Johansson mit Alexander von Schlippenbach im Duo, der spielte Klavier. Johansson hatte sein Schlagzeug dabei. Und dann war da auf einmal der Laden ganz mucksmäuschenstill, weil die auch eher wenig Krach machten.

Die konnten ganz laut werden, das gab es auch, aber machten jetzt nicht immer so ein Getöse. Und das fand ich wunderbar, dann dachte ich mir, dass ich mit Johansson auch mal einen Film machen muss. Und es hat dann zwei oder drei Jahre gedauert, bis ich selbst soweit war, den richtigen Film mit ihm zu machen, schlug ihm das vor und es funktionierte gut. Das beschreibt auch, wie die Dinge, Musik und Darsteller zusammenkommen. Ich habe mir nie vorher überlegt „So, ich habe eine Idee, und dann mache ich jetzt mal das und das und dann nehme ich den und den oder frage den und den“, sondern es ergab sich organisch, ich habe jemanden getroffen, daraus hat sich dann etwas entwickelt.

„Es hat sich dann entwickelt“, diese Nummer als künstlerisches Prinzip von dir sozusagen?
Genau, es hat sich immer entwickelt, dahingehend konkret damals, dass mich eine Freundin mit Johansson zusammengebracht hat. Wir haben uns ganz gut verstanden. Ein paar Monate später haben wir dann den „Rot und Blau“-Film gemacht, da hatte er diesen Auftritt in der Brache des ehemaligen Botschaftsgeländes am Potsdamer Platz bei 18 Grad minus. Er hat getrommelt und die Kamera machte eine lange Fahrt auf einer 40 Meter Schiene. Er reagierte auf die Geschwindigkeit der Kamera und die Kamera reagierte auf ihn, die wurde langsamer, wenn er langsamer wurde. Das war eine Sequenz von dreieinhalb oder fast vier Minuten an einem Stück, die wir dreimal wiederholt haben, dann saß es. So haben wir dann zum ersten Mal richtig zusammengearbeitet.

Du hast ja eben auch schon Godard erwähnt. Er gehört zur „Nouvelle Vague“ in den 60ern. Das „New-Hollywood“-Kino, d.h. die damals neuen jungen Leute wie Martin Scorsese, entstand in den 70ern, die hast du ja im Prinzip dann „live“ miterlebt. Für die Nouvelle Vague in den 60ern warst du zu jung, aber doch schon irgendwie mit diesen französischen Filmern mehr „in Liebe“? (lacht)
Ja, da war ich für den direkten Gebrauch von Hollywood nicht mehr einsatzfähig. (lacht)

Genau, du warst schon „besetzt“. Waren die Franzosen damals einfach sexier als die Amis für dich, so wegen „Europäische Intelligenz in Paris“? (lacht)
Die Art ihrer Filme war schon interessant, aber auch jetzt nicht so „intellektuell“. Den ersten Film beispielsweise, den ich von Truffaut sah, das war ein Kurzfilm, der hatte mit Kindern etwas gemacht, die eben ein Liebespaar beobachten. Und die Kinder schnupperten dann, wenn die Frau das Rad wegstellte, immer an dem Damensattel rum. Das fand ich gut, weil das so frech war, aber auch naheliegend! (lacht) Und dann habe ich was von Godard gesehen, das war ähnlich, aber ein bisschen verschränkter, wie auch immer. Beides ergänzte sich, war prima, es tat nicht weh, d.h. ich musste mich nicht anstrengen, um es zu verstehen. Und dann fing ich an, zu überlegen: warum machen die das so, wie sie es machen, warum benutzen sie diese Umwege oder eben auch nicht, ginge das nicht einfacher?

Du hast Godard dann in den 80ern auch mal persönlich kennengelernt und natürlich auch seinen Kameramann Raoul Coutard, mit dem du zwei Filme gemacht hast. Wie ist das denn so, seine „Idole“ zu treffen? (lacht)
Das sind ja irgendwie meine „Väter“… – fast so eine Art Familiengeschichte. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten und da gehören die beiden natürlich dazu. Vielleicht sind sie eher so was wie meine Onkels, die sind ja dann nicht immer so streng (lacht). Also, die stammen eher aus der Generation meines Vaters, doch da hast du dann auch noch ein paar ältere Filmemacher wie Fritz Lang – Godards Onkel, wenn man so will – und diese älteren waren weiter weg, während die Franzosen, die waren nahe. Die fand ich nicht nur gut, sondern ich fühlte mich sozusagen dazugehörig. Eben wie in einem Familienzusammenhang. Und andere Filmer gehörten auch noch dazu, Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Aber die dann zu treffen, dazu hatte ich eigentlich nie wirklich Lust, vielleicht weil das zu anstrengend gewesen wäre. Es gibt da diese Geschichte von John Waters, der einen Film in Paris zeigte: Also, vorher oder nachher, gingen sie in das Café Deux Magots, er und Godard und noch einige andere Leute.

Ach natürlich, der alte Sartre-Existenzialisten-Treffpunkt!
Ja und dann hat er ein Eis gegessen, Godard hat einen Kaffee getrunken und auch ein Eis gegessen, die saßen anderthalb Stunden nebeneinander und das Einzige, was John Waters dann rausgebracht hat oder fragen konnte, war „Schmeckt Ihnen das Erdbeereis auch so gut wie das Vanilleeis?“. Mehr ist ihm nicht eingefallen und mehr wäre mir dann auch nicht eingefallen, deswegen war so ein Treffen mit diesen Leuten nie nötig. Als ich Godard mal angesprochen habe auf der Berlinale, da war es so, dass ich für meinen Film einen Ausschnitt aus Godards Film „Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca-Cola“ nehmen wollte. Und nach der Pressekonferenz fragten wir ihn, ob wir ihn kurz ansprechen dürften und holten ziemlich langatmig aus… Und der hat dann nur gesagt, „Ja, nehmt, was ihr braucht, mir gehört es sowieso nicht mehr, nehmt es einfach“ – und das war es dann auch schon.

Großartig, das war dann eine „gutartige“ Begegnung, das kann ja auch total schiefgehen! (lacht)
Ja, das war insofern gut, weil man auf der Berlinale eben auch sah, wie bescheuert so was werden kann: Godard hatte in dieser Pressekonferenz gesagt „Ich bin in einem Kino zur Welt gekommen, im Dunkel des Kinos“. Er hat so ein bisschen wolkig seine Kinovergangenheit in diese Pressekonferenz gebracht, gut. Und dann trat Helma Sanders nach vorne, eine deutsche Regisseurin und sagte: „Eigentlich habe ich keine Frage, aber es ist wichtig, zu sagen, dass Sie mich auch stumm machen: auch ich bin in einem dunklen Kino geboren, in dem ein Godardfilm lief“. Das war die Peinlichkeit in Person, also schrecklicher kann es eigentlich nicht gehen. Das war einfach grässlich. (lacht)

Mit Raoul war es dann anders, denn das ist ein durchgängiges Prinzip, dass ich immer Sachen gemacht habe, die sich aus den Sachen ergaben, die ich vorher gemacht habe. Eins nach dem anderen. Und zu der Zeit, als ich Raoul kennenlernte, hatte ich gerade einen Film gedreht, der war total anstrengend, mit einem Mann, der vom Fernsehen bezahlt wurde, einem Kameramann. Der war dann so preußisch, der brüllte immer sofort, wenn ich mit ihm über eine Einstellung sprechen wollte: „Ich mach Dir das, ich weiß genau, was Du brauchst“. Und das konnte ich nicht ertragen, so gab es dann auch wirklich beinahe Mord und Totschlag am Ende des Films, „Rot und Blau“ hieß dieser Film, während des Drehs sprachen alle nur über „Grün und Blau“… Das war übrigens auch der Film, in dem Sven mitgespielt hat. Na ja, es gab dann folgerichtig keinen Kameramann im Abspann, weil der sich später distanziert hat. Daraufhin habe ich mir gedacht „Jetzt muss ich mal mit einem richtigen Kameramann sprechen“! Wenn die alle so komisch sind, dann will ich doch lieber mit jemanden arbeiten, den ich schon immer gut fand.

Und so habe ich daher mit Raoul Coutard, der die ganzen frühen Filme von Godard fotografiert hat, auch Truffauts „Jules und Jim“, Kontakt aufgenommen. Und ich glaube, dass er damals nach Berlin kam, das stand in der Zeitung, weil er da einen Film als Regisseur machte. So eine Actiongeschichte, die völlig in die Hose gegangen ist. Raoul trafen wir in Berlin. Da war damals auch die Regisseurin und Kamerafrau Ulrike Pfeiffer dabei, die du neulich im Kino in Köln bei der Premiere von „Ein Kilo Blau (Die Musik)“ kennengelernt hast. Und der inzwischen verstorbene Co-Autor Hans-Heinz Schwarz. Wir trafen Raoul also, wir waren alle um die 30 und Raoul 54, ein älterer Herr, für uns jedenfalls, der aber Lust hatte, diesen Film mit uns zu machen. Und so sahen wir ihn dann einige Wochen später wie verabredet bei den Dreharbeiten seines Actionfilms, wieder in Berlin, – ein Riesenstab, mit Wohnwagen und dem ganzen Großkino-Theater. Raoul war froh, wenn er abends nach Drehschluss mit uns Cinephileasten zusammenkam um Dinge zu sagen, die die deutsche Kameragilde bis heute zur Weißglut treibt. Der Film, der daraus entstand, heißt „Ein Bauer der Photographie“.

Krass, der hatte dann nicht so eine „Attitüde“, so hier „Ich bin der ganz wichtige französische Megafilmer“?
Nein. Jahre später, als er den Marburger Kamerapreis bekam, hielt ich eine kurze Laudatio im Ehrensaal des Marburger Rathauses. Darin gings vor allem darum, dass Raoul nämlich genau das nicht war, kein brachialer Obrist (Anm. Jan: Regimentschef). Von Godard wusste ich, warum er nach zehn Jahren Abstinenz wieder mit Raoul arbeiten wollte. Die Geschichte erzählte ich in diesem Ehrensaal: Godard wollte einen Film mit dem großen Storaro machen, dem Kameramann von Bertolucci, späterer Oscarpreisträger. Godard lud Storaro zu sich ein, an den Genfer See, um mit ihm das Lichtkonzept zu besprechen. Storaro hörte sich alles an und forderte: „Da brauche ich siebentausend Tonnen Licht, LKWs voll mit Licht, Lampen und das und das“. Godard sagte dann „Okay, danke, aber das will ich nicht“ – er hat ihm die Rückreise auch nicht mehr bezahlen wollen und stattdessen seinen alten Kameramann-Freund, seine Kurtisane, wie er sagte, also Raoul Coutard, gefragt. Weil, so Godard: Coutard ist kein Obrist der Kamera, er ist eher ein „Bauer der Photographie“. Was er damit gemeint hat, war jetzt nicht, dass das so ein „säen und ernten“-Typ ist, sondern ein unkomplizierter Mann, der ganz direkt die Dinge in die Hand nimmt und mit dem man einfach und gut reden kann.

Ich habe deine Filme ja kennengelernt durch deinen zweiten Film mit Raymond Pettibon. Lass uns ein paar Takte über Raymond sprechen. Du bist auf ihn ja nicht durch seine Kunst für SST Records gekommen, tja, wie hast du das geschafft, dass der dann später bei Filmen von dir mitmachte?
Ich habe Raymond Pettibon nicht über seine Arbeit als bildender Künstler kennengelernt. Natürlich kannte ich seine Zeichnungen, aber das Kennenlernen und unsere Zusammenarbeiten für meine Filme liefen anders. Ich drehte in Frankfurt Szenen des Films „Der Photograph“, – das war 2006, – ein Film, in dem viele Künstler mitwirkten, darunter auch die Frankfurter Musiker, Rüdiger Carl, Oliver Augst und Christoph Korn. Die nannten sich damals als Formation Blank und Blank trafen wir nun für diesen Film in Frankfurt. Mit Rüdiger Carl, der ein Kollege von Johansson ist, war ich bekannt, die beiden anderen habe ich bei der Gelegenheit erstmals getroffen. In der Folge kam ich mit Christoph Korn, der in Düsseldorf lebte, häufiger zusammen und irgendwann planten wir einen gemeinsamen Film: Christoph hatte mir in seiner Küche eine Aufnahme vorgespielt von einer Platte, die hieß „Blank Meets Pettibon“.

Zu dieser Platte wiederum kam es so: Raymond wurde der Wolfgang-Hahn-Preis des Kölner Museums Ludwig zugesprochen und der damalige Direktor des Museums, Kasper König, brachte Raymond mit Rüdiger Carl und den anderen Blank-Musikern zusammen. Daraus ergab sich anlässlich der Preisverleihung ein Konzert in der Kölner Philharmonie, Titel: Blank Meets Pettibon. Und jetzt stand ich in der Küche von Christoph Korn und hörte „Blank Meets Pettibon“ und noch eine weitere Platte: „Long Live the People of the Revolution“, Blank und Pettibons Bearbeitung von Ernst Tollers Chorwerk zum Andenken an Karl Liebknecht und den Texten von Bruno Schönlank.

Eigentlich ein altes Revolutionslied?
Ja, aber Raymond Pettibon hat das mit seiner sehr eigenen literarischen Strategie, einer Art Wort-Sinn-Verschiebetechnik, bearbeitet, Blank natürlich auch. Ich fand das gut und dachte: „Das dauert sechs Minuten, dann machen wir einen Kurzfilm, der genauso lange dauert wie das Stück“! Das war so schräg und zugleich sehr ernst, Raymond sang „All together now“, doch niemand antwortete, schräg. Das war gut, weil das die richtige Haltung war, das kreiste es ein, machte es unernst und dadurch wurde es ernster, als es vorher war. Dann habe ich für den Kurzfilm die Finanzierung nicht zusammen gekriegt. Ich dachte mir dann, dann muss der Film vielleicht länger sein, vielleicht ist die Idee zu kurz. Am Ende wurde daraus mein Film „Long live the People of the Revolution“, der 116 Minuten dauert. Für den konnte ich die Finanzierung auch zusammen bekommen, da spielte Raymond mit und tritt mit Rüdiger Carl auf, hier in Frankfurt.

Das ging alles einfach, Pettibon und ich kannten uns zwar nicht, er war in L.A. und ich in Köln, aber wir haben uns dann geschrieben, so „Wir würden gerne noch mal dieses Stück neu in Frankfurt aufnehmen mit dir“, also ob er dazu mal rüberkommen könnte. Das war im September, Raymond antwortete, dass es momentan bei ihm nicht ginge, aber einige Zeit später im Januar könnte er kommen. Wir mussten also noch ein bisschen warten und dann wurde es Januar, es hieß dann von ihm „An dem und dem Freitag kann ich kommen“. Also habe ich dann ein Flugticket bestellt auf Raymond Pettibon. Gott sei Dank habe ich noch mal nachgefragt, wieso, weiß ich nicht, aber sein echter Nachname ist ja Ginn. Das konnten wir dann noch umbuchen.

Sehr gut! (lacht)
Und dann haben wir ihm gesagt, „Okay, Du kannst jetzt in diesen Flieger einsteigen“, der Mann ist ja sehr groß, aber wir konnten nur diese normale Holzklasse bezahlen. Und Raymond kam dann aus Los Angeles angeflogen, Holzklasse, mit guter Laune. Er kam ganz alleine rüber, das war in 2008.

Ok, er hatte da schon längst seine weltberühmte Reputation in der Kunstwelt!
Ja natürlich. Raymond war bei der Documenta 2002, er hatte den Hahn-Preis, einen der renommiertesten Kunstpreise, bekommen und war in allen möglichen Museen präsent, aber es war ja so, dass die Gruppe Blank mit ihm auch eine Zeit lang in Europa aufgetreten ist, dafür kam er auch immer rüber nach Europa. Für ihn war das eine Fortsetzung, da sollte halt nur ein Film gemacht werden. Und wenn die Musiker, die er damals da kannte, wenn die okay waren, dann wird der Filmer, die den auch kennen und der die auch kennt, dann wird der wohl auch schon okay sein. Und dann muss man nicht mehr tausend Fragen stellen. Weil man an der gemeinsamen Arbeit interessiert ist, die will man machen und es hat nichts mit dem „Berühmtheits-Ding“ zu tun.

Cool, das war mir vorher nicht bewusst, wie das alles sich fügte, echt spannend!
Wir holten ihn am Flughafen ab und fuhren ins Frankfurter Hotel Nizza. Erst am nächsten Tag wollten wir ins Studio gehen, hatten also Zeit, uns ein wenig kennen zu lernen. Mein Problem war dann nicht die Berühmtheit, sondern mein Englisch.

Seines ja auch, wenn man mal ehrlich ist, dieser scheiß Kalifornien-Slang! (lacht)
Naja, Raymond redete jedenfalls sofort mehr, als ich erwartet habe. So bekam ich schnell den „Buddha“-Spitznamen weg, weil ich immer nur da saß und nichts sagte – nicht nur, aber oft. Wir haben dann im Hotel ein bisschen gedreht, sofort am ersten Tag, weil er keine Lust hatte, allein im Hotelzimmer herumzusitzen. Eine sehr lange Szene, die in „Long Live…“ allerdings gar nicht auftauchte, die ich aber jetzt in den neuen Film, „Ein Kilo Blau (Die Musik)“ genommen habe. Die ruhte in meinem Archiv, eine schöne Sequenz, ein Moment, der wie geschaffen ist für diesen Film, 12 Jahre später. Das ist auch ein interessantes Phänomen, es gibt nicht viele Outtakes, die ich dann etwa wegschmeiße.

In anderen, neuen Zusammenhängen können sie einem helfen. Bei einer TV-Produktion, wir drehten 1:10, schlug ich vor, aus den Resten ein oder zwei weitere Filme zu machen. Das wollten sie nicht. Als wäre es eine Art Betrug, wenn das Material nicht nur für die eine Idee, den einen Gedanken, genommen wird. Schnitt oder Montage heißt nicht, die Dinge hintereinander zu setzen, sondern zueinander in Beziehung zu setzen. Okay, zurück zur Zusammenarbeit. Der Punkt ist hier vor allem auch, wie alle Beteiligten mit so einer Situation umgehen, ob es da jetzt Probleme gibt, weil der eine berühmt ist und die anderen sind weniger berühmt oder sind berühmter in einem anderen Zusammenhang. Christiano Ronaldo ist auch ziemlich berühmt, aber… Das Entscheidende ist, dass es in dem Moment dann wirklich nur um die Arbeit geht. Und dass man das ernst nimmt, warum man jetzt mit wem was machen will, etwas spielen will.

Also ein Spielfilm ist eigentlich im Wortsinn auch tatsächlich ein Spielfilm, es wird gespielt zusammen, es muss auch hinhauen, Spaß machen, aber dafür muss man arbeiten, dass es gut wird. Dafür hat man eine Verantwortung, um die geht es. Ernst wie ein Kinderspiel. Jemand sagte über den zweiten Film mit Pettibon, Lincoln Boulevard, der sei so, wie wenn man Erwachsenen Leuten beim Spielen zusieht… Ja. Es war mit Raoul so und mit Raymond eben auch – und das verlange ich von den Leuten auch. Das ist ja nichts, was sie mir schenken, verantwortlich für sich selbst zu sein, sondern das ist das, was alle mitbringen müssen, was ich selbst auch mitbringe. Und wenn die anderen das nicht dabei hätten, dann könnten wir einpacken und aufhören, weil dann kann man nichts machen. Wenn so eine Konstellation und Einstellung aber da sind, dann klappt es auch.

So ganz plump gefragt als Ray-Fan, du weißt ja, dass ich ihn verehre: ist das dann einfach, mit so einem Superprofi zu arbeiten? Weil „der braucht keine Probe“ oder ist das auch schwer, weil manchmal ist hinter solchen Leuten jemand, der es „abnehmen will“, wacht da ein Management oder eine Galerie drüber?
Nein, da war keiner dabei, das hätten wir auch gar nicht zugelassen. Also, ich hätte es nicht zugelassen, dass da jetzt der Galerist umherspringt. Es waren nur die Beteiligten am Set und die sind dann eben für ihren Beitrag verantwortlich. Und die müssen das mit dem Ernst machen, mit dem wir uns ja selber auch ernst nehmen oder nicht ernst nehmen, damit es hinhaut. Mit und ohne Proben.

Du musstest auch kein Filmmaterial irgendwie an den Galeristen schicken, so Motto „Ist das okay so“, einfach scheiß drauf?
Nein!

Ich kenne es halt ganz peripher von meinen Interviews mit so „prominenten Punkmusikern“, die sind super nett, aber eben schon in so einem Apparat eingebunden, der auf die Außendarstellung achtet.
Ja, aber jetzt war es ja so, dass die Leute, die an dem Film beteiligt waren, Rüdiger Carl, Oliver Augst und Christoph Korn, ich, das sind ja jetzt auch nicht völlig Unbekannte.

Natürlich, ihr wart jetzt nicht naiv-jugendliche Fans, „Oh wie toll, Ray“!!! (lacht) Ihr seid ja auch Profis.
Genau. das sind Künstler, die jetzt ihre Arbeit machen wollen, man ist dann einfach in dieser Arbeitssituation. Also, ich bin in meiner Arbeit und Raymond, wenn er sich dafür entscheidet, diesen Film mitzumachen, dann ja auch. Und in dem Fall war das für ihn überschaubar, weil wir nur nochmal dieses Stück im Studio mit Rüdiger und ihm aufnehmen wollten, das er Jahre vorher schon mal gesungen hat. Und vielleicht noch ein bisschen mehr, aber nach zwei Tagen sollte er ja wieder zurückfliegen. Es war klar, es ging ja jetzt nicht darum, dass er Gott weiß welche Rollen übernehmen soll, das kam erst noch. Zwei Monate späte traf ich Udo Kier in Köln und wir sprachen über seine Filme in den USA, dann erzählten wir ihm, dass wir gerade diese Geschichte mit Raymond und Rüdiger Carl in Frankfurt gedreht haben. Er sagte: „Ja das hätte ich auch gerne gemacht.“

Ich dachte: „Ja gut, dann kommen wir vielleicht nach Los Angeles und bringen ihn mit Raymond zusammen“. Ich konnte mir gut vorstellen, dass das funktionieren würde, zwischen den beiden. Daraufhin habe ich Raymond wieder angeschrieben, telefonieren mit Ray ging in der Zeit nicht, er sprach immer sehr langsam, also ein Wort alle zwei Minuten, das dauerte ewig. So haben wir eben geschrieben und er antwortete sehr schnell „Ja klar, kommt nach L.A., kommt sofort“. Das war ein schöner Moment, wieder sehr einfach, und wir waren dann im Mai eine Woche in L.A. und haben die restlichen Szenen mit ihm und Udo gedreht.

Sag mal, du kennst natürlich auch die ganzen 80er Köln-New-York-Verbindungen. So Köln damals als „die Kunststadt der Welt der 80er“ neben New York und zwischen beiden Städten gab es dann ja Verbindungen. Es waren ja New-Yorker-Galerien, die L.A.-Punk-Künstlern wie Mike Kelley und Raymond Pettibon ihre ersten Schritte in der Kunstwelt durch Ausstellungen ermöglichten, da gab es 2014 auch das Buch aus der David-Zwirner-Galerie dazu (die Ray ja auch vertritt). Ganz kurze bescheuerte Frage: Barbara Kruger kommt aus diesem „New-York-80er-Ding“, sie arbeitetet auch für mich voll genial mit Texten und Bildern, mir kommt es immer ein bisschen so vor, dass sie eine weibliche Form von Ray ist, „Petit bonne“, weil eben auch „gesellschaftskritisch“, na ja keine Ahnung, du bist der Experte!? (lacht)
Ich bin kein Kunsthistoriker, aber soweit ich das erkenne: nein, sie ist Konzeptkünstlerin und arbeitet zwar auch mit Bildern und Texten, aber sie nimmt ja eine andere Form von Text, eben diese prägnanten Slogans. Und bei Raymond ist das völlig anders, der schreibt selber oder setzt Fremdmaterial neu zusammen. Also, da ist diese poetische Arbeit völlig unterschiedlich, gut, du hast Bild und Text bei ihr, ja, das taucht auf, aber ich würde es nicht so miteinander vergleichen.

Okay, danke dir! Deine Frau Cony Theis war beispielsweise auch in den Szenen mit Raymond in Frankfurt oder New York zu sehen. Ist das eigentlich schön, wenn man zusammen mit seiner Partnerin an künstlerischen Sachen schraubt oder ist das manchmal auch nervig, weil es beschäftigt beide den ganzen Tag, wie schaltet ihr dann zusammen abends ab? Tüte Chips und seichte TV-Unterhaltung oder redet man doch dann ständig über die gemeinsame Arbeit, ich stelle mir das echt schwer vor.
Nee! Chips erst nach der Tagesschau! (lacht)

Ich kenne es von gemeinsamen Artikeln und Interviews mit meiner Freundin fürs Trust, das ist super, aber auch teilweise schwer. (lacht)
Ja klar, weil Liebe und Arbeit und Arbeit und Liebe hängen zusammen. Also, man kann auch diese Arbeit nicht ohne Liebe und Liebe nicht ohne Arbeit machen. Es ist ja jetzt auch nicht so, dass wir den ganzen Tag in einem Atelier zusammen hocken und was ausbaldowern, sondern jeder hat seine Sachen zu regeln und zu arbeiten. Und da gibt es häufiger Überschneidungen und an denen arbeiten wir dann, also, das funktioniert gut.

Super! Es ist ja vielleicht auch interessant, wer bislang nicht auftauchte in deinen Filmen, ich denke da so an Figuren wie John Zorn, Frank Zappa, Sonic Youth und auch natürlich jetzt wegen Köln Gerhard Richter! (lacht) Sagen wir, es gibt so diesen roten Knopf, wenn du draufdrückst, passiert genau das, was du dir vorstellst: hast du so Wunschkandidat*innen, egal ob tot oder lebendig, mit denen du gerne mal einen Film machen wollen würdest? (lacht)
Nein, eigentlich so in der Form nicht.

Zappa wäre es doch echt gewesen oder? (lacht)
Das ist schwer, also, wir haben ja schon ein bisschen über diese „rote Knopf“-Frage gesprochen. Deswegen habe ich vorhin, als ich im Zug nach Frankfurt saß, nochmal drüber nachgedacht. Da komme ich dann wieder an den Anfang, die Leute, die in meinen Filmen mitwirken: das ergibt sich immer aus dem Kontext. Und den Kontext, den baue ich und die, die da mitwirken, also, wenn das, was die mitbringen, brauchbar ist, dann können das auch solche Personen sein, die du genannt hast… aber, Frank Zappa, das würde jetzt eher schwierig…(lacht).

Du hast jetzt nicht so ein Word-Dokument mit ner Liste von Leuten für deine Filme?
Nein, vorhin musste ich im Zug laut lachen, weil mir zum ersten Mal klar wurde, wie schön das eigentlich wäre, sich einfach hin zu setzen und zu sagen „Ich wünsche mir jetzt, dass XY mitspielt“. Zappa müsste es jetzt nicht unbedingt sein.

Oder John Cage?
Ja, wenn jetzt John Cage auftauchen würde, wie schön, wenn es denn ginge, aber trotzdem: ich wüsste nicht wirklich, was ich dann mit dem anfangen soll. Denn so rum funktioniert es halt nicht. Ich hab‘ mal einen Film gemacht, „Der Photograph“. Der Fotograf heißt Benjamin Katz und das ist so jemand, der die ganzen Kunsthelden der 70er und 80er Jahre begleitet hat als Freund und Fotograf. Das war jetzt auch nicht ein ganz neues Konzept, diese Künstlerfotografie, aber er hat das sehr gut gemacht. Benjamin habe ich kennengelernt, als ich in der „Kunstbuchhandlung Walther König“ einen Film gemacht habe, da war er auch dabei. Er taucht also in diesem Film auf, „Name gleich Adresse“ heißt der Film. Anschließend trafen wir uns häufiger, und ich dachte mir, „Das ist doch interessant, wie der Mann arbeitet, sehr elegant“. Zu der Zeit wollte ich einen Film machen mit einem Schriftsteller, einem Fotografen und einem Kameramann.

Also, um mal zu gucken, wie das so geht, eine etwas blöde Idee, aus dem Film ist jedoch auch nichts geworden, aber Benjamin, der auch in Köln lebte, und ich hatten dann weiterhin Kontakt. Wir freundeten uns an und dann funktionierte das mit diesem Film, der ein sehr schöner Film geworden ist. Ein sehr langer Film auch, weil viele Leute auftauchten, also alle möglichen Figuren wie zum Beispiel Georg Baselitz, Rosemarie Trockel, auch Blank, also Rüdiger Carl und die beiden anderen, richtige Kunsthelden. Aber die sind nun alle deswegen da, weil Benjamin mit ihnen arbeitete oder befreundet ist und weil es interessant war, zu sehen, wie sich das filmisch miteinander verschränken würde, seine Fotografie, also seine fotografischen Strategien und die jeweilige Situation. Denn ich, als Filmer, war ja als dritte Ebene dabei, das machte die Situationen unvorhersehbar, spannend.

Ich habe den Film nicht gemacht, weil ich dachte „Wenn ich mit Benjamin drehe, dann drehe ich automatisch mit Baselitz“, das hätte mich nicht interessiert. Aber umgedreht, wenn Benjamin sagt: „Ach, dann drehen mit mal dem und dem“ und das waren Leute, die ich auch gut fand, dann war das völlig in Ordnung! Egal, wer da käme, er käme ja gewissermaßen aus der Arbeit. Wenn ich jetzt träume und mich frage „Mit wem würde ich auf Knopfdruck gerne einen Film machen wollen?“ Ein Eis essen gehen ja, aber einen Film machen? Nur Eis essen gehen wäre möglicherweise aber auch gefährlich, man sieht ja, wohin das bei John Waters führte … (lacht)

Ist auch eine völlig blöde Frage, die nach dieser Liste. (lacht)
Nein, geht schon, aber ich musste lachen, weil mir halt keiner eingefallen ist! Ich dachte ein wenig nach, verdammt, ach Gott, also, meinetwegen: der Maler Albert Oehlen, den finde ich okay, Johansson hatte mit ihm auch was gemacht und Oehlen ist meine Generation, ein paar Jahre jünger, ein guter Künstler und irgendwie sieht er gut aus. (lacht). Aber es wäre das gleiche dämliche Konzept wie das, nach dem diese Kollegin ihren Film über Gerhard Richter und dann direkt danach den Film über Peter Handke gemacht hat. Zwei Filme über, nicht von…Solche Filme macht man auch aus Faulheit, wenn man keine Fragen hat, dann lässt man die Leute reden, sollen die doch die Arbeit machen… Also das wäre daher jetzt völlig absurd zu sagen „Ich würde gerne mit Oehlen einen Film machen“. Obwohl der vielleicht ganz gut werden könnte…(lacht).

Du magst ja auch Scorsese und „Good Fellas“. Ray Liotta ist ja gestorben, wenn du so jetzt so einen Film gut findest, denkt man da vielleicht „Och, ich könnte viel bessere Szenen mit solchen Leuten entwickeln“? Aber ok, so läuft es offensichtlich nicht bei dir! (lacht)
Nein, gar nicht. Ich könnte mir jetzt zwar vorstellen: schön wäre der junge Robert de Niro, wenn der da in „Mean Streets“ auf dem Billardtisch steht und dann um sich schlägt. Oder wie er vorher diesen Briefkasten in die Luft jagt und dabei seinen Hut festhält und so, das wäre schön. (lacht) Mit anderen Worten: Mir könnte nur einfallen, was die schon einmal gemacht haben. Das erste Mal zum zweiten Mal diesen Briefkasten in die Luft jagen. Wäre prima, aber nicht notwendig.

Du hast tierisch viele Filme in den letzten 45 Jahren gedreht, wenn du zurückschaust, bist du mit allen Filmen zufrieden? Und planst du eine Gesamtausgabe, eine Werkschau als Boxset im edlen Schuber?
Gut, die erste Frage finde ich am einfachsten zu beantworten, denn die Filme gibt es ja alle noch und da existieren ein paar fürchterliche Filme von mir, nicht zu viele, zwei drei, die sind überflüssig. Die sind aber auch insofern interessant für mich, weil dann weiß ich eben, dass das Quatsch war.

Sind aber nicht zufällig deine ersten Filme?
Nein, überhaupt nicht, den ersten Film, den ich gemacht habe, den finde ich nach wie vor ganz schön. Weil der auch schon im Kern alles hat, was es so braucht. Das ist ein Film gewesen, ein Dokumentarfilm mit einem Mann, der in einem Tal in der Steiermark in Österreich eine Weltmaschine gebaut hat.

Eine Weltmaschine?
Eine Weltmaschine, die hat er so zusammengesucht aus tausend Einzelteilen über zwanzig Jahre und seine Familie wusste nicht, was er da immer in der Scheune macht, es war ganz abgelegen und er träumte von einem großen „Perpetuum mobile“. Er wusste nicht, dass es 30 Jahre vorher schon mal, in Frankreich, jemanden gegeben hat, der hieß Cheval, „der Briefträger Cheval“, der auf seinen Botengängen kleine und große Steine gesammelt hatte und daraus einen riesigen Palast gebaut hat in seinem Garten. Und zum Schluss hat er eine Gießkanne da reingestellt und das ist eine derart kühne, obsessive Angelegenheit gewesen, die den Surrealisten zum Beispiel dann auch sehr naheging, die sind da immer hingefahren.

Ja, und dann habe ich diesen Film gemacht, den mag ich nach wie vor heute noch, mit diesem alten Kerl, Franz Gsellmann, zu dem eines Tages der Pfarrer kam und ihn fragte, nachdem der da immer im Geheimen lange Jahre gearbeitet hat, in seiner Scheune, – niemand durfte da rein, auch seine Frau nicht – : „Ja darf ich denn mal gucken?“. Gsellmann: „Nein ich bin noch nicht so weit. Da müssen wir vielleicht noch vier oder fünf oder sechs oder sieben, acht Jahre warten, bis es mal soweit sein kann.“ Und dann hat er das wirklich nach zwölf Jahren erst gezeigt, was er da in dieser Scheune machte, „Gsellmanns Augenfutter“, so heißt der Film, ist völlig stimmig.

Ich finde interessant, wie das eigentlich ist: sind die Filme gut, schlecht oder sind sie erfolgreich, wie auch immer, das ist nicht der Punkt. Wenn sie in sich schlüssig und stimmig sind, dann ist es egal, weil dann sind sie ja erstens gut. Und die Filme müssen nicht berühmt sein, die müssen nicht erfolgreich sein, die müssen nur stimmig sein. Dieses Verfahren, dass sich die Dinge aus sich selbst erneuernd fortsetzen, das führte dann dazu, dass man nicht dauernd total danebenliegt. Oder, was dann aber auch wieder interessant ist, dann kommt man auf so ein Weltmaschinen-Konzept, auf diese Maschine, die keiner gebrauchen kann. Diese Frage hat Gsellmann selbst sehr beschäftigt. Und die ist so gut, da kann man nicht einfach sagen „weg damit“. (lacht)

Das ist echt voll der coole Ansatz, weil ich mache es ganz anders, bei meinen Texten und Interviews habe ich oft Pläne, zwar die klappen dann auch manchmal nicht, aber ich habe immer diese Liste mit potentiellen Interview-Partner*innen. Ich habe offensichtlich noch nicht so die Contenance zu sagen, „Komm Junge, die Dinge entwickeln sich aus sich selbst“, halt so, wie dein künstlerisches Konzept ist! (lacht)
Ja, auch die Fehler sind ja dann interessant. Wenn man jetzt die Fehler immer rausnimmt, das ist ja blöd, mit denen muss man arbeiten und sie drinnen lassen, einfach klar mit ihnen umgehen.

Lass uns kurz über die Zukunft sprechen, in deiner Pipeline ist auch eine Art Pasolini-Dokumentarfilm in Rom, zumindest hast du da irgendwas in Italien vor! (lacht)
Ja, ich hab da mal was erwähnt. (lacht) Ich machte dort vor Jahren Teile eines Films, eines Spielfilms – mit diesem Unterschied, dem zwischen Dokumentar- und Spielfilmen tue ich mich immer sehr schwer – Es gibt nur einen Unterschied zwischen Dokumentar- und Spielfilmen, nämlich den, keinen Unterschied mehr zu machen… Der kommende Film ergibt sich eben wieder aus diesem Film, den ich vor 20 Jahren gemacht habe, „Die Stelle im Wald“.

War das dann auch deswegen, weil du dann damals auch Aufenthalte in Italien hattest?
Stipendien waren das, ja, die zu einigen Filmen führten, die zuletzt auch in „Ein Kilo Blau“ eine Rolle spielen, dem Film, den du neulich in Köln gesehen hast: ein Teil wurde in der Nähe von Rom gedreht. Das hatte mit meinem langen Aufenthalt in Italien zu tun. Also daraus und aus einer persönlichen Filmgeschichte entstand es. Ich habe eine Trilogie gemacht: „Interessierte Räume“. Der erste Film wurde in der wunderbaren Buchhandlung Walther König auf der Ehrenstraße in Köln gemacht, ein Film, der ausschließlich in dieser Buchhandlung stattfand. Der zweite Teil entstand im Bahnhof Rolandseck, 1997, das ist auch ein Kunstort, darin das Arp-Museum.

Den Neubau von Richard Meier gab es damals noch nicht. Der dritte Teil war dann als „interessierter Raum“ direkt ein ganzes Land, Italien. Das hat auch viel mit meiner eigenen Filmografie zu tun, mit meinen Vorlieben. So ergibt sich das, warum jetzt zum Schluss Pasolini dabei rauskommt. Den hätte ich übrigens genauso gut ganz am Anfang des Gespräches als „Onkel“ noch mit aufnehmen können, er ist ein bisschen älter und war dann auch schon eher ein Onkel von Truffaut und Godard. Seine Filme finde ich großartig. Vielleicht nicht alle, man muss auch nicht alles mögen. Ein Filmer kann in 30 oder 40 Jahren ein, zwei gute Filme machen. Das ist doch schon was. Man macht vielleicht viele Filme, einige sehr schöne Bilder, aber was heißt das schon… ein schönes Bild ist wie ein netter Mensch…

„Die 120 Tage von Köln“, darauf freue ich mich schon! (lacht)
Ja, es gibt einen Film von Godard, „Die Verachtung“, der spielte zum größten Teil auf Capri in einer Villa von Curzio Malaparte, der „Villa Malaparte“ und dieses Haus auf den Felsen überm Meer bei Capri ist ein ewiger Topos der Filmgeschichte. Das kriegt man nicht mehr aus dem Kopf, so ein atemberaubend schöner Ort. Na ja… In dem Film „Die Stelle im Wald“, den ich damals machte, taucht eine Figur auf, „Der Forscher“, der sich in Italien an solchen Orten herumtreibt, – für ein Buch, das den Verleger ruiniert – unter anderem kommt er auch nach Sabaudia. Das ist eine Stadt, die Mussolini im Sumpf komplett neu bauen ließ, eine sehr modernistische Architektur, eine Stadt wie aus einem Guss. Und in diesem Sabaudia wohnte in den 70er Jahren Pier Paolo Pasolini zusammen mit dem Dichter Alberto Moravia, der wiederum den Roman geschrieben hatte, der die Vorlage für „Die Verachtung“ war.

Also, Pasolini und Moravia hatten in Sabaudia ein Haus am Meer, wohl deshalb gibt es auch einen Film mit Pasolini, einen kleinen Fernsehfilm, der heißt „La forma della città – Die Form der Stadt“, der von der Verrottung Italiens durch den Konsumkapitalismus und damit verbunden von den Architekturen zweier Städte handelt: von Sabaudia, dieser Stadt, die sich dem Faschismus verdankte und von der alten Stadt Orte in Latium und ihrer historisch gewachsenen Architektur. Von diesen Dingen u.a. handelt mein Film „Die Stelle im Wald“, in dem übrigens auch Sven-Åke Johansson die Texte spricht, – er spricht sie nicht, eher singt er sie. Und Teile dieses alten Materials will ich für den neuen Film verwenden.

Der Ausgangspunkt ist die Villa Malaparte; wohin das jetzt führt, weiß ich noch nicht genau, aber das ist dann dieser von dir erwähnte „Pasolini-Streifen in der Pipeline“. Vieles ist also schon gedreht, zu finden im Material der vorhergehenden Filme. Das ist der Vorteil, wenn man immer mehr dreht, als man braucht. Obwohl ich immer denke, dass ich nur so viel drehe, wie nötig. Doch Notwendigkeiten ändern sich. Wie schön.

Outtakes.
Ja, manchmal kann man sie gar nicht gebrauchen, aber zehn Jahre später vielleicht doch! Vielleicht ein kleiner Exkurs zu dem Film „Ein Kilo Blau (Die Musik)“ und nochmal zu dieser künstlerischen Methode, dazu gibt es ja auch versteckte Hinweise im Film. Da gab es eine Situation mit Raymond Pettibon, in der las er einen Text über Hollywood-Regisseure vor. Und dann sah man eine Szene mit Cony Theis und Raymond in dem Frankfurter Hotelzimmer. Raymond erzählte diese ganzen Hollywood-Geschichten, die auch oft in seinen Zeichnungen auftauchen, Regisseure mit Augenklappe und Tennisschläger, John Ford, was weiß ich, ein riesiger Mäander. Cony hielt auch tapfer durch, es dauert alles endlos lange, denn Raymond sprach sehr, sehr gedehnt zu der Zeit.

Die Szene war trotzdem okay, aber genommen haben wir das damals am Ende nicht. Als ich es mir noch mal anschaute, bevor ich 2012 mit Raymond den nächsten Film, „10 PM Lincoln Boulevard“ machte, dachte ich „Das ist doch ganz gut. Alles, was Raymond da in Zeitlupe gesprochen hatte, das lasse ich jetzt mal abtippen, dann nehme ich das mit nach Los Angeles“. Als er das dann also 2012 in L.A. kriegte, da merkte ich dann auch, dass so eine verschränkte Arbeit, filmübergreifend, nicht nur immer einfach ist. Denn er war zuerst fürchterlich sauer und sagte: „Das ist ja ein völliger Blödsinn“. Ich meinte dann „Das ist das, was du mit Cony in diesem Hotelzimmer vor 3 Jahren erzählt hast.“, Raymond: „Ja gut, aber das ist ja jetzt was anderes, der Text gehört zu der damaligen Situation.“

Es ging also ein wenig hin und her, doch am Ende drehten wir es mit den alten Texten neu: Ray liest jetzt hintereinander in einem Fließtext, was er drei Jahre zuvor im Dialog gesprochen hat. Diese Szene kommt im neuen Film zuerst, und dann kommt die jeweilige Szene von vor drei Jahren, die aber in dem Film so montiert ist, als wäre sie nachher entstanden. Das wäre also eine Art „Making-Of“, nur umgekehrt, erst wird das Making-Of gedreht, dann der Film. Oder anders: Erst entsteht ein Film und erst am Ende dieser Schöpfung entsteht das Drehbuch. So ist es immer, alle guten Filme enden mit einem Drehbuch, alle schlechten Filme beginnen damit. (lacht)

Raymond war erst überhaupt nicht begeistert, weil er sich damit abquälte, das alles noch mal zu sprechen, diesen Text aus dem ersten Film, mit allen Fehlern. Das wollte er nicht, weil viele Künstler wollen immer nur ein Mal etwas machen und dann was ganz anderes, was ich aber falsch finde. Man kann auch ruhig ein paar Sachen zweimal machen, war meine Meinung. Warum sollte ich, fragte Ray. Wir sprachen dann über die Äpfel von Cézanne: Als Cézanne seine Äpfel malte, nahm er den Apfel und malte ihn, aber ich glaube nicht, dass er große Lust hatte, einem Betrachter zu erklären, warum er einen Apfel und nicht eine Birne genommen hat.

Super! Jürgen, hast du noch Grüße an unsere Trust-Leser*innen? Einen letzten Kommentar oder dergleichen?
Hmh, ich kenne die ja jetzt nicht alle persönlich. Da kann ich nur jetzt allgemein sagen, dass sie das Trust weiterhin lesen sollen. Trust habe ich ja durch dich kennengelernt und das kann ich allen Trust-Lesern empfehlen, das Heft weiterzulesen. Noch eine Ergänzung wegen der vorigen Werkschau-Frage von dir: es gibt 2024 wahrscheinlich eine, mir wurde der Vorschlag gemacht, das mal zu überlegen. Das ist also geplant, aber da kann ich jetzt im Augenblick noch nicht viel zu sagen. Die DVDs gibt es natürlich jetzt schon, aber so ein Schuber, wie du da meintest – also, ich sage immer Zuber (lacht) – ein Schuber ist jetzt nicht geplant. Das kann man mal machen, wenn gar nichts Neues mehr dazukommt. Denn der müsste ja sonst auch immer aktualisiert werden! Wenn ich jetzt 20 Filme drin hätte und dann den 21sten drehe, dann müsste der da ja auch wieder da rein. Also warte ich lieber noch ein bisschen damit.

Danke dir für das Gespräch! „Man sieht sich!“ (lacht)

Interview: Jan
Pics und Credits: Filmstill aus 10 PM LB: Der Regisseur und Raymond Pettibon: Jürgen Heiter, Plakat: Cony Theis, Porträt Jürgen Heiter: Cony Theis
Kontakt: juergenheiter.de

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