Dezember 31st, 2023

Jim Ruland (#215/August/September 2022)

Posted in interview by Jan

Keith Morris, Bad Religion, SST, Evan Dando, Razorcake: Jim Ruland!

Jim Ruland kommt aus der Beachtown-Szene im Süden von Los Angeles. In den 90ern schrieb er für das Flipside und ich glaube, manche von euch könnten seinen Namen noch daher kennen. Als das Flipside 1999 aufhörte, gründerte der damalige General Manager Todd Taylor ein neues Heft, das Razorcake Fanzine. Diverse frühere Flipside-Leute wie Jimmy Alvarado und Jim begannen dann beim Razorcake und sind auch heute noch da.
Jim wohnt nach seinen Jahren bei der amerikanischen Marine (that´s right Leute) in San Diego und machte in den letzten Jahren von sich reden durch seine 2022 beendete L.A. Triologie: zuerst war das Buch über das Leben von Keith Morris – „My Damage: The Story of a Punk Rock Survivor“ (2016), dann 2020 „Do What You Want: The Story of Bad Religion“ (auch auf Deutsch mit wie oft teils sehr „improvisierten“ Übersetzungen im Hannibal Verlag erschienen) und 2022 kam das Werk, auf das wir alle seit vielen Jahren warten, einer musste es machen und Jim machte es: „Corporate Rock Sucks: The Rise and Fall of SST Records“. Ich konnte das Buch schon lesen, es ist Pflichtlektüre! Wahrscheinlich muss man das kurz begründen…

„Friends don´t let Friends listen to Corporate Rock“
So heiß ein alter Stoßstangenaufkleber von SST in den 80ern, es war eine Anspielung auf eine Werbung damals von wegen „Friends don´t let friends drive drunk“. Jim beschreibt die komplexe Geschichte von SST 1978 bis heute auf 400 Seiten. Was mich am meisten freute und mich am meisten interessiert war: die Story des Labels von Ende 70er und den kompletten 80ern ist irgendwie „bekannt“ (nichtsdestotrotz sehr gut erzählt, es ist immer erstaunlich, das Merch von SST in seiner Amateurradio-Zeit zu sehen). Aber was war mit SST in den 90ern los? Und was geschah eigentlich genau in den 2000ern und was ist heute? Und da sagen ja viele:

„Ja wie, in den 90ern und 2000ern war SST doch schon tot, da passierte doch nix!“
Völlig richtig, außer dass das Label von L.A. nach Texas zog, Ginn diverse Solo-Platten raus brachte, es eine neue LP von Black Flag gab (tatsächlich ist die nicht schlechter als „Loose Nut“), es gab FLAG, Copyrights-Klagen, Scheidungen Ron Reyes wurde gefeuert, beklagte Gregs nachlässige Erziehung seiner Kinder gegenüber im Texas-Headquarter und das er jeden Tag 1-2 Pullen Wein tränke, tja, und wir konnten dann auch noch Mike Valley als sechsten Black Flag-Sänger nach Keith, Ron, Dez, Chuck (ein Stück wo er ja, den Keith-Diss „You bet we got something personal against you“) und Henry begrüßen. Ich finde, Mike macht das gut, viele beschwerten sich nach jüngsten Blak Flag-Gigs, dass das alles schlecht wäre. Man darf dabei nicht vergessen, dass Black Flag schon sehr früh um 1982/1993 herum nicht den Erwartungen ihres Publikums entsprachen! Jedenfalls: Jim schreibt sehr trocken und ohne viel popkulturelle Ironie, das passt perfekt zur wirren Outputhistorie von SST. Immerhin das wichtigste und beste Punk-Label der 80er, das sagen auch alle seine Gesprächspartner (die natürlich auch mit Kritik nicht geizen).

„Rumors of My Demise“
Jims neues Buch über bzw. mit Evan Dando namens „Rumors of My Demise“ ist schon in Arbeit und porträtiert sich online als noch „Writer. Sailor. Punk. Rat“ und mit den Worten, dass er „ein begeisterter Anhänger von Punkrockmusik, Tattoo-Kultur und starkem Kaffee“ ist. Versteht also dieses knackige Interview als eindrücklichen Kaufbefehl für seine Bücher und abonniert Jims sehr schönen ausführlichen wöchentlichen Newsletter. Das SST-Buch ist auf Englisch bei Hachette Books herausgekommen und erschien im April 2022.

Hallo Jim in San Diego, danke für deine Zeit! Du bist ein Veteran der US Navy, das scheint in der Punkszene keine Seltenheit zu sein, oder? John Joseph von Cro-Mags war bei der Marine und Brendan von SFA war auch Soldat. Ich weiß aus deiner Kolumne, dass dir die Zeit bei der Marine wichtig war.
Ich weiß nicht, wie verbreitet das war (oder ist), aber für mich war es definitiv wichtig. Ich glaube, wenn man jung ist, weiß man nicht, wofür man steht, bis man herausfindet, wogegen man ist. Diese Opposition ist für die Entwicklung eines jeden jungen Menschen wichtig, aber vielleicht ist sie für Punks etwas natürlicher. In der katholischen Schule und bei der US-Marine habe ich viel davon mitbekommen. In der Navy habe ich nicht viele Punks kennen gelernt, aber ich habe einige getroffen und war allen Arten von Musik ausgesetzt, die für mich neu waren, von Bauhaus bis Metallica, von T.S.O.L. bis Jane’s Addiction.

Zwischen 1995 und 1999 hast du für das legendäre Flipside geschrieben und bist dann mit Todd, Jimmy und anderen ehemaligen Flipsidern zum mächtigen Razorcake gewechselt, du bist also seit RC #1 an Bord als Kolumnist? Wie erinnerst du dich an die Flipside-Tage, weißt du, was Al Flipside so treibt?
Ich bin stolz sagen zu können, dass ich seit Tag eins beim Razorcake mitschreibe. Todd Taylor und Sean Carswell hatten eine gut durchdachte Vision für das, was sie tun wollten, und den Antrieb und die Entschlossenheit, es zu tun. Daher war ich froh, dass ich mitmachen konnte. Ich nahm es auch als Gelegenheit, mich intensiver mit dem Schreiben zu beschäftigen. Vor kurzem habe ich eine Ausgabe vom Flipside durchgeblättert und war schockiert, wie viel Arbeit doch da drinsteckte. So viele Interviews! Eine Unmenge von Rezensionen! Und seitenweise Briefe. Es ist wirklich unglaublich, was Al Flipside erreicht hat. Al war mir damals ein Rätsel und ich habe keine Ahnung, was er jetzt macht. Ich hoffe, es geht ihm gut.

Sprechen wir über deine L.A.Trilogie: du hast zuerst das Leben von Keith Morris erzählt und den Prozess auch in deiner Kolumne beschrieben, also, dass er dich immer zum Mittagessen eingeladen hat und ihr plaudert. Erstaunlich war für mich, dass Keith 40 Jahre später noch so viele Details weiß, vor allem, weil er damals ja „unter Einfluss“ stand. Hatte er ein so gutes Gedächtnis oder konntest du ihn durch deine Fragen zu detaillierten Erinnerungen inspirieren? Ich freue mich seit zwei Jahren auf die Circle Jerks in Köln, hast du sie schon live gesehen?
Danke für die netten Worte! Ja, ich habe die Circle Jerks kürzlich in San Diego und Anaheim gesehen und sie waren großartig. Keith ist ein unglaublicher Künstler, aber er ist auch ein toller Mensch. Er hat nicht einen „unaufrichtigen Knochen“ in seinem Körper. Was sein Gedächtnis angeht, so erinnert er sich an Menschen und Orte, aber er kann sich nicht so gut an Daten erinnern, was er mir am ersten Tag unserer Zusammenarbeit erzählte. „My Damage“ ist die Geschichte von Keith in seiner eigenen Stimme. Ich habe alle unsere Gespräche aufgezeichnet, denn es war wichtig, dass diese Stimme „richtig“ klingt. Niemand sonst klingt so wie Keith, und wenn sie nicht genau stimmig und authentisch wäre, würden das die Fans sofort merken.

Dein zweites Buch war die Geschichte von Bad Religion. Wie wurde dieses Buch geschrieben, bist du zum Beispiel an die Ostküste zu Greg Graffin gereist?
Ja, alle Interviews für das Bad Religion-Buch wurden persönlich und von Angesicht zu Angesicht geführt. Die Interviews wurden in Häusern, Lebensmittelläden, Restaurants, Aufnahmestudios, „Green Rooms“, Tourbussen und bei Spaziergängen durch die Straßen Italiens geführt. Immer dann, wenn die Band einen freien Moment hatte.

Und seit Mitte April ist dein ST-Buch raus, ein Meilenstein! Du hattest Greg wegen Interview angefragt, er antwortete „Ich habe mich vor langer Zeit von Interviews zurückgezogen“, wow, immerhin ne Antwort! War eigentlich ein Flug zur PO BOX 1 nach Taylor geplant?
Nein, ich wollte nicht mit dem Fallschirm auf dem SST-Gelände in Taylor, Texas, abspringen. „Corporate Rock Sucks“ war ein Pandemie-Projekt, so dass der meiste Kontakt über E-Mail, soziale Medien und Zoom-Anrufe lief.

War es schwierig, deine Interview-Kandidaten zu finden, du hast ja mit ziemlich berühmten Menschen wie Mark Lanegan (RIP) und Raymond Pettibon gesprochen, war alle direkt bereit, zu reden? Gibt es ein Interview, das für dich immer noch, jetzt nachdem das Buch raus ist, außergewöhnlich bleibt?
Ich war wirklich beeindruckt von der Großzügigkeit der Leute, mit denen ich gesprochen habe. Jede Person, mit der ich gesprochen habe, hat mich mit ein oder zwei weiteren in Kontakt gebracht. Ich denke, die Beiträge der ehemaligen SST-Mitarbeiter Joe Carducci und Ray Farrell waren außergewöhnlich, weil ich sie immer wieder mit Folgefragen ansprach und sie sich Zeit für alle meine Bitten um weitere Informationen nahmen. Ich bin allen, die mitgemacht haben, sehr dankbar, vor allem aber diesen beiden.

Hast du eine Lieblingsgeschichte von einem Auftritt einer SST-Band in L.A.? Und wie zum Teufel sprechen Amerikaner eigentlich Gregs Nachnamen aus, ist es „Gin“ (kurz, so wie das alkoholische Getränk) oder ist es „Ginnnnn“ (wie „wir Deutsche“ es wahrscheinlich immer falsch aussprechen)? Vielen Dank! (lacht)
Ginn wird mit einem harten „G“ ausgesprochen, wie Gone. Als ich in den 90er Jahren für Flipside schrieb, war SST Records bereits auf dem absteigenden Ast und ich interessierte mich mehr für kleine lokale Labels, die mehr oder weniger im Untergrund operierten. Darauf habe ich mich damals konzentriert, deshalb weiß ich nicht, ob ich jemals eine SST-Band in L.A. gesehen habe. Ich habe Dinosaur Jr. vor nicht allzu langer Zeit in der Originalbesetzung live erlebt und das war ziemlich toll.

Mir hat dein Interview im „Big Take Over“ gefallen, wo du deine Lieblings-Punk-Bücher erwähntest. Was ist dein Lieblingsbuch über L.A.?
Ich liebte Nathanael Wests „Der Tag der Heuschrecke“ schon lange, bevor ich dann nach L.A. zog. Als ich dann erst mal die Gegend kannte, machte es mir irgendwie Angst. Zurzeit lese ich die Reckless-Reihe von Ed Brubaker und Sean Philips, die im L.A. der 80er Jahre spielt, diese Reihe ist hervorragend.

Wenn du für unsere Leser deine L.A.-Trilogie mit Keith, Bad Religion und SST wie einen Soundtrack aufschlüsseln würdest: welche drei Songs jeweils von Keith, Bad Religion und SST sind deine Favoriten?
Lieblingslieder von Keith Morris: „Nervous Breakdown“ (Black Flag), „Paid Vacation“ (Circle Jerks) und „I Got News for You“. Lieblingslieder von Bad Religion: „Fuck Armageddon… This Is Hell“, „Do What You Want“, „Beyond Electric Dreams“. Und Lieblings-SST-Songs: „The Psychopath“ (Saint Vitus), „Stereo Sanctity“ (Sonic Youth) und „Sick and Crazy“ (The Stains).

War es während der COVID19-Jahre „gut“, weniger Ablenkungen zu haben oder war es nicht gut, weil du eben nicht zu SST und Spot in Texas, Sonic Youth in New York oder zu Carducci in Wyoming fliegen konntest?
Nein, die Pandemie war schrecklich. Sie hatte nichts Gutes an sich. Ich machte mir Sorgen um meine Eltern, die Ausbildung meiner Tochter, die Arbeit und das Wohlbefinden meiner Frau. Ich war ein einziges Stressbündel. Ich glaube, die Pandemie hat uns alle auf eine Art und Weise geschädigt, die wir erst jetzt zu verstehen beginnen. Ich habe kürzlich eine Kurzgeschichte geschrieben, die in der Welt der Musik spielt und sie ist schrecklich. Ich bin hier nicht übermäßig bescheiden. Es ist eine schreckliche Geschichte. Die ganze Geschichte handelt von Menschen, die am Telefon sprechen, was ich in den letzten Jahren immer wieder erlebt habe. Ich glaube, es wird etwas dauern, bis wir uns an das Leben in der Welt wieder gewöhnen, nachdem wir zwei Jahre lang in Isolation verbracht haben.

Eine „Navy“-Frage am Ende: mein Lieblingsfilm ist “Meuterei auf der Bounty“ mit Brando; diese Szene im Film – „Kielholen“ – das ist doch keine heute übliche Strafe mehr oder? (lacht)
Nein, das machen sie nicht mehr. Die Strafen sind heutzutage eher psychologisch, und ich bin mir nicht sicher, ob das besser oder schlechter ist, um ehrlich zu sein.

Du hast dich schon mit Evan Dando getroffen, um seine Memoiren zu schreiben, wow, ich liebe die Lemonheads! Habt ihr schon ein Veröffentlichungsdatum? Und gibt es schon Pläne für ein fünftes Buch?
Danke! Wir kommen gut voran, aber ich kann noch keinen Veröffentlichungstermin nennen. Ich habe aber ein anderes Projekt in der Pipeline – einen Roman namens „Make It Stop“. Es ist eine dysfunktionale Selbstjustizgeschichte in der nahen Zukunft, die in L.A. spielt und an der ich schon seit Jahren arbeite. Vielleicht wird es nach dem Erscheinen mein nächstes Lieblingsbuch über L.A. sein.

Super, viel Glück für deine zukünftigen Projekte, long live Razorcake!

Interview: 1L
Kontakt: jimruland.net
Pics: Jim Ruland Portrait: Clair McAllister, Black Flag Mabuhay 1979: Spot, Meat Puppets Cris, Curt, Derrick 1981: Edward Colver

Both comments and pings are currently closed. RSS 2.0