Dezember 31st, 2023

Joe Carducci II (#218/Februar/März 2023)

Posted in interview by Jan

Trust: Anfang der 80er war bei SST der Plan, eine Charles Manson-Platte zu machen. Es gab Korrespondenz und das Material war da, aber dann erhielt Chuck Dukowski einen Anruf von einer Person namens Icepick Man und Chuck sagte: „Das Projekt wurde dann sofort eingestampft, du willst echt nicht von einem Typen namens Icepick Man, der eventuell mit The Family verbandelt ist, Todesdrohungen erhalten“. Erinnerst du dich an diese Story?
Joe Carducci: Ja, ich erinnere mich, dass es mir nicht ganz geheuer war, ein Charles-Manson-Album zu machen, als es das erste Mal diskutiert wurde. Aber Henry kümmerte sich um die gesamte Kommunikation mit Charlie und schickte ihm die Bänder, auf denen er aufgenommen werden sollte und bearbeitete dann das Album gemeinsam. Als wir mit dem Produktionsprozess begannen, dachte ich, dass das Label groß genug war, um das zu schaffen. Ich war in der Lage, die Etiketten, das Cover, die Werbung usw. zu entwerfen, was normalerweise die Band bestimmen würde, also freute ich mich auf die Veröffentlichung. Deshalb war ich enttäuscht, als Greg von Global anrief und mir mitteilte, dass sie telefonische Drohungen erhalten hatten und die Veröffentlichung abgesagt wurde. Den Namen Icepick habe ich allerdings noch nie gehört.

Interview mit Joe Carducci (Teil II)

Es gab in den letzten Dekaden eine Explosion an Büchern über Punk-Labels: Creation, Mute, Factory, Dischord, Touch and Go, Sub Pop, IRS, Faulty, 4 AD, Peaceville und natürlich SST. SST wurde 1978 vom Black Flag Gitarristen Greg Ginn in L.A. gegründet ist seit Ende der 2000er in der Kleinstadt Taylor in Grossraum Austin in Texas ansässig. Es bleibt für mich das aufregendste Label, fast 400 Platten sind bislang erschienen und ich hab sie immer noch nicht alle gehört.

Sicher, es ist fraglich, ob man alle acht oder zehn Zoogz Rift-LPs wirklich braucht, ich würde sagen, man braucht keine, aber die Trefferquote an echten Klassikern ist unfassbar hoch: Black Flag natürlich, Hüsker Dü, Sonic Youth, Dinosaur JR, Minutemen, Meat Puppets, B´LAST. Joe Carducci arbeitete von 1981 bis 1986 bei SST und nun herzlichen willkommen zum zweiten Teil unseres Interviews.

Im ersten Teil in der letzten Trust ging es um Joe´s letzten beiden Bücher bzw. seine bekanntesten Werke, kommende Filme, seinen Wohnort in Wyoming, Los Angeles-Bücher und -Filme und seine Sicht auf die L.A.-Punkgeschichte. Hey, für mich ist der Typ und das Label eine Legende und ihr müsst das keineswegs nachvollziehen, aber vielleicht interessiert euch einfach nun ein paar eventuell unbekanntere Details aus der verzwickten Label-Story.

„It was a mix of blue collar and bohemia built on the surf culture“
Das war der Titel von Joe Carducci´s immer noch hervorragenden Gastbeitrags für unser 30-Jahre-SST-2008-Special in der Trust #133 (2008, trust-zine.de/sst-records-interview-2008/), eben als Charakterisierung der weltweiten Einzigartigkeit von SST Records und ich finde immer noch, dass das perfekt passt. Und im Prinzip ist dieses Interview mit Joe unser oder mein nachgereichter Glückwunsch zu 44 Jahren SST Records in 2022 (1978 erschien die Black Flag Nervous Breakdown-Single)! Well, fremdbestimmte Arbeit war nicht das Ding der SST-Leute, was aber im Umkehrschluss nicht bedeutete, dass „die nicht arbeiten wollen“.

Wie wir wissen: die hatten ne krasse Arbeitsmoral und wir alle kennen die Geschichten der täglichen mehrstündigen Black-Flag-Proben, das die Labelleute die ersten Jahre unter ihren Schreibstischen schliefen usw. Aber es waren ja eben Leute beim Label, die auch gesoffen haben, die 1978ff. schon älter waren, als Punk Ende der 70er losging, Greg war 1978 30, er ist riesen Grateful Dead-Fan und sah die Band um die 80 Mal live. Chuck Dukowski machte schon Mitte der 70er Musik (Würm!), Carducci war 1976 22 Jahre alt, alle oder viele waren dem Kiffen und LSD ja nicht abgeneigt. D.h. es waren nicht nur sich selbst ausbeutende Arbeitstiere, aber auch nicht „Boheme-Dandy“-Leute. Und es war alles eben nicht in „Manchester 1977“.

Sondern in den Surf-und-Skateboard-Hochburgen Hermosa Beach und Redondo Beach Ende der 70er. Joe´s Ein-Satz-SST-Mix-Aussage ist einfach sehr nahe dran an der Begründung, warum SST so hervorsticht und Jahre lang „das“ Tastemaker-Label der 80er war: Geografie, Altersstruktur, Glück, Kiffen, Strand, Surfen! 2019 schaute ich mir diese Städtchen im Süden von L.A. an, es sind nicht mehr diese verträumten laid-back-Hippie-Surf-Classic-Rock-Eagles-Vororte, die sie in den 70er waren, sondern heutzutage die teuersten Wohngegegenden der Welt. Nicht völlig unverständlich, denn ist es schlimm, wie schön es da ist, wenn du einmal in Manhattan Beach am Strand den Sonnenuntergang mit nem Sixpack Budweiser und Black-Flag-Musik genießt, du willst nicht sofort nach Deutschland zurück!

„I got nothin‘ to give you. Why don’t you just go away?“
Joe schrieb in seinem Essay damals: „Dieser Stil und die Politik von Bands aus dem Süden von Los Angeles wie Black Flag, Minutemen, Descendents, Saccharine Trust, Saint Vitus, Overkill, Red Cross, Secret Hate etc., das war völlig frei von Angst. Es war ein Mix aus Arbeiterklasse und Boheme auf dem Fundament der Surfkultur. Diesen Mix gab es nirgendwo anders auf der Welt, zumindest hatte ich keinen gesehen. Und weil diese Musiker und Bands sich gegenseitig kannten und miteinander Konzerte spielten und sich die Konzerte der anderen anschauten und zusammen wieder andere Konzerte besuchten, gab es sehr schnell Fortschritte in Sachen Musik schreiben, live spielen und die Bandaussagen zu entwickeln“.

Das ist die andere Kernaussage in dem Trust-Text von Joe, er stellt sich selber in dem Essay auch besser vor, als es eines der vielen aktuellen Interviews es bislang je machen konnten. Da der Artikel online ist, checkt den doch nochmal aus, darum geht es dort sonst noch: Umzug aus Hollywood 1976 nach Portland: Renaissance Plattenladen und Systematic Records Vertrieb, Berkeley Ende der 70er bis 1981: Optional Music und Thermidor Records, Black Flag live Berkeley und Chicago 1981, Zurück in L.A. 1981: SST Records und SST 1981 bis 1986 und Rückschau 2008: I`m not sure the kids are alright anymore.

„I was so heavy man, I lived on the strand!“
Die Philosophie von SST und Black Flag war aus allen obigen Gründen völlig anderes als die von zeitgenössischen Punk-Labels wie zum Beispiel Beggars Banquet und The Lurkers in England Ende der 70er. Echt nix gegen die, aber hör dir das sehr tolle Lurkers-Stück Ain´t got a glue an – und hör dir die eine Minute Fix me von Black Flag an, wie kann dannach die Welt noch die sein, die sie vorzugeben scheint! Die Dunkelheit, Angepisstheit, das stoische Weitermachen, die komplette „Don´t give a fuck“-Mentalität, was Punkmusik sein soll oder darf, die komplette Ignoranz von Punk-Regeln, Dresscodes, Styles… wer machte das schon in der Substanz und Konsequenz wie die SST-Leute bis 1987. Dann wurde es strange und ätzend.

Es kippte irgendwann, allerspätestens nach dem Negativland-Skandal Anfang der 90er die Brillianz erst in Beliebigkeit, dann in Langeweile und dann in Gerichtsurteile und Geldstreitigkeiten bis heute… SST hat Mitte der 90er unglaublich viel Geld verdient, die Meat Puppets waren zwar nicht mehr auf dem Label, sondern längst beim Major, aber ihre Popularität duch Nirvana´s Coverversionen und sowieso Nirvana´s ständiges Betonen von „Wir lieben SST“, das führte auch dazu, dass sich das Label für einige Jahre auf dem Sunset-Strip, einer der teuersten Ecken der Welt nur wenige Meter vom Whiskey-a-Go-Go weg einen eigenen Plattenladen, in dem es nur SST-Platten und Merch gab, leisten konnte. Heute ist dort übrigens ein Wahrsager-Bedarfs-Geschäft!

Vielleicht waren es zu viele Drogen, zu viel Erfolg, zu viel Geld, zu wenig Verträge, zu viel Handschlag-Deals, zu wenig Anwälte oder die falschen, zu wenig Label-Personal oder das falsche Personal, eins steht jedoch ganz klar fest als Schluss aus der gesamten SST-Geschichte: „Mach es auf keinen Fall so wie SST in der allerletzten Konsequenz!“.

„Who needs love to have any fun? I said now Louie, Louie! We gotta go!“
Wie in Teil I erwähnt, tauschten Joe und ich uns über die Jahre immer mal wieder über das Label aus, erwähnenswert ist noch, das andere Personen aus dem SST-Kosmos auch ansprechbar sind auf Facebook, zum Beispiel Greg Davis von Blood on the saddle oder auch Chuck Dukowski. Letzerem schickte ich mal das geniale „My War“-Cover von Rorschach, er schrieb den Song ja für Black Flag, Antwort: „Danke! Sounds like a lil bit of ol´ Death Metal“. Und da tauchte neulich die Erkenntnis wieder auf, dass die „Louie Louie“-Version von Black Flag immer noch so verdammt geil ist. Aber wer ist der Typ eigentlich nochmal auf dem Cover der Black Flag 7“, das war der damalige Sänger Dez oder? Ich fragte Joe, entschuldigte mich für die dämliche Frage und er antwortete: „Kein Problem. Ja, das ist Dez. Poshboy hat die Platte herausgebracht. Er wurde von Bands boykottiert und Frontier hat ihm seine Bands gestohlen, also denke ich, dass Black Flag ihm mit dieser Single und dem Future Looks Bright-Sampler-Tape einen Gefallen tun wollte“. Wir müssen los!

*

Joe, als du 1986 SST verlassen hast, warst du einer der vier Partner mit Greg, Chuck und Mugger und du hast deinen Anteil ausgezahlt bekommen. Ist davon eigentlich noch Geld übrig? (lacht)?
Es hat eine ganze Weile gedauert, da ich es mehrmals in Immobilien umgeschichtet habe. Ich kaufte 1986 ein Gebäude mit vier Einheiten in Chicago, verkaufte es 1995 mit Gewinn und kaufte mit diesem Geld ein weiteres Gebäude in Laramie, das ich 2005 wieder mit Gewinn verkaufte. Dann habe ich ein Haus gekauft, das keine Mieteinnahmen brachte, und jetzt ist das Geld für die Mieteinnahmen aufgebraucht, aber die Bücher verkaufen sich langsam besser und vielleicht wird das eine oder andere Drehbuch noch verfilmt.

Erinnerst du dich an deinen letzten Kontakt zu Greg? Ich lass in Jim Rulands Buch über einen späteren Songtitel von Gone, der sich über deinen Rock and the Pop Narcotic-Buchtitel lustig machte – hat dich das geärgert oder eher „Oh well“?
Der verstorbene Rick Van Santen war ein Freund, der für die Screamers arbeitete, später Booker für die Clubs Whisky-a-Go-Go und Roxy in L.A. war, er half, Goldenvoice Booking Productions mitaufzubauen (Goldenvoice ist benannt nach der goldenen Stimme durch Marijuhana-Kräuter, ich fragte den Inhaber Gary Tovar mal, nachdem mir Hudley Flipside die Herleitung des Namens erzählte, zu geil oder? 1L). Nachdem Black Flag vorbei war, kehrte Greg zum Basketball zurück, und Rick erzählte mir, dass er und Greg zu den Playoff-Spielen der Lakers in Boston gingen, als das noch die Rivalität war. Ich erfuhr von Rick, dass Greg, als die Bulls der Gegner der Lakers im Finale waren, nicht mehr mit ihm dahin ging, da ich in Chicago war und Rick mich anrufen wollte, wenn er in der Stadt war.

Er erzählte mir, dass Greg auf dem Flug zur ersten Playoff-Serie 1991 Rock and the Pop Narcotic las, dann aber nicht mit ihm zum Finale in Chicago mitwollte. Rick rief mich an, nachdem die Lakers das erste Spiel gewonnen hatten. Es war das erste Endspiel für die Bulls, deshalb waren sie nervös und verloren, aber ich sagte Rick, dass sie in der Lage seien, die nächsten vier Spiele in Folge zu gewinnen und er lachte. Er dachte, ich hätte Wahnvorstellungen, bis die Bulls die nächsten vier Spiele in Folge gewannen! Ich habe versucht, mit Greg und Chuck in Kontakt zu bleiben, nachdem ich SST verlassen hatte, aber ich merkte, dass Greg nichts mehr von mir hören wollte. (Der erwähnte Gone-Songtitel hieß übrigens „Punk and the Cash Carcotic“, 1L)

Greg hat ja noch etwas Humor, die Postadresse von SST in Texas lautet jetzt auch P.O. BOX 1, Taylor, TX. Du warst natürlich an der legendären P.O. BOX 1 in Lawndale, das Label ist mindestens 25 Mal in L.A. umgezogen, aber sie haben 30 Jahre ihre Post immer an dieser magischen Adresse abgeholt?! (lacht)
Greg war kein Romantiker und er hatte ein perverses Vergnügen daran, dies zu beweisen, indem er kaltblütig Dinge erledigte, die getan werden mussten, auch wenn sie vielleicht nicht getan werden mussten Es gab fünf Exemplare der Originalpressung und der Hülle von der SST-Veröffentlichung 001 in einem Aktenschrank und als wir ein komplettes Set von Black Flag-Veröffentlichungen verschicken wollten, hätte er sie einfach mit der Sendung „aufgebraucht“. Ich sagte ihm, er solle es nicht tun, das sei es nicht wert. Dieser Umschlag könnte jetzt über 15 000 Dollar einbringen, wegen der Musik, dem Label und der Kunst! Apropos Romantik: Ich glaube, Greg musste nach Texas ziehen, um eheliche und wirtschaftliche Probleme zu vermeiden, die dem kalifornischen Scheidungs- oder Unterhaltsrecht eigen sind. In Texas ist es Männern immer noch erlaubt, Männer zu sein!

Ich erinnere mich vage an eine Geschichte von Chuck Dukowski: Anfang der 80er war bei SST der Plan, eine Charles Manson-Platte zu machen. Es gab Korrespondenz und das Material war da, aber dann erhielt Chuck einen Anruf von einer Person namens Icepick Man und Chuck sagte: „Das Projekt wurde dann sofort eingestampft, du willst echt nicht von einem Typen namens Icepick Man, der eventuell mit The Family verbandelt ist, Todesdrohungen erhalten“. Erinnerst du dich an diese Story?
Ja, ich erinnere mich, dass es mir nicht ganz geheuer war, ein Charles-Manson-Album zu machen, als es das erste Mal diskutiert wurde. Aber Henry kümmerte sich um die gesamte Kommunikation mit Charlie und schickte ihm die Bänder, auf denen er aufgenommen werden sollte und bearbeitete dann das Album gemeinsam. Als wir mit dem Produktionsprozess begannen, dachte ich, dass das Label groß genug war, um das zu schaffen. Ich war in der Lage, die Etiketten, das Cover, die Werbung usw. zu entwerfen, was normalerweise die Band bestimmen würde, also freute ich mich auf die Veröffentlichung. Deshalb war ich enttäuscht, als Greg von Global anrief und mir mitteilte, dass sie telefonische Drohungen erhalten hatten und die Veröffentlichung abgesagt wurde. Den Namen Icepick habe ich allerdings noch nie gehört. (Global Booking war die SST-eigene Booking-Agentur, die teilweise an einem anderen Standort in L.A. war als das Label, was einer der vielen Gründe sein mag, warum SST irgendwann crazy wurde, 1L)

Sag mal, was ich schon immer mal wissen wollte: Frank Zappa kam aus L.A., SST war in L.A. und bei oberflächlicher Betrachtung verbinden Zappa und SST einige Dinge wie das Interesse für Jazz, eine gewisse Piss-Off-Not-PC-Attitüde, eine ausgeprägte Arbeiterklassen-Mentalität – Üben bis zum Umfallen. Es war damals aber nie ein Thema, etwas mit Frank auf SST zu machen, oder? Vielleicht wird sein Einfluss auf den Jazz auch sehr überschätzt, du hast mal erzählt, dass du den großen Musikkritiker der New York Times, Ben Ratliff (der Black Flag kenntnisreich mit der Count Basie Band verglich), mal gefragt hast, ob einer der zeitgenössischen Jazzer jemals Frank Zappa erwähnte – und Ben verneinte das. Wenn man sich anschaut, wie Zappa seine Musikerkollegen behandelt hat; vielleicht ist das eine Art Parallele zu SST: ein musikalisches Genie, das nicht auf Augenhöhe mit seinen Mitmenschen auskommen kann! (lacht)
Die Musiker der 60er und 70er Jahre lebten in ihrer eigenen Welt, was das Plattengeschäft betraf. Ich habe mir ein bisschen Zappa angehört, als er seine Prog-Fusion-Phase hatte und 1973 und 1974 im UKW-Radio zu hören war, das war seine One Size Fits All-Platte. Zoogz Rift war ein Zappa-Fan, aber er kam zu SST, kurz nachdem ich das Label verlassen hatte. Frank war politisch sehr prätentiös, in einer libertären Art, die man auch in seiner Musik erkennt. Wenn ich Pamela DeBarres Buch lese, weiß ich, dass er ein netter Kerl war, aber es war dann doch Captain Beefheart, der mehr Einfluss auf die SST-Bands und die Los Angeles-Szene hatte, also die, die wir kannten.

Die LAFMS, die Meat Puppets und die San Pedro-Szene waren alle von Captain Beefheart begeistert, der ebenfalls aus der Wüste östlich von LA stammte. Captain Beefheart schrieb und verhielt sich so, als ob er die Welt viel mysteriöser fände, als Zappa es annahm. (Die LAFMS ist die Los Angeles Free Music-Society, die Ende der 70er mit der Punk-Szene Schnittmengen hatte, Pamela DeBarres war eine legendäre Groupie-Figur in den 60er und 70er Jahren, die unglaublich viel Scheisse erlebt hatte, aber von Zappa immer fair behandelt wurde, 1L).

Ich liebe ja auch Dischord Records, aber es ist beinahe überdokumentiert mit all den Büchern und Filmen! Bei SST hingegen ist es lustig: jetzt, wo Jim Rulands Buch erschien ist, Abe Gibson seit Jahren sein SST-Buch in der Mache hat, dann mit deinen Werken über das Label, die Tourtagebücher von Rollins, die Autobiografie von Keith Morris – es gibt keinen Mangel an Büchern über das beste Plattenlabel Label aller Zeiten, aber was mich irritiert: je mehr ich über SST weiß, desto weniger verstehe ich. Ich hatte immer dieses Bild von SST, dass das Label wie dieser schwarze Monolith im Film 2001 ist: plötzlich ist er da in Perfektion und niemand versteht, wie es dazu kam. Greg scheint paranoid geworden zu sein, ich würde schon sagen: „Kein Wunder! Er hat eine Menge Bands verloren, die ihn erst liebten, aber plötzlich sahen sie das große Geld, Greg wurde viel verarscht, hatte vom ersten Tag an viele Rechtsstreitigkeiten, viele Leute waren auf Drogen, es gab nur Handshake-Deals“. Also, ich bin echt irgendwie auf der Team Greg-Seite, andererseits können nicht alle Bands unehrlich gewesen sein! Die exakte Wahrheit über SST und was passiert ist, wird nie geklärt werden, es sei denn, Greg würde eine Autobiographie schreiben, was nie passieren wird – oder hast du nach all den Jahrzehnten eine Erklärung dafür, warum SST sich vom weltweiten Tastemaker-Label der 80er zu dieser seltsamen heutigen Existenz entwickelte?
Ich glaube nicht, dass Greg der Meinung war, dass SST ein Full-Service-Label sein sollte, sondern eher für Bands da sein sollte, die keine andere Möglichkeit hatten. Mugger und ich haben es irgendwie zu einem unausgesprochenen Versuch umgewandelt, ein Full-Service-Label zu sein. Vielleicht konnten wir das nie wirklich leisten, aber ohne das Interesse von Major-Labels haben wir es geschafft, eine Menge Platten von einzelnen Bands zu veröffentlichen und sie jedes Mal weiter nach oben zu bringen. Ich habe mehr über Saccharine Trust und Saint Vitus nachgedacht, weil es schwieriger war, sie jedes Mal weiter nach vorne zu bringen und weil ich zwischen ihren Veröffentlichungen mehr Zeit zum Nachdenken hatte. SST funktionierte laut Mugger gut auf diesem Level, aber ich war dann nicht mehr dabei, also vermute ich, dass Greg beschloss, kein Geld mehr für Promo-Pushs auszugeben und als die Majors die größeren Bands nahmen, blieben ihm nur noch lokale Bands und künstlerische Veröffentlichungen mit weniger Chancen auf dem Markt. Es ist ja nicht so, dass es neue Black Flags und Minutemens gegeben hatte, die dann bei SST unter Vertrag genommen wurden, also konnte SST nicht wirklich auf diesem Niveau bleiben.

Zum Schluss meine zwei Lieblingsanekdoten zu diesem SST-Black-Flag-LA-Cluster, einfach für deine Amüsement. Es tut mir leid, dass wir die SST-DJ-USA-Tour vor Jahren vergeigt haben, du hast uns damals so wunderbar geholfen, ich machte dann meinen SST-Sightseeing-Trip 2019 in L.A. durch deine gesammelten SST-and-related-Adressen auf newvulgate.blogspot.com/2018/04/. Ich konnte alles perfekt finden damit, danke. Nur einen Ort habe ich vergeigt: Ich war so stolz, endlich vor dem mächtigen The Church-Gebäude in L.A. zu stehen: endlich bin ich da, wo Black Flag durchstartete, als ich 1978 geboren wurde! Foto gemacht. Über die Zeit und das Universum nachgedacht, während ich Bier getrunken habe. Mich ein bisschen gewundert, warum das Gebäude überhaupt null wie eine Kirche aussah, aber es war ja auch alles gute 40 Jährchen her. Zurück in Deutschland schaute ich nochmal nach: Fuck, die Adresse war richtig in Google Maps eingegeben, aber ich war in der 1215 Manhattan Ave. – in Manhattan Beach! Und nicht in der 1215 Manhattan Ave im verdammten Hermosa Beach, so stand es ja auch auf deinem Blog! Sorry, wir haben in Deutschland nur eine Straße und keine Strände! (lacht)
Ich mochte es, als wir im April 1982 oder so von West Hollywood nach Redondo Beach zogen. In jenen Jahren bin ich oft westlich von Redondo-SST (Phelan Ave) durch Hermosa Beach zum Pier gelaufen, ich habe wegen meiner ursprünglichen Herkunft aus dem Mittleren Westen eine Faszination für den Pazifischen Ozean. Man merkte, dass sich der Wohnraum in den Strandstädten veränderte und sehr teuer wurde. Und die Schulen wurden geschlossen, so dass die Kleinstadtatmosphäre zu Ende ging. Die meisten jungen Paare und reichen Leute in der Stadt pendelten zur Arbeit oder gingen in Rente. Jetzt ist es noch schlimmer.

Ich habe in dem Restaurant gegessen, das jetzt an der Stelle der Kirche ist. Der Laden hat ein Punk-Wandgemälde und ein paar Poster, aber es ist jetzt ein ziemlich schickes und teures Lokal. Es ist ein neues Gebäude und hat jetzt vielleicht eine andere Adresse; ich glaube, es gibt sogar zwei Gebäude dort. Das Java Man Coffee nebenan ist allerdings dasselbe soweit ich weiß. Und Greg hatte das gemietet, als es noch ein Haus war; Medea hat mit ihm dort gewohnt. Mugger erinnerte sich, dass Greg dort früher SST-Tuner gelötet hat. (SST war erst ein Amateurradio-Unternehmen, 1L)

Sehr cool. Ich habe 2004 mein Praktikum bei Revelation Records in Huntington Beach im Süden von Los Angeles gemacht. Ende 2003 rief ich von Deutschland aus bei SST an (Telefonnummer von der Webseite genommen) und fragte, ob ich dann 2004 in ihrem Büro in Long Beach vorbeikommen könnte, um Platten zu kaufen, dieses Telefonat war sensationell: – „Hallo, hier spricht SST Records, wie kann ich Ihnen helfen?“ – „Hallo, hier ist Jan aus Deutschland. Ich werde von Februar bis April 2004 für zwei Monate in Los Angeles sein, könnte ich bei SST vorbeikommen, um Platten zu kaufen, ich liebe euer Label und als stupider Fan würde ich gerne „Hi“ zu Greg sagen, wenn das möglich wäre?“ – „Klar, komm vorbei, wenn du in Südkalifornien bist, kein Problem, ich werde im Frühjahr nächsten Jahres in LA sein“. – „Sehr gut. Hey, entschuldige, aber mit wem spreche ich gerade?“ – „Greg hier“. – „Wer?“ – „Greg Ginn“. – „Ach du Scheiße, wow! Du gehst immer noch selbst ans Telefon?“ – „Ja“. – „Ausgezeichnet! Ich war so nervös, bei euch in L.A. anzurufen, also habe ich eben eine Black Flag Platte aufgelegt, um mich während diesem Gespräch zu motivieren“ – (lacht) „Toll, welche hast du gerade am laufen?“ – „Slip it in“. – „Gute Wahl!“ – (lacht) „Ja, wir sehen uns dann in L.A., tschüss“. – „Ok, tschüss“. Dann rief ich vom Huntington Beach Hostel ein paar Tage vorher an, „Komm rum“, ich besuchte also SST Records in Long Beach, kaufte Platten und plauderte eine gute halbe Stunde lang mit Greg. Es hat mich erstaunt, wie nett er war. Das war an meinem Geburtstag, ich war schwer verkatert und versuchte, Greg zu erklären, wie schwierig es für uns neue Touristen in L.A. ist, zu verstehen, dass es so viele eigene Bezirke, Countys und eigenständige Mikro-Städte gibt, Long Beach ist ja kein Stadtteil von L.A., sondern nur im L.A. County usw. Er meinte „Ja, das muss verwirrend sein! Das ist es aber manchmal auch für Amerikaner“. Ich bekam auch eine Führung durch das Lagerhaus, sah all die Katzen und ein Praktikant bot mir an, mit ihm draußen einen zu kiffen! Es war einfach eine totale surreale Erfahrung. Und für ein Label, „das man nicht erreichen kann“, da war es eigentlich ne ziemlich einfache Sache! (lacht)
Ich wusste nicht, dass du bei Revelation gearbeitet hast, die verkaufen meine Bücher gut! Greg ist immer noch ein netter Kerl für jemanden, der so hochintelligent ist. Es war eine große Familie mit fünf Kindern, also hatten sie alle zusammen von ihren Eltern viel Unterstützung erhalten, soweit ich das beurteilen kann. Es ist nur so, dass man, wenn man mit jemandem arbeitet, der so intelligent ist, besser etwas zu bieten hat, was der andere braucht – und wenn sich dessen Bedürfnisse ändern, dann ist es am besten, wenn man verschwindet.

Greg muss das Gefühl haben, dass nur er die Geschichte von Black Flag und SST kennt und dass die ganzen Autoren alle falsch liegen, wenn sie irgendjemand anderen dazu befragen, sogar Henry Rollins oder mich. Aber es ist schwer, ein Buch zu schreiben, das so vielen großartigen Menschen gerecht wird, wie es sie bei SST gegeben hat. Und wie großartig L.A. in dieser Zeit war! Großartig und schrecklich!

Hast du schon Pläne für ein neues Buch oder für Lesungen?
Ich schreibe immer noch Drehbücher, also wird es eine weitere Sammlung von Drehbüchern geben, dann vielleicht einen weiteren Band von Life Against Dementia, in dem Essays aus dem Blog The New Vulgate und anderswo zusammengestellt sind. Ich hoffe, dass ich ein Buchgespräch mit Clinton Heylin bei Third Man Records in London führen kann, aber wir haben noch keinen Termin festgelegt, vielleicht zum Jahresende. Vielleicht werden auch ein paar Drehbücher produziert, aber im Filmgeschäft weiß man ja nie. Das Plattengeschäft war im Vergleich dazu ziemlich einfach.

Joe, ganz lieben Dank für deine Zeit nochmal.
Danke, Jan. Die Familie meiner Mutter kam Anfang des 19. Jahrhunderts aus Aschaffenburg, sie waren also in Bayern, bis meine Mutter dann meinen Vater in Chicago kennenlernte. Prost aus der neuen Welt!

*

Als Nachschlag kommt noch was diskographisches:

TRUST SST. (Na ja…*Smiley)
Interview-Übersicht von (ex-) SST-Bands im Trust seit der #1 von 1986. Die Gespräche sind online auf trust-zine.de (ausser #45 Blood on the saddle, kütt noch!).

#05, 1987: Black Flag Nachruf
#07, 1987: B´LAST, Bad Brains
#09, 1987: Henry Rollins
#12, 1988: SST Records/Chuck Dukowski,
Leaving Trains
#13, 1988: Firehose
#21, 1990: All
#29, 1991: Sylvia Juncosa
#30, 1991: Universal Congress Of
#34, 1992: Raymond Pettibon
#35, 1992: Sister Double Happiness
#37, 1992: Bob Mould
#45, 1994: Blood On The Saddle
#54, 1995: OXBOW
#58, 1996: SONIC YOUTH
#63, 1997: DESCENDENTS
#71, 1998: MIKE WATT
#72, 1998: BOB MOULD
#85, 2000: J MASICS
#88, 2001: SACCHARINE TRUST
#94, 2002: SONIC YOUTH
#98, 2003: J MASCIS
#99, 2003: MIKE WATT
#102, 2003: GREG GINN
#124, 2007: WINO & THE HIDDEN HAND
#125, 2007: KIRA ROESSLER
#127, 2007: GREG NORTON
#133, 2008: 30 JAHRE SST RECORDS SPECIAL mit Joe Carducci, Mike Watt, Mike Neider/B´LAST, Ray Farell, Michael Whittaker und SST-Discography
#139, 2009 : THE LAST
#146, 2011: ST. VITUS
#153, 2012: DESCENDENTS, OFF!
#155, 2012: MEAT PUPPETS
#156, 2012: GRANT HART
#158, 2013: BLASTING CONCEPT (Abe Gibson´s SST-Buch)
#164, 2014: BL`AST
#167, 2014: BOB MOULD
#177, 2016: BLIND IDIOT GOD
#206, 2021: Raymond Pettibon
#212, 2022: Kira Roessler
#215, 2022: Jim Ruland (SST-Buch)
#217, 2022: Joe Carducci I
#218, 2022: Joe Carducci II

Interview, Trust SST-Diskografie am Ende: 1L
Fotos: Joe Carducci
Kontakt: newvulgate.blogspot.com

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